Im Plüschgewitter
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Im Plüschgewitter

DIE ZEIT, Nr. 6/2022

Über Nacht in Köln

Im Plüschgewitter

 

Kaum irgendwo kann man vergangenheitsseliger versinken, als in den Polstern von Tante Alma’s Hotel. Erst recht nach dem dritten Eierlikör

Wo bin ich? Bei Tante Alma oder bei Oma Hilde? Die eine ist ein Gefühl, die andere Realität. Oder ist es umgekehrt? Na, ich beginne besser von vorn.

Eine Familie, mit der ich an Feiertagen zusammenfinde, habe ich nicht. Tod, Scheidung, zu viele Kilometer – Gründe gibt es viele. Ist aber egal. Kuppele ich halt allein auf dem Sofa aus. Öffne einen Rotwein, mache mir Schnittchen. Vielleicht schaue ich auch mal in ein Fotoalbum. Eine Ladung gute alte Zeit lässt sich allerdings auch anders boostern. Das suggeriert die Webseite von Tante Alma’s Hotel in Köln. Sie wirkt wie eine einzige Reminiszenz an den Verwandtenbesuch alter Schule. Könnte man ja mal probieren.

Als ich später auf den Hoteleingang zusteuere, bin ich skeptisch. Die parkhaushässliche Fassade ist das Gegenteil von heimelig. An der Rezeption im ersten Stock aber sehe ich Samtcanapés, von Glasblüten umrankte Wandleuchter und Lampenschirme aus Plisseefalten. Sofort denke ich an die Frauen aus meiner Babyboomerkindheit mit ihren Turmfrisuren und weichgecremten Händen. Bevor ich den Aufzug betrete, schaue ich noch kurz in einen Salon und kugele mir fast die Augen aus. Hier wuchert biographischer Efeu in jeden Winkel: Morastgrüne Cocktailsessel, Rudel von Porzellanhunden, Brokatkissen, von denen keins zum anderen passt. Auf einem Klavier nickt ein Wackeldackel, daneben stehen ein paar Pumps, als hätte sie sich jemand zum Spielen ausgezogen.

Die Stöckelschuhe sind wie der ganze Nippesoverkill Teil einer fiktiven Geschichte. Sie erzählt von Tante Alma, einer Musikliebhaberin mit Sammeltick. Ihre Erfinder haben das Kölner Hotel im vergangenen März eröffnet und betreiben inzwischen auch zwei gleichnamige Häuser in Bonn und Mannheim. Das Muster: Man kauft Bestandshotels auf, die zwar in die Jahre gekommen, aber noch gut in Schuss sind. Vieles Alte wird übernommen, noch Älteres draufgepackt. Eine Agentur durchkämmt dafür unzählige Trödelmärkte. So wird aus einem Spießerinterieur ein Retro-Environment, das auf jede Generation anders wirkt. In Köln war es das Hotel Lasthaus, das nach 75 Jahren nun als Tante Alma weiterlebt.

Die Hälfte der Zimmer hat man im etwas nüchternen Businessstil von einst gelassen – nicht jeder muss sich von Alma bis in den Schlaf verfolgen lassen. Ich aber will es so. Ich werfe die Tasche auf ein senfgoldenes Sofa auf taubenblauem Teppichboden und staune wieder über die Konsequenz. Allein dieser falbfarbene Wecker aus den Siebzigern! Dann entdecke ich den Eierlikör auf dem Nachttisch. Und so steht plötzlich meine Großmutter Hilde im Raum. Mit wachem Blick und unternehmungslustig schräg gehaltenem Kopf. In Kindertagen war sie nicht nur mein wichtigster Mensch; ihr Eierlikör war auch mein erster Drink. Im Geiste weicht mir Oma Hilde jetzt nicht mehr von der Seite.

Sie sitzt später auch neben mir im „Wohnzimmer“, das so etwas wie die Lobby ist: ein Fest der Schrulligkeit mit Vitrinen-Ungetümen voller Goldrandgeschirr und Zeitschriftenständern aus Messing. Bei Großmutter lagen Ausgaben der Bunten darin, hier sind es alte Merian-Hefte. Alma und Hilde hätten sich ohnehin prächtig verstanden. Die Sachlichkeit der Sechzigerjahre haben sie übersprungen und sich der Siebziger-typischen Lust am Allesvermischen hingegeben. Dass ihnen dabei irgendwann die Maßstäbe zerfielen, ist völlig okay.

Natürlich hat das hier alles einen augenzwinkernden Twist. Dennoch wahrt man den Respekt. Tante Alma’s Hotel ist kein Ort für dauerironische Drübersteher, sondern für Menschen mit einem Loriot-Blick fürs Komische. Oder dem von Hape Kerkeling, der hier kürzlich logierte.

Auf einer häkeldeckenbunten Sitzgruppe lagern junge Engländer mit Laptops und Proviant. Wie sie‘s denn so finden? „Ah, yeah. Good old Germany, isn’t it?“ Die drei sind Studenten und hören die Vorlesungen wegen Corona digital. Gegen Vorlage eines Studentenausweises bietet das Haus Zimmer sechs Monate lang zu WG-Preisen um die 500 Euro an – billiger kommen Erstsemester nur bei richtigen Tanten unter.

Zuhause nennt man den Ort, wo sich mehr Rituale ballen als anderswo. Darum hat man einige auch hier etabliert. Das Tatort-Gucken im Wohnzimmer, das Kaffeekränzchen in der Wohnküche nebenan. Die Webseite schwärmt von selbst gebackenem Kuchen und Filterkaffee. Doch so ist es nicht. Nur fünf Angestellte kümmern sich um den 45-Zimmer-Betrieb. „Da backen Sie nix“, sagt eine. Dafür steht eine Riesenpulle Eierlikör zwischen Kaffeeautomat und Konfektionskuchen.

Irgendwann will der Likörgeschmack nicht mehr vom Gaumen. Da muss jetzt Kölsch dran. Also ab in eins der Kölner Brauhäuser. Keine zehn Minuten zu Fuß, schon sitze ich in der Brauerei Päffgen. Fast halte ich nach Alma Ausschau. Inmitten spröder Nachkriegsarchitektur tun sich hier historisch überreife Gasträume auf, Reliquienschreine der Bürgerlichkeit in einem bernsteinfarbenen Rembrandtlicht.

Bestens präpariert liege ich später im Bett. Dass die Nachttischfunzel lesen kaum erlaubt, soll mir recht sein. Die Erinnerung an Großmutters Gute-Nacht-Geschichten reicht völlig. Und wer hier nicht schläft wie ein Baby, hat kein Herz.

Zum Frühstück esse ich Kalbsleberwurst, die ich sonst nie äße. Dann pflanze ich mich auf eins der Couchmonster im Wohnzimmer und verdrömele das Auschecken. Regentropfen prasseln wie Kieselsteine gegen die Fenster, der Wind treibt eine Plastiktüte vorbei. Es wird eher dunkler als heller. Ein bisschen sickert nun der Tod in meine Gedanken ein, denn wer so wohnt oder gewohnt hat wie Tante Alma, lebt in der Regel nicht mehr. Zugleich spüre ich: Hier kann mir nichts Böses passieren. Dann raffe ich mich doch auf. Kurz bevor ich mein Zimmer verlasse, ertappe ich mich dabei, wie ich gedankenverloren das Bett mache. Alma und Hilde wären erfreut.