11 Feb. Ein Schluck vom Himmelreich
DIE ZEIT, Nr. 10/2025
EIN SCHLUCK VOM HIMMELREICH
Im Schweizer Wallis, auf mehr als tausend Metern, wächst ein spektakulärer Wein, der Heida. Wer hinaufsteigen möchte, um ihn zu kosten, sollte es nicht übertreiben. Den Beinamen »Beinbrecher« trägt er nicht umsonst
Kann man mehr Lust aufs Trinken machen als Friedrich Gottlieb Stebler? Die Rebsorte Heida aus dem Oberwallis löse die Zunge und versetze den Menschen in größte Euphorie, erklärte der Agronom 1901 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. »Es wird von diesem Wein erzählt, dass man beim Genusse einer hinreichenden Menge unendlich geschickt reden könne, man fühle sich ungemein glücklich und reich und besitze die Kraft eines Riesen«, so fasste er die Lobreden zusammen und empfahl: »Man gehe hin und prüfe ihn selbst!«
124 Jahre später, im Januar, bin ich auf dem Weg ins Wallis. Bis heute ist der Heida kein Allerweltswein, von dem man auf der Kegeltour ein paar Flaschen kauft. Da, wo er am besten gedeiht, dahin muss man schon wollen: auf einen der höchsten Weinberge Europas.
Wenn man als Deutscher »Weinberg« hört, denkt man an einen Hügel. Oder auch nur an einen flachen Hang, der an ein Flussbett grenzt. Im Oberwallis sind die Maßstäbe anders. Auf meiner Fahrt ins Bergdorf Visperterminen schiebt sich die Eiger-Nordwand in ihrer ganzen schauerlichen Schönheit aus den Wolken. Kurz darauf spuckt mich der Lötschbergtunnel aus, und ich besteige in Visp einen Bus mit Schneeketten. Wie in einem Panzer rumpeln wir durch ein Flockengestöber, das an eine aufgeschüttelte Schneekugel erinnert. Hier soll Wein wachsen? Dann sehe ich sie und erschrecke fast: Schmale Parzellen schichten sich himmelwärts zu einem gigantischen Weinberg. Die Trockenmauern liegen so steil übereinander, dass man sie für Klinker in einer Wand halten könnte.
Wie ich gelesen habe, stammt jede dritte Flasche Schweizer Wein aus dem Wallis. Der Kanton mit den 41 Viertausendern repräsentiert damit die größte Anbaufläche des Landes. Rund um Visperterminen wachsen zu zwei Dritteln Weißweine, mehr als die Hälfte davon Heida. Die Sorte mit dem drolligen Namen klettert auf Südhängen bis in eine Höhe von 1150 Metern und gilt als Walliser Urtraube, eine Art Matterhorn fürs Glas.
Im alten Oberwalliser Dialekt bedeutet heida »alt, urtümlich, aus heidnischer Zeit«. Und das ist es, was ich fühle, als ich im Abendblau durch den Dorfkern spaziere. Gassen führen durch ein Labyrinth von jahrhundertealten Häusern aus Lärchenholz, das die 300 Sonnentage pro Jahr schwarz gebrannt haben. Manche stehen auf Pfeilern, um die Hanglage auszugleichen. Mit ihren krummen Balken und unebenen Steinplattendächern ragen sie in unsere geometrische Gegenwart hinein wie Relikte aus einer anderen Welt. Rebzeilen sehe ich hier jedoch keine mehr; sie hören 230 Höhenmeter tiefer auf, wo die Lichter von 13 verstreuten Weilern glimmen. Sie alle gehören zur Gemeinde, die sich den Beinamen »Heidadorf« verpasst hat.
Noch klingt das für mich wie eine Werbefloskel, die nicht einmal funktioniert: Von Wintertourismus keine Spur. Schon am frühen Abend stellt sich das Dorf tot. Es herrscht Grabesstille, ich werde das Gefühl nicht los, die Einheimischen beobachteten mich hinter ihren Fenstern. Nur im grell erleuchteten Friseursalon Annelise sitzt noch eine einsame Kundin unter einer Trockenhaube. Die Szene wirkt wie eine Kunstinstallation. Ein Stück weiter lese ich in einem Aushang die Standorte der Defibrillatoren und ein Wohnungsgesuch: »Eine alleinstehende Frau wird darin wohnen, ohne Mann, ohne Kinder, ohne Haustiere«, steht darauf. Seufzend gehe ich ins Hotel. Es ist das einzige. Dort sitzen ein paar Männer im ockergelben Lichtdunst der Wirtsstube und spielen Troggu, ein uraltes Oberwalliser Spiel mit Tarotkarten wie beim Wahrsagen. Ich esse Käsefondue, lausche ihrem Dialekt und frage mich, ob er ihnen wohl diese kräftigen Kinne beschert hat. Eine Weinkarte gibt es nicht. Alle trinken Bier.
Am Morgen gibt mir der Wirt die Telefonnummer von Julian Vomsattel. Der Pensionär wird hinzugezogen, wenn Ortsfremde etwas wissen wollen. Nach und nach betreten wir Visperterminens Lost Places. Den Werkzeugverhau der einstigen Dorfschmiede, das alte Backhaus, eine puppenstubenenge Wohnung von 1701. Bis Mitte der Achtziger lebte hier ein greises Geschwisterpaar im Entsagungsstil vergangener Jahrhunderte. Am Eingang schauen die beiden aus einem Fotorahmen. Ihre Münder sind Striche. Ich glaube Julian sofort, dass sie ihr Leben meist schweigend bestritten. Zum Schluss schauen wir noch im »Franzosenkeller« vorbei. Es handelt sich um einen Stadel mit doppeltem Boden. Durch eine Luke steigen wir in eine Vorratskammer, in der man Dinge vor den plündernden Soldaten Napoleons versteckte. Es riecht nach Lehm und Staub und Vergänglichkeit. In einer Ecke steht das älteste Weinfass des Wallis aus dem Jahr 1660. Ein düsteres Trumm mit Reifen aus brüchigen Weidenruten und schiefem, hexenfingerdünnem Zapfhahn. Ich bin sicher, wenn ich lange genug warte, erzählt das Fass mir von früher.
Fürs Erzählen über den Wein habe ich mir jedoch einen anderen ausgesucht: Richard Stoffel. Lange arbeitete der Hobbywinzer auf dem Bau, dann fing er als Rebmeister bei der hiesigen Genossenschaftskellerei an. Um ihn zu treffen, steige ich ab durch eine Landschaft von der plakativen Unwirklichkeit eines Dioramas. Der Himmel ist kristallblau, die Drei- und Viertausender ringsum könnten Berge aus einer Mythologie sein: die Pyramide des Weißhorns. Die vielzahnige Mischabelkette. Und im Norden das pagodenspitze Bietschhorn mit seinem Schneehelm.
Informationstafeln säumen den Pfad und machen mich klüger. Das Oberwallis war immer eine Gegend der Existenzakrobaten. Im festen Rhythmus von Alpbauern wechselte man die Wohnsitze, um die Anmarschwege zu den Getreidefeldern und Viehweiden zu reduzieren. Ähnlich verhielt es sich mit dem Weinanbau, der jetzt in den Blick rückt und so kleinteilig gestückelt ist, dass man unwillkürlich an Fenstersimse denkt.
»Das liegt am Walliser Erbrecht Weinberg«, sagt Richard, ein Mann von sechzig Jahren mit stoischem Bergsteigergesicht. Ich treffe ihn vor einer seiner fünf Parzellen. »Stirbt ein Besitzer, wird gleichmäßig unter den Erben aufgeteilt. Dadurch entstehen immer kleinere Einheiten. Manche sind kaum größer als ein Leintuch und liegen weit auseinander«, erklärt er beim Gang auf den Berg. Er ist so steil, dass ich fast die Hände zu Hilfe nehmen will. »Im Herbst scheint hier die Sonne fast waagerecht hinein«, sagt Richard. Dazu komme der Föhnwind aus dem Rhônetal, der hier oben besonders heftig puste und Fäulnis verhindere.
Der schützt allerdings nicht vor dem dornigen Gestrüpp, das in manchen Weingärten so aggressiv wuchert, als handele es sich um den Schlägertrupp der Pflanzenwelt. Die stärkste Waffe dagegen ist die Tradition. »Jedem Besitzer muss klar sein, dass er Teil einer jahrhundertealten Generationenfolge ist«, sagt Richard. »Wer da ausschert, steht vor seinem Parzellennachbarn dumm da.« In Visperterminen, das mit seinen 1324 Einwohnern auf 36 Vereine kommt und laut einer Studie die sesshafteste Gemeinde der Schweiz ist, weiß ohnehin jeder alles über jeden. Würde im Berg geschludert, könnte das jedoch eine Kettenreaktion auslösen, meint Richard. Die breite sich dann nicht nur auf den Böden, sondern auch in den Köpfen aus. »Das Opfer wäre der Gemeinschaftsgeist, für den unser Rebberg steht wie nichts sonst.«
Später sitzen wir im Weinkeller von Richards Haus in Chlei Derfji. Ja, es bedeutet wirklich »Kleines Dörfchen«. Viele haben so ein Refugium, wo sie ihren eigenen Wein machen. Im Bruchsteindunkel stehen alte Fässer und Kelterbottiche herum, Schläuche winden sich aus einem Trog, Fotos zeigen die große Lese im Oktober. Tout Visperterminen rückt dann in Familienstärke zum »Rebwerk« an und verwandelt den Berg in einen identitätsstiftenden Ameisenhaufen.
Das Wichtigste leuchtet nun goldgelb auf dem Tisch: mein erster Heida. Allerdings als Richards Eigenbau. Für die Nase gibt er nicht viel her. Im Mund hingegen zeigt sich der Do-it-yourself-Wein ungestüm, wild, mit grünen Apfelnoten. Klar, den kann man trinken. Anlass zu großer Sommelierslyrik gibt er jedoch nicht. Er ist eben eine Bastelarbeit, die Richard von seinen Eltern und Großeltern lernte. Etwa so muss der Wein gewesen sein, den man früher zum Tagwerk trank. Er hat dem Heida den Spitznamen »Beinbrecher« eingetragen. An die zwei Liter sollen die Feldflaschen gefasst haben. Kein Wunder, dass man in den steilen Lagen wackelige Beine bekam.
Lange wurde über den Heida gespottet. Zu hart sei er, fast ungenießbar. Man produzierte und trank ihn selbst, weil man keine Lust auf immer nur Milch und Wasser hatte, sagt Richard. Doch irgendwann wurde der Wein vom Grundnahrungs- zum Genussmittel. Überproduktionen folgten, und Ende der 1970er Jahre kam es zu einer großen Weinschwemme. Um sie und spätere Ernten zu vermarkten, gründete man die Genossenschaftskellerei St. Jodern. In Unterstalden verarbeitet sie den größten Teil aller Reben.
Zur Kellerei gelange ich über Pfade, die nichts anderes sind als die Fußstapfen der Altvorderen. Ich passiere »Suonen«: kühn in die Hänge gebaute Rinnen, die Wasser ins Kulturland bringen, mal in Gräben, mal in Steinkanälen, mal in ausgehöhlten Baumstämmen. Ich sehe ausrangierte Weinpressen in Hinterhöfen verwittern. Ich begegne den weißen Wollknäueln der Walliser Schwarznasenschafe, die mit ihren kohlschwarzen Gesichtern aussehen, als trügen sie Zorro-Masken. Und ich komme an St. Barbara in Oberstalden vorbei. Statt Erbauung bietet die Kirche katholischen Grusel: Im Barockgetümmel des Altars wird die Heilige geköpft, und über dem Ausgang hängt eine Höllenfantasie, die sonst wo eine Altersbeschränkung hätte. Ich stelle mir Kinder vor, die nach dem Gottesdienst auf Teufel im Blutrausch, durchbohrte Leiber und schreiende Sünder in brodelnden Glutbottichen schauen.
Der Bau von St. Jodern ist da nüchterner: eine Assemblage aus brutalistischem Beton und einer Außenhaut aus stilisierten Pfahlreben. Innen empfangen mich bordeauxrote Wände, fellbehangene Stühle, boutiquecool ausgeleuchtete Weinflaschen – und Michael Hock, der Geschäftsführer. Ein jungenhaft wirkender Mann im schwarzen Button-Down-Hemd. Steck ihn in einen schmalen Anzug, und er ist der Frontman einer Indie-Rock-Band. Die chromfunkelnden Produktionsanlagen sind schnell besichtigt, dann darf ich den Wein probieren.
Hocks Heida ist eine Wucht. Schon beim Einstiegswein Visperterminen meine ich zu schmecken, dass die Trauben dort oben ihre Süße nicht geschenkt bekommen. Der erste Eindruck gleicht dem Biss in eine Buttertorte, so körperreich prangt er am Gaumen. Doch fast im gleichen Moment entdecke ich die silbrige Strenge einer Säure, die den Schmelz des Auftakts bändigt. Auch die anderen Heidas machen Eindruck auf mich. Die elegante Grand Cru-Version, der stoffig-üppig in Eichen- und Akazienfässern ausgebaute Heida Barrique mit endlosem Abgang oder der Heida Veritas von wurzelechten Reben – in manche Winkel des Wallis hatte sich die Reblaus nicht vorgewagt. Im Schwergewicht der Weißweinwelt boxen sie außerdem: Jede Variante kommt auf 14 Prozent Alkohol und mehr. Trotzdem bleibt der bereitgestellte Degustationsbehälter trocken. Diesen Wein auszuspucken, verziehe ich mir nie.
Zum Abschluss zeigt mir Michael Hock das Himmelreich. So heißen die allerhöchsten Reben von Visperterminen. Wieder geht es so steil empor, als habe man das Land einfach hochgeklappt. Aber der Aufstieg ist jede Schweißperle wert. An der obersten Kante reicht der Blick bis zum Matterhorn, und die Weinstöcke stürzen sich regelrecht in die Tiefe. Nebelschwaden wabern herauf wie eine Armee von Gespenstern.
Spätestens im Himmelreich versteht man, warum der Heida teuer ist – unter 25 Franken bietet die Kellerei keinen an. Und noch mehr, warum manche der jungen Leute im Dorf auf die Plackerei keine Lust mehr haben. Um den Patriotismus anzukurbeln, gibt es die Heidazunft, eine exklusive Vereinigung, die aufgegebene Parzellen und Trockenmauern wieder hergerichtet hat und jedem Mitglied einen Weinstock mit Namensschild gibt. Ex-Fifa-Präsident Sepp Blatter hat einen, die Bundespräsidentin Viola Amherd neuerdings auch.
Zeit, Friedrich Gottlieb Steblers Worte einem Test zu unterziehen. Verhilft der Heida zum unendlich geschickten Reden? Schwer zu sagen, man käme damit hier oben ohnehin nicht gut an. Fühlt man sich reich? Nicht nach einem Blick auf die Preisliste der Kellerei. Glücksmomente schenkt dieser Wein allerdings zuverlässig. Und von der versprochenen Riesenkraft profitiert immerhin die Gemeinde: Es ist wohl vor allem der Heida, der sie zusammenhält.