18 Feb Fränkische Schweiz: Tüchersfeld
DIE ZEIT, Nr. 37/2021
Fränkische Schweiz: Tüchersfeld
Kennen Sie nicht? Sollten Sie aber. Denn am meisten zu entdecken gibt es dort, wo die Trecker knattern. Eine Liebeserklärung an die Provinz. Diesmal: Unter den Felstürmen der Fränkischen Schweiz
Gut, in Tüchersfeld gibt es kein Künstleratelier. Keinen Lamazüchter, kein Boutiquehotel. Aber es gibt Leute wie Abduljabbar Saleh. Dass ihn viele „den Inder“ nennen, obwohl er aus dem Jemen stammt, nimmt er hin. „Bin ja erst seit vier Jahren hier“, sagt er. Der Mann betreibt die einzige Pension des 250-Seelen-Dorfs, in der man außer Zimmern im Baumarktbarockstil nur Flaschenbier bekommt. Spätabends treffe ich ihn auf der Treppe. Ob vielleicht doch etwas Süßes aufzutreiben sei? Leider nein. Kurz darauf klopft Abduljabbar an meiner Tür und offeriert mir eine Nutellapyramide, die er liebevoll auf einer Untertasse zurechtgespachtelt hat. Ich möchte ihn umarmen.
Drei Tage zuvor ist Tüchersfeld für mich erst mal nur ein Fotostopp an der B470 in der Fränkischen Schweiz. Wenngleich einer mit der Autorität eines Naturgesetzes. 60 Meter hohe Felssäulen lodern hier wie steinerne Flammen in den Himmel, zu ihren Füßen drängen sich Fachwerkhäuser, als suchten Küken Schutz bei ihrer Glucke. Gäbe es einen fränkischen Western – das hier wäre sein Eröffnungsbild. Doch wie lebt es sich in so einem Drama der Geologie? Ich stecke das Handy wieder ein und finde es heraus.
Als ich im Ort vor der Pension Püttlachtal aussteige, zwingt es mir gleich wieder den Kopf in den Nacken. Die 150 Millionen Jahre alten Riffe eines einstigen Meeres kann man nicht beiseitelassen. Also gleich rauf da. Der Pfad führt über Tritthilfen durch einen steilen Buchenwald. Oben angelangt, fällt mein Blick auf ein ziegelrotes Wirrwarr aus Giebeln, Firsten und Gauben im Grün einer wild durcheinanderfließenden Hügeldünung. Ein Dorf wie von Jean Paul erfunden. Die Kirchturmuhr schlägt fünf, irgendwo erstirbt das Quengeln einer Motorsäge. Plötzlich ist nur noch Vogelgezwitscher zu hören. Vielleicht warnt es vor dem Wanderfalken, der über mir in der Luft steht. Er hat sich den Felsen zum Brüten ausgesucht.
Der Zeitgeist dagegen konnte nicht landen in Tüchersfeld. Betagte Trecker gucken leutselig aus ihren Scheunen; man bekommt Lust, sie zu grüßen. Hinter dem Friedhof blöken Schafe, in kunstvoll verwilderten Gärten leuchten Rosenkugeln. Mit jedem Schritt fließt mein Blut ruhiger. Es ist, wie es ist, scheint alles zu raunen. Selbst der Gekreuzigte hängt seltsam entspannt auf den Kruzifixen am Weg.
Irgendwann lande ich im geranienumprangten Brotzeitstüberl, wo ich mein Behagen mit der Außenwelt teilen will. Doch das Handy hat keinen Empfang. Zweimal hätten die Tüchersfelder gegen einen Funkmast gestimmt, erzählt mir die Wirtin Frieda Dütsch, warum, wisse keiner mehr. Was sich denn überhaupt verändert habe, seit sie 1986 ihren Imbiss eröffnete? Ihre Preise jedenfalls nicht. Frau Dütsch schaut ratlos. „Verändert? Allmächd. Nix halt.“ Dann bringt sie Bratwürste, für die man eine Kerze entzünden möchte. „Broudwörschd“, sagt Frau Dütsch.
Auch ihre Gäste sprechen breites, an den Konsonanten lutschendes Fränkisch. Einer der Männer hat sich seinen eigenen Steinguthumpen mitgebracht. Ob denn nicht mal einer der Felsen herabstürzen könnte, frage ich ihn. „Schon. In fünf Minuten. Oder in 50.000 Jahren. Ma waaß es ned.“ Dann verschwindet das Gesicht wieder hinter dem Humpen.
Nachts strömt Waldluft in mein Zimmer. Es ist so still, dass ich eine panische Sekunde lang fürchte, taub geworden zu sein. Beim Frühstück weiß ich: Ich bin es nicht.
Brötchen und Croissants bekommt man nur in der orangebraun gekachelten, buchenfurnierten Bäckerei Müller, wo die Achtzigerjahre noch nicht vorbei sind. Hier fasst einem die Chefin munter zusammen, was gerade los ist auf der Welt. Newsfeed beim Kaffee – ganz ohne Netz.
Nach zwei Tagen in Tüchersfeld fällt mir auf, dass ich wunderlich werde. Ich sitze, schaue, schlendere. Sage mir Dinge wie: Ach ja. Schau mal an. Ist doch herrlich. Und habe ich eben geseufzt? Ich werde einen Teufel tun, mich dagegen zu wehren.
Bei der Rückkehr von einer meiner Wanderungen steht schon der Mond über dem Wald. Vor der Pension Püttlachtal sitzen Arbeiter auf Durchreise und machen mir Platz auf einer Bank.
Noch kämpft Abduljabbar um die Erlaubnis zur Wiedereröffnung der Gaststube. Aber egal. Trinke ich halt sein Zwickelbier aus der Bügelflasche. Bestaune das walpurgisnächtlich illuminierte Felsentheater. Und genieße die Erkenntnis, dass es der Gegensatz von hochfahrender Kulisse und süßer Monotonie ist, der den Ort beseelt. Die Tüchersfelder werden es geahnt haben, als man ihnen mit einem Funkmast kam.
Drumherum
Flüssiggold
Das Schöne am Bier: Es ist nicht nur uralt, exquisit und voller Kultur, sondern auch herrlich unkompliziert. Auf diese Weise passt es prächtig in die Fränkische Schweiz. Die hat rund 100 Kleinbrauereien wie etwa Held-Bräu in Oberrailsfeld, das man von Tüchersfeld aus in einer Wanderstunde erreicht. Hier bekommt man Bier in Vollendung. Etwa das malzbetonte, brotig-fruchtig schmeckende Dunkle mit einer Textur, die den Gaumen streichelt. Am besten bestellt man dazu ein „Schäuferla“ – die Schweineschulter ist das fränkische Gericht schlechthin.
Zaubersteine
Sollte Black Sabbath doch noch einmal ein Album aufnehmen wollen und die Band wüsste kein Cover-Motiv für ihren Düsterrock: Ein Foto des Druidenhains böte sich an. In einem Buchenwald nahe Wohlmannsgesees stehen viele Dutzend moosmarmorierte Dolomitblöcke, die so schaurig schön arrangiert scheinen, dass man sie lange für eine keltische Kultstätte hielt. Vermutlich ist es doch kein fränkisches Stonehenge. Aber der Fantasie ist das völlig egal, sobald man im grünen Zwielicht zwischen diese Riesen tritt.
Tropfsteinwälder
Mit Gruselanmerkungen versucht der Guide, aus der größten aller 1000 Höhlen der Fränkischen Schweiz eine Geisterbahn zu machen. Aber geschenkt: Auf den drei Kilometer langen Gängen der Teufelshöhle bewegt man sich durch eine Parallelwelt aus nadelspitzen Tropfsteinwäldern, prähistorischen Knochenfunden und bis zu 15 Meter hohen Hohlräumen. Wenn man nach 45 Minuten 100 Millionen Jahre durchschritten hat und wieder in der Gegenwart steht, fühlt man sich geläutert.
pottenstein.de/startseite-teufelshoehle
Holziglus
Wem die Pension Püttlachtal von Abduljabbar Saleh mit Doppelzimmern für gerade einmal 42 Euro zu rustikal ist, kann nach Püttlach ausweichen. Dort gibt es das Hüttendorf Fränkische Schweiz: Acht gemütliche, voll ausgestattete Häuschen, die aussehen wie Iglus aus Holz.
huettendorf-fraenkische-schweiz.de
pension-puettlachtal.de
Museumsbariton
Im Tüchersfelder Fränkische Schweiz-Museum kann man ein Höhlenbärenskelett betrachten, kleckerburghaft ziselierte Barockschlitten bewundern oder lernen, warum Trachten so authentisch sind wie Facebook-Posts. Vielleicht trifft man dort auch den blitzgescheiten Museumsleiter Jens Kraus und lauscht seiner Baritonstimme, wenn er Besucher herumführt. Zum Beispiel in die Synagoge im ersten Stock: Vor 300 Jahren hatte Tüchersfeld eine jüdische Gemeinde.
Gräberidyll
Den jüdischen Friedhof auf dem Judenberg bei Pretzfeld verpasst man leicht. Aber nicht, weil er schwer zu finden wäre. Sondern, weil man auf dem Weg die Pretzfelder Keller passiert, und rund um die einstigen Bierlager befindet sich ein Biergarten mit großartiger Aussicht. Eine Viertelstunde weiterzugehen lohnt sich aber: Der im 16. Jahrhundert angelegte Friedhof für die jüdischen Gemeinden ist mit seinen schiefen und bemoosten Grabsteinen der Inbegriff des Verwunschenen.