24 Feb Keine Zeit für Verlierer
Forbes Magazine, 2020: Gastkommentar Mateusz Witjes, Ankorstore
Keine Zeit für Verlierer
Was ist schlimmer als verlieren? Siegen. Diesen Witz kennt im Südosten Nordrhein-Westfalens jedes Kind. Und selbst, wenn die Stadt am Rand des Sauerlands nicht so schlecht ist wie ihr Ruf – es lässt sich kaum behaupten, dass man in ihrem Zentrum viel erleben könnte. Ähnliches gilt für Solingen, Pforzheim, Marl, Gießen oder Bremerhaven, allesamt mittelgroße Städte in Deutschland mit gleichsam ausgestorbener City.
Und die Liste wird länger: Überall veröden Städte, weil ihr Einzelhandel vor die Hunde geht. Allein von 2014 bis 2019 hat sich die Zahl der Standorte in Deutschland um 29.000 verringert. Das ist eine fatale Entwicklung, denn der Einzelhandel prägt das Gesicht unserer Innenstädte wie nichts sonst. Neben der grassierenden Billiggastronomie und dem eintönigen Bild der immer gleichen Filialisten von Bershka bis Zara kannibalisiert vor allem das Online-Geschäft unsere Einkaufsstraßen.
Kampagnen mit Namen wie „Heimat Shoppen“ oder „Ich kauf lokal“ wollen die Misere bekämpfen, indem sie die Bürger in die Verantwortung nehmen. Doch solche moralisierenden Appelle werden nicht funktionieren. Konsumenten, Einzelhändler, Grossisten und Hersteller haben ihre je eigenen Interessen, und nur wenn sie alle auf ihre Kosten kommen, entstehen tragfähige Strukturen. Natürlich bestimmt die Nachfrage das Angebot. Doch für den Einzelhandel ist das Gegenteil ebenso richtig: Um wieder attraktiv zu werden, müssen die Läden ihre Sortimente optimieren, Verfügbarkeiten erhöhen, Rückgaben ermöglichen und mit einer flexiblen Produktauswahl ständig aufs Neue überraschen.
Diese Beweglichkeit ist wichtig, weil sich die Trends immer rasanter erneuern. Zudem können lokale Geschäfte den Ketten die Stirn bieten, wenn sie sich die Tendenz zu Marktnischen, Regionalbezug und Nachhaltigkeit zu eigen machen.
Wer nun glaubt, dies alles wäre der Digitalisierung mühsam abzutrotzen, liegt falsch. Das Gegenteil ist der Fall. Der stationäre Handel muss vielmehr erkennen, dass seine Zukunft im Schulterschluss mit dem Online-Handel liegt. Das bedeutet einerseits, dass er auf hybride Shoppingmodelle setzen sollte, damit seine Kunden mal online, mal offline einkaufen können. Gerade Jüngere schätzen das, etwa in Gestalt von Click and Collect-Verfahren, bei denen man die Ware im Internet bestellt und im Laden abholt. Ohne Versandkosten, aber dafür mit der Möglichkeit haptischer Erlebnisse und abrundender Zusatzkäufe – zur Freude der Händler erwerben laut einer Studie 40 Prozent vor Ort noch weitere Artikel. Vor allem aber zahlt sich die Liaison aus E-Commerce und Retailern in Form digitaler B2B-Marktplätze aus, die im Begriff sind, den Geschäften die Bürde des Modernisierungsverlierers abzunehmen. Der traditionelle Einzelhandel ist dank ihnen imstande, intelligenter, schneller und kreativer zu handeln, als dies vor kurzem noch denkbar war. Sogar kleine Boutiquen, Concept Stores oder Delikatessenläden sind damit in der Lage, häufig neue Produkte zu testen und ihre Zielgruppen zu erweitern.
Wie aber kann sichergestellt werden, dass bei Playern dieser Größe dann nicht der Cashflow leidet? Die Antwort: durch Konditionen, die so dynamisch sind wie das Sortiment, etwa ein niedriger Mindestbestellwert gepaart mit einem größeren Zahlungsaufschub als üblich. Einzelhändler gehen auf diese Weise nicht nur ein äußerst geringes Risiko ein, sondern können mit der Ware auch noch Geld verdienen, bevor sie bezahlt ist.
Für eine Spielwiese des Handels sind solche Plattformen allerdings eine schlechte Nachricht: Klassische Messen dürften als Instrumente des Wareneinkaufs bald von Onlinemessen abgelöst werden, was dem Handel viel Zeit und Kosten spart. So ist es zwar möglich, dass mancher dem Messerummel von einst hinterhertrauern wird. Wer sich allerdings aussuchen dürfte, entweder gut besuchte Messeareale zu haben oder attraktive Innenstädte voller Leben – er müsste wohl nicht lange nachdenken …
Mateusz Witjes
… absolvierte einen Master in Industrial Engineering and Management an der Fachhochschule Kiel. Von 2018 bis 2020 war er beim französischen Unternehmen Mano Mano im Business Development tätig. Seit 2020 ist Witjes Deutschland-Chef des 2019 in Frankreich gegründeten Start-ups Ankorstore.