Kunstbutzenhausen
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Kunstbutzenhausen

DIE ZEIT, Nr. 44/2022

Kunstbutzenhausen

 

Auf der Culture Campsite in Rotterdam kann man in bizarren Objekten übernachten. Wolf Alexander Hanisch nimmt zwei Tage Urlaub von der Realität

Halten die mich für den großen Houdini? Das Ding wirkt wie gemacht für den legendären Entfesselungskünstler, der sich in Metallsärge sperren ließ. Wenngleich: Diese Behausung hier ist entschieden lustiger. Sie erinnert an ein Comic-U-Boot, aus dem gleich Donald Duck klettern könnte. Oder eine größenwahnsinnige Kidneybohne. Oder eine Spitzmaus auf Steroiden. In Wahrheit hatte ihr Schöpfer eine fette Robbe im Sinn – er taufte sein Werk auf Schwedisch »Val Ross«. Um mich von ihm verschlucken zu lassen, bin ich nach Rotterdam gereist. Aber eins nach dem anderen.

Als ich im Süden des Stadtteils Delfshaven an einer vierspurigen Uferstraße aus der Straßenbahn steige, ist von den architektonischen Kühnheiten Rotterdams, des »Manhattan an der Maas«, nicht mehr viel zu sehen. Lagerhäuser und Hafenbecken machen Wege zu Sackgassen, Frauen im Jogginganzug rauchen neben ihren kackenden Hunden. Ein terrain vague wie aus dem Wimmelbuch. Und hier gibt es einen Campingplatz?

Den gibt es. Allerdings ist die Culture Campsite kein gewöhnliches Zeltlager. Ich finde sie eingeklemmt zwischen aufgegebenen Gewerbebauten, in die inzwischen Kreative mit ihren Werkstätten und Büros eingezogen sind. Wie viele andere Areale wurde das asphaltierte Gelände frei, weil sich Europas größter Hafen bis zu 40 Kilometer weit nach Westen verschob. Während auf den innenstadtnahen Grundstücken Architekten von Weltruhm bauten, verwirklichten hier 2019 eine Handvoll Künstler und Designer eine Ausstellung mit bizarren Objekten, in denen man übernachten kann. Ein Probelauf als Campingplatz kam so gut an, dass man von neun auf zwölf Schlafkapseln aufstockte und eine feste Einrichtung daraus machte. Von Mai bis Ende September hat sie Saison.

Thijs Masthoff ist einer der Gründer. Mit einem Bier in der Hand empfängt er mich vor einem Pavillon, in dem eine Gemeinschaftsküche und Sitzgelegenheiten untergebracht sind. Während wir reden, klingelt immer wieder sein Handy, und er erklärt mit einer Geduld aus Elfenbein, dass das hier kein Zeltplatz sei. Nein, auch keiner für Wohnmobile. Dann zeigt er mir seine architektonische Freakshow. Die Exponate stehen dicht beieinander, haben aber einen mit Grünzeug markierten Privatraum um sich. Das gilt für den knopfäugig dreinblickenden Ex-Lieferwagen »Sweet Potato« mit Vordach und Terrasse ebenso wie für den alkovengemütlichen Müllcontainer »Trash Inn« oder »Rotterdams kleinsten Wolkenkratzer«, »High Rise«, den man aus Mastabschnitten eines Turmdrehkrans gebastelt hat.

Alle Unterkünfte wirken so, als seien sie schon immer Teil dieser Industriebrache gewesen. Das mag daran liegen, dass sie Geschöpfe des Upcyclings sind, bei dem Ausrangiertes ein zweites Leben erhält. Zum Beispiel der »Sleeping Pod«, eins von zwei Domizilen, die Thijs selbst beigesteuert hat – die anderen stammen aus der Hand diverser Künstler, die über das ganze Land verstreut sind. Er steht auf Stelzen und hat eine Ziehharmonikaleiter, die in einen Kopf mit Taucherbrille zu führen scheint. Die Kabine setzt sich aus zwei Kälberiglus zusammen, die Thijs seitlich angeordnet und mit Fenstern versehen hat. »So entsteht etwas völlig Neues, und keiner kommt drauf, dass hier alles streng genommen Abfall ist«, sagt Thijs. Und er hat recht. Die immobilen Seifenkisten wirken, als streckten sie ihren Urbildern vergnügt die Zunge heraus.

Später rekele ich mich in einem Acapulco-Stuhl vor meinem Walross, das früher ein Tierfuttersilo war. Genauso wie das schreigelbe »Lemonloft« ein Stück weiter. Nur steht das nicht waag- sondern senkrecht und sieht deswegen schon wieder völlig anders aus. Ich verfolge die Möwenmanöver über mir und hebe die Craft-Bier-Flasche, wenn andere Gäste vorbeikommen. Wir begegnen uns mit einem wissenden Lächeln, als teilten wir ein Geheimnis in diesem Nachhaltigkeitsarkadien. Mein Bier aus der Honesty Bar ist das perfekte Getränk dafür. Es wird mit Austernpilzen gebraut, die gleich nebenan in einem Schuppen auf Kaffeesatz wachsen – ein Start-up sammelt die Überreste in Rotterdamer Cafés ein und ist gerade dabei, das Konzept zu vertreiben. Thjis baut dafür die Container, in denen die Pilze gedeihen.

Nach und nach meine ich, dass sich Mensch und Behausung einander ähneln wie Hund und Herrchen. Da ist der Schweizer, dessen lange Beine so gut zum giraffenhohen »Lemonloft« passen. Da sind die Engländer mit eigener Teekanne im getrimmten Minigarten des »Little Pea«, die so snobby sprechen, als würden sie dafür bezahlt, ein verarmtes Aristokratenpaar zu spielen. Da ist der Niederländer mit dem Luis-Trenker-Gesicht, der die Außenleiter des »High Rise« ständig rauf- und runterkraxelt, als wär’s ein Klettersteig. Und da bin ich, der mittlerweile spürt, wie eine walrosshafte Trägheit von ihm Besitz ergreift.

Ich klappe die Frontluke auf und gelange wie durch ein Tiermaul auf das Queen-Size-Bett mit fluffiger Decke und Leinenbezug. Zwei Fenster sorgen für genügend Luft, von der befürchteten Klaustrophobie keine Spur. Vielmehr fühle ich mich embryogleich geborgen. Prompt kommt Regen auf und trommelt einen einlullenden Rhythmus auf meine Röhrenbutze. Ich schlafe in Rekordzeit ein und träume davon, einer der Verrückten zu sein, die sich in einem Fass die Niagarafälle hinabstürzen. Bevor ich unten aufschlagen kann, kommen Möwen und tragen mich wieder nach oben. Irgendwann mischt sich das Hexengelächter der realen Möwen in meinen Traum, und ich wache auf.

Beim Kaffee vor dem Pavillon erfreue ich mich an den vielen Pflanzenkübeln mit anarchistisch wucherndem Gestrüpp. Sie könnten in einem Ton-Steine-Scherben-Song vorkommen. Hummelgeschwader brummen, der ganze Platz döst und prangt zugleich. Ich habe allerdings vergessen, Frühstück einzukaufen. Dafür überquere ich einen toten Arm der Maas und lande im historischen Delfshaven, in einer der wenigen Ecken Rotterdams, die im Mai 1940 nicht von der deutschen Luftwaffe in Schutt und Asche gebombt wurden. Es gibt Treppengiebel, Grachten und sogar eine Windmühle. Fehlen nur noch semmelblonde Niederländer in Holzpantinen. Tatsächlich aber dominieren Kopftuch und Kaftan – der Migrationsanteil von Delfshaven liegt bei 72 Prozent. Voller Vorfreude trage ich köstliche Mezze, Falafel und Couscous nach Hause.

Vor meiner zweiten Nacht nehme ich ein Bad in einem Zuber, der mit Holz in einem abenteuerlichen do it yourself-Ofen beheizt wird. Es riecht nach würzigem Rauch; wenn ich die Augen schließe, fühle ich mich wie ein Eremit in Kanada. Öffne ich sie, bin ich das Campmaskottchen – der Bottich steht gleich am Eingang, durch den nicht nur Gäste kommen, sondern auch hin und wieder Reisegruppen, die uns bestaunen wie eine Alienkolonie; der Platz ist und bleibt ein öffentlicher Ort.

Mein neues Zuhause für diese Nacht heißt »Des Res«. Es hat die Größe einer Heimsauna, ist aber im Vergleich zum »Val Ross« ein Palast. Es gibt sogar einen Tisch und einen Stuhl in diesem Holzkubus mit einer Front aus bunten Blöcken aus Polyesterharz, die bei der Produktion von Designermöbeln übrig geblieben waren. Wenn das »High Rise« der kleinste Wolkenkratzer Rotterdams ist, dann ist dies hier seine kleinste Kathedrale: Das Tageslicht lässt die Harzfassade leuchten wie das Fenster von Gerhard Richter im Kölner Dom.

Am nächsten Morgen frühstücke ich vor meiner Privatkirche, lächele wieder dieses Komplizenlächeln und bestaune die alles überragenden Schwimmkräne im Rheindelta. Wie eine Parade von Sauriern gleiten sie hinter einer Halle völlig lautlos vorüber. Es ist der Moment, in dem mir klar wird, warum ich mich hier so wohlfühle. Während in den meisten Idyllen Mitteleuropas schon die nächste Autobahn, der nächste Windpark, das nächste Industriegebiet um die Ecke lauern, gehört solcher Zivilisationsplunder hier einfach dazu. Das Camp ist ein Zaubergarten, in dem man Ferien vor der Realität macht – dennoch wird sie nicht verleugnet. Vor dem Auschecken lehne ich mich ein letztes Mal genüsslich zurück. Und frage mich, ob ich hier nicht selbst ein wenig upgecycelt worden bin.