17 Feb Smartes Knarzen
DIE ZEIT, Nr. 45/2021
Über Nacht in Basel
Smartes Knarzen
Das Volkshaus Basel, neu eingerichtet von Herzog & de Meuron, bringt
die Zwanzigerjahre aus zwei Jahrhunderten zusammen
Kaum stehe ich in der Hotellobby, will ich umkehren. Ich muss in eine der neuen Galerien von Kleinbasel geraten sein, jenem Arbeiterbezirk, um den Basels Kunstszene lange einen Bogen machte. In der Mitte des Raums tobt das Gezacke einer Stahlskulptur von Bernar Venet, an den Wänden leuchten Imi Knoebels bunte Kinderstern-Plastiken. Dazu Kataloge auf Hockern, die mit ihren dynamisch verkanteten Beinen selbst wie Kunst wirken. Aber der Mann am Empfang ist kein Galerist. Seine Augen verraten ihn: Solchen Willkommenselan kann nur ein Hotelier versprühen. Im schwarzen Beatlesanzug überreicht er mir die Schlüsselkarte des Volkshaus Basel, das im vergangenen Dezember eröffnete. Er tut es mit dieser beidhändigen, chinesisch inspirierten Darbietungsgeste. Nach aller Reiseentwöhnung kommt sie mir nicht mehr theatralisch, sondern wie ein Versprechen vor.
Die Kunst ist neu hier, die Kultur nicht. 1925 baute man an der Stelle einer alten Burgvogtei das Volkshaus: eine Stadt in der Stadt mit Konzertsälen, Läden, Büros, Restaurants und Personalunterkünften. Jahrzehnte später sank der Stern der Institution. Behörden zogen ein, und der Verhunzungsfuror der siebziger Jahre entstellte das Gebäude mit Einbauten und Verkleidungen. Schließlich stand das Volkshaus leer und kurz vor dem Abriss. Zum Glück schlugen zwei Investoren zu und beauftragten die Architekturstars von Herzog & de Meuron. Die suchten nach historischen Bezügen, stießen aber beim Rückbau von Resopal und Nadelfilz auf weniger Originalsubstanz als erhofft. Inspiriert von Archivaufnahmen und alten Plänen machten sie sich daran, die Goldenen Zwanziger durch eine Collage aus Materialien, Formen und Anspielungen neu zu interpretieren.
Was das bedeutet, ahne ich, als ich mein Zimmer betrete. Die Tür ist in eine durchgehende Schrankwand eingelassen, wie sie seit 1925 zwischen Korridoren und Räumen liegt. Heute sind darin Dusche und Toilette untergebracht. Noch im Entree steht ein separater Waschtisch wie in den einstigen Angestelltenkammern. Ich wasche mir die Hände mit einer Seife, die nicht zufällig nach alter Väter Sitte handgeschnitten ist. Bestaune den althergebrachten Schwung des Hahns, die schlichtschöne Keramik, die wuchtigen Armaturen. Sie sind aus schwarzem Kunststoff, wirken hier aber wie aus Bakelit.
Als ich auf dem Bett liege, wähne ich mich in einem bewohnbaren Leonard-Cohen-Song. Alles ist viril, warm, diskret. Das hauchzarte, an die Burgvogteizeit erinnernde Tapetendesign, der vor Redlichkeit strotzende Terrazzoboden, der Loungechair aus hellen Vierkanthölzern – Herzog & de Meuron haben das Karge zum Exemplarischen erhoben. Die Vergangenheit wird nicht mimikriert. Aber sie schimmert auf hologrammhafte Weise durch. Die gekippten Sprossenfenster führen die Stadt beim Lautsein vor. Stimmen rufen, Straßenbahnen kreischen, von einer Kirche geht ein Glockenspielschauer nieder. Und Eric Burdon singt House of the Rising Sun. Der Song kommt aus der öffentlichen Hotelbar. Also nichts wie runter.
Müsste sich die Welt auf einen Tresen einigen, der da wäre es. Aus einem einzigen Zinkguss gefertigt, gleißt er verheißungsvoll inmitten schwarz gebeizter Eiche. Seine Botschaft: Alkohol ist ein Daseinsaufheller, kein Verzweiflungsgetränk. Das gilt umso mehr, als einer wie Steven dahinter wirkt und jedem Gast das Gefühl gibt, nur für ihn da zu sein. Aus unserer Plauderei destilliert er genau den Drink, den ich jetzt brauche. Es ist ein Negroni, in dem sich die Bitternoten, die Süße und die Wachholderaromen so nonchalant die Waage halten wie alles, was Herzog & de Meuron hier eingefallen ist.
Später stromere ich durch Kleinbasels Kosmos aus Plattenläden, Antiquariaten und Rockschuppen mit klebriger Theke. Essen will ich aber gediegener und gehe in die Brasserie des Volkshauses. Hier kratzen angelsächsische Expats in Biolehrer-Chinos Gänsefüßchen in die Luft, studieren Schweizer vom Typ kunstsinniger Notar die Weinkarte. Überall wieder das Vexierspiel aus Modernität und guter alter Zeit. Das Parkett ist neu verlegt, besteht aber aus alten Bohlen und knarzt beim Drüberlaufen. Von der Decke hängen minimalistische Pendelleuchten so dicht, dass sie wie Kronleuchter wirken. Aber warum haben Herzog & de Meuron allen Holzstühlen eine andere Lehne verpasst? Rund, eckig, schmal, breit, hoch, niedrig – keine ist wie die andere. Der Brasserieleiter macht nur eine öffnende Handbewegung. „Versteh einer die Koryphäen“, soll das wohl heißen. Klarer liegt der Fall auf dem Teller. Die Speisen sind Klassiker, die man nicht besser hinbekommt. Über solch einem Hackbraten hat sicher schon mancher vor Glück geseufzt.
Am nächsten Morgen frühstücke ich unter den Platanen des Innenhofs in einem vibrierenden, wunderbar altmodisch wirkenden Renoirlicht. Die Tasche steht schon neben mir, mein Zug fährt gleich. Ich spieße das letzte Stück Bündner Fleisch auf die Gabel und denke an den Baseler Geldadel. Hier wird man nicht, hier ist man schon, behauptet der und tut so, als sei das ein Widerspruch. Man müsste ihn mal ins neue Volkshaus führen. Hier könnte er lernen, dass man auch werden kann, was man ist. Ein Ort der zwanziger Jahre zum Beispiel. Und das aus gleich zwei Jahrhunderten.