11 Feb Luxus in der Hütte
DIE ZEIT, Nr. 41/2023
Luxus in der Hütte
Wenn schon Camping, dann vielleicht so wie auf der dänischen Insel Orø: Mit weißen Tafeldecken, Crémant und selbst gefischten Garnelen
Am Ende eines Sommertages ragen am Strand von Orø keine Bierbüchsen und Pommestüten aus dem Abfalleimer, sondern Krebsscheren, Avocadoschalen und ein Sammelsurium teurer Weinflaschen. An der Côte d’Azur vielleicht ein gewöhnlicher Fund. Doch am Rande eines Campingplatzes im hotdogvernarrten Dänemark könnten sich Spaziergänger schon fragen, was hier los ist. Aber von vorn.
Camping war eigentlich nie mein Ding. Das Zelt baut man immer erst falsch auf, dann lösen sich die Heringe, irgendwann schnarcht der Nachbar. Dazu können Isomatten Menschen ab 50 in den Wahnsinn treiben. Das Schlimmste aber: Man beißt morgens in muffige Brötchen, die über Nacht zu Kautschuk geworden sind; mittags gibt es zu Tode Frittiertes vom Imbiss; und abends wartet irgendein Cowboyeintopf auf dem Gaskocher. Die Natur drum herum wäre ja toll – doch man zahlt mit gustatorischem Ungemach.
Umso erstaunter war ich, als ich vom dänischen Campingplatz Orø Strandcamping hörte. Der liegt eine Stunde westlich von Kopenhagen und will Outdoorfreuden und Esskultur zusammenbringen: mit einem ambitionierten Strandrestaurant, in dem sich regelmäßig Gastköche die Ehre geben und Pop-up-Bars Weinverkostungen veranstalten. Camping für Gourmets also. Konnte das funktionieren? Würde es mich vielleicht sogar den Rest meiner Campingaversion vergessen lassen?
Ein paar Wochen später radele ich vom Fährhafen per Leihfahrrad durch sonnengelbe Weizenfelder und reetgedeckte Dörfer ans andere Ende der Insel Orø, einem 15 Quadratkilometer kleinen Landtupfer im Isefjord. Dann stehe ich vor dem Platz, und er sieht aus wie erwartet: Milchblonde Kinder behopsen eine Hüpfburg, drum herum verteilen sich Lager vom sarggroßen Ein-Mann-Zelt bis zum Dauercamper-Trailer inklusive Drahtzaun und Danebrog. So heißt die dänische Flagge, die hier alles und jedes ziert. An der Stirnseite zum Meer hin steht das Haupthaus mit einem deckweißen Partyzelt, das auch bei einem ökumenischen Feldgottesdienst Verwendung finden könnte.
Die Rezeption ist leer. Dann halt erst mal einen Kaffee vom Stehkiosk. Aus alter Gewohnheit erwarte ich eins dieser Gebräue, die nach Stunden auf der Warmhalteplatte nach gegerbtem Leder schmecken. Aber die Espressomaschine entpuppt sich als ein prinzenhaft teures, sorgsam geblitzblanktes Designmonster, wie es Szeneviertelbewohner lieben. Endlich ein Coffee to go, der nicht zum Davonlaufen ist. Auch das handgemachte Bio-Eis ist kein Allerweltsschleck. Ich löffele eine säuerliche Willkommenskugel Sanddorn und weiß sofort, dass ich die orange leuchtende »Zitrone des Nordens« zu Hause vermissen werde.
Nach dem Einchecken beziehe ich eine sogenannte Hobbit-Hütte mit Queensize-Bett und schön griffiger Bettdecke. Man kann das knuffige Ding hier ebenso mieten wie zur Unterkunft umgebaute Holzfässer, aristokratisch anmutende Canvaszelte und Stellplätze für den eigenen Camper. In meiner Hütte duftet es nach frisch gesägten Brettern, von der winzigen Terrasse geht der Blick auf eine Wiese mit Auerochsen. Es grünt und blüht und vogelzwitschert, der Wind krault jeden Grashalm einzeln. Bevor mein Atmen ein Seufzen wird, breche ich auf. Zeit fürs Abendessen.
Das finden auch andere hier. Auf dem Weg ins Restaurant klappert Geschirr, ploppen Korken, folgen Kinder dem Ruf zu Tisch. Vor jeder Behausung regiert die Etikette: Ich sehe weiße Tafeldecken, extra gedeckte Salatteller, Weinkühler und sogar Servietten aus gestärkter Baumwolle. Irgendwo steht ein Wohnmobil mit der schnörkelig aufgeprägten Typbezeichnung »Puccini« samt riesigem Notenschlüssel. Davor stehen Männer in Badehosen und schwenken Weinkelche. Ausnahmslos jeder hält sein Glas vorbildlich am Stiel.
»Ein Sonnenuntergang am Strand und ein richtig gutes Glas Wein – für viele kommt das dem Paradies ziemlich nahe«, erklärt Mikæl Sanderhage Båth den Erfolg seines komplett belegten Campingplatzes. Er steht in dem weißen Partyzelt, das zum Restaurant Matilda gehört, und lacht aus seinem Wikingerbart. Dann drückt er mir einen seidig moussierenden Crémant in die Hand. Der 42-Jährige war bis vor Kurzem Chef-Sommelier im Kopenhagener Geranium, das vergangenes Jahr als bestes Restaurant der Welt ausgezeichnet wurde.
Während der Pandemie hatten der Schwede und seine dänische Frau Sofie sich mit dem Campen angefreundet, aber bald keine Lust mehr auf lustloses Essen. Weil die beiden sich nicht allein wähnten, wurde daraus eine Geschäftsidee. Vor drei Jahren verkauften sie in einem Anfall fitzcarraldohafter Kühnheit ihr Haus in Kopenhagen, erwarben den damals noch gewöhnlichen Campingplatz auf Orø, zogen dort in einen Wohnwagen und verwirklichten ihr Gourmetkonzept. Schon nach der ersten Saison hatten sie damit genug verdient, um sich ein Fischerhaus auf der Insel leisten zu können.
Seit dieser Saison widmet Mikæl sich beruflich nur noch dem Platz. Und Sofie, die nach einer Kochlehre in New York kellnerte und dann im Restaurantmanagement Karriere machte, kocht und serviert im täglichen Wechsel mit ihm. Auf ihrem rechten Unterarm prangt ein Tattoo ihres Großvaters in klassischer Kochmontur – ein Motiv wie von einem Pizzakarton. Ich entdecke es, als sie mir den ersten von sechs Gängen des einzigen Menüs auf die Terrasse bringt: gegrillte Kohlblätter mit gerösteten Hanfsamen, Parmigiano-Kruste und selbst gemachter Focaccia. Der Kohl hat delikate Röstaromen, die fast an ein Steak erinnern. Das anschließend servierte lauwarme Porridge aus roten Linsen, wilden Erdbeeren, Tomaten und Thymian ist das einzige Gericht aus dem Geranium, alle anderen haben sich Sofie und Mikæl selbst ausgedacht. Etwa die Rote Bete mit Sahnemeerrettich und Blaubeeren. Die neuen Kartoffeln mit geschlagener Butter und Dill. Oder die Puffer mit gegrilltem Sellerie, Mangold und geräucherten Mandeln. Beim Hauptgericht, Dorsch und Gemüse, fällt endgültig auf, welchem Küchenfetisch die beiden erlegen sind: Wie fast alles schwimmt der Fisch in preisverdächtig gutem Olivenöl. Sogar das Softeis zum Dessert badet darin.
Ist das hier Glamping, frage ich nach dem Essen, dieses Camping für Campinghasser? »Nein«, sagt Sofie. Dazu bräuchte es WLAN, Safes, eigene Duschen, vielleicht Whirlpools. »Wir sind einfach nur ein Campingplatz, der kulinarisch was reißen will. Das lockt entsprechende Gäste an und ermutigt sie zum Selberkochen. Wir haben schon vor, ein wenig zu missionieren. Was wir aber auf keinen Fall wollen, ist so ein Gastrokult, bei dem Genuss zu einem Angeberding verkommt. Hier geht es um gutes, ehrliches Essen mit Gemüse im Mittelpunkt – höchstens zwei Gänge mit Fleisch oder Fisch.«
Noch am nächsten Vormittag spüre ich vor meiner Hütte die Zufriedenheit, die so ein Essen entfachen kann. Ich schlürfe den Großstadtkaffee und knabbere eine dänische Gebäckberühmtheit aus dem Kiosk und beobachte die ziehenden Himmelsbilder der Wolken. Kurz schießt mir die Frage durch den Kopf, ob das hier noch Camping ist: Versündige ich mich am Kargheitsethos des Naturerlebnisses? Gehört primitive Kost vielleicht doch zum Campen wie die Ameisenstraße ins Zelt? Ach was. Ich bin ja draußen. Rieche das Gras. Höre den Wind. Und begebe mich zum Zähneputzen ans andere Platzende. Das muss reichen.
Ich gehe eine Runde schwimmen und begleite danach Sofie, die mehrere Ökobauern abklappert: Die Sanderhage Båths kochen farm to table, sie verwenden fast nur, was die Insel hergibt. Unser Ausflug erinnert daher an eine Einkaufstour durch ein sozialistisches Kaufhaus: Ein Hamwanich folgt aufs nächste. Mal haben sich leider Schmetterlinge über den Anbau hergemacht, mal hat die Vogelscheuche versagt, mal verzögert sich die Ernte. Am Schluss liegen immerhin Zucchini, Kürbisse, Blumenkohl, Bohnen, Zwiebeln, Karotten und Kartoffeln in der Kiste. Sofie findet die Herausforderungen der Insel mit ihren vielen gefräßigen Tierarten und komplizierten Böden spannend: »So wissen wir immer erst kurz vor dem Kochen, wie das heutige Menü wird, und bleiben kreativ.«
Inspiriert von unserem Ausflug, verordne ich mir anderntags selbst Kreativität fürs frokost. Was für deutsche Ohren nach Trockenfutter klingt, ist in Dänemark ein leichtes Mittagessen. Das will ich heute selbst kochen – und sogar fangen. Der Isefjord ist nämlich berühmt für seine Garnelen, die es bis in die Kopenhagener Restaurantlegende Noma geschafft haben. Mit einem Netz und einem Eimer stakse ich neben spillerigen Kindern durchs flache, blau-grün gescheckte Wasser. Harald, der achtjährige Sohn von Sofie und Mikæl, wurde mir als Helfer zur Seite gestellt. In Wahrheit ist er es, der die Krustentiere in einem Tempo aus dem Ufersaum fischt, als würde er seine Legosteine einsammeln. Am Ende überlässt er mir seinen Eimer, gefüllt mit der wimmelnden Beute.
In meiner Hütte wälze ich die gerade mal ein Zentimeter langen Garnelen in Weizenmehl, Salz und Pfeffer. Dann kommen sie in eine Pfanne mit Sonnenblumenöl. Als ich sie auf dem Campingkocher brate, den ich mir von Mikæl und Sofie geborgt habe, riecht es in meiner Holzschachtel wie in einem Seafood-Restaurant. Und das Beste, fällt mir auf: Das Ganze ist immer noch eine One-Pot-Pasta, die fürs Campen ja typisch ist – nur eben in edel. Beim Brutzeln werden die Garnelen eher grau als rosa, schmecken aber comme il faut. Ich esse sie crunchy mit Kopf und Panzer zu einem Kichererbsen-Tomatensalat und einem Glas Vinho Verde. Dazu passt die Serviette, die ich mir gourmetlike in den T-Shirt-Kragen stopfe. Hat jemand behauptet, dass Trapper und Dandys Gegensätze sind? Ich bin ihre Symbiose!
Eine gute Grundlage sieht allerdings anders aus, und die werde ich brauchen für die spätere Weinprobe. Also mache ich mich nachmittags auf nach Næsby, wo man in einer Wirtschaft dänische Hausmannskost bekommt – die will ich auch mal kennenlernen. Im zitrusgrellen Licht wandere ich den Fjord entlang, genieße das Brausen der Blätterkronen und fotografiere verlassene Fischerboote – die Wracks verrotten so malerisch, dass jeder Impressionist sofort zum Pinsel greifen würde. Immer wieder nehme ich im monetbunt blühenden Gestrüpp Reißaus vor Bienenschwärmen. In Næsby bestelle ich mir dann das dänische Nationalgericht schlechthin: Stegt flæsk med persillesovs. Als es kommt, meine ich, einen Kardiologen um Erlaubnis fragen zu müssen. Nicht wegen der Kartoffeln mit weißer Petersiliensoße. Aber wegen des goldbraun gebratenen Schweinebauchs, der beim Reinbeißen kracht und meinen Mund vor Fett triefen lässt. Kann man mal bringen. Die gastronomische Chuzpe des mediterran aufkochenden Matilda freut mich jetzt allerdings umso mehr.
Immerhin bin ich nun bereit für die Weinprobe am letzten Abend – und die könnte kaum einen schöneren Rahmen finden. Während Sofie kocht und Mikæl kellnert und die Abendsonne allen die Gesichter golden färbt, singt ein Duo altmodische Kopfwacklerhymnen von Chris Isaak bis Aha. Nicht weit entfernt von dem Abfalleimer, der zwei Stunden später mit distinguiertem Müll gefüllt sein wird, betreut Solfinn Danielsen unser Trinken am Strand. Der rauschebärtige Inhaber des Kopenhagener Weinladens Rødder & Vin schenkt wild schmeckende Naturweine aus – darauf ist sein Geschäft spezialisiert. Wir kauen auf den ungewohnt trüben und herben Weißen und Roten herum und zerrätseln das Bukett. Der Wein wird immer mehr zum Wörterbuch seiner Metaphern. Plötzlich reicht es einem. »Bunden i vejret eller resten i håret!«, ruft er und reckt sein Glas wie Odin das Trinkhorn. Bitte, was? »Ex oder den Rest ins Haar!«
Der Mann ist kein Gourmetcamper, sondern besitzt eins der Ferienhäuser in der Nachbarschaft. Er sieht aus, als gäbe es bei ihm Stegt flæsk schon zum Frühstück. Und er hat ja recht: Nichts gegen Fine Dining mit Outdoor-Thrill. Aber Mutter Natur hat halt auch ihre derben Seiten. Skål!