Gestrandet in Kempten
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Gestrandet in Kempten

DIE ZEIT, Nr. 19/2016

Gestrandet in Kempten

 

Da wollten Sie nie hin? Jetzt sind Sie nun mal da. Wolf Alexander Hanisch nimmt Sie zwei Stunden lang an die Hand. Sie entdecken: Die Hauptstadt von Rätien.

Schroffer kann eine Zugfahrt durchs selige Grün des Allgäus nicht enden als am Hauptbahnhof seiner größten Stadt: Der Bahnhofsvorplatz von Kempten ist eine Speckgürtelzumutung aus Waschbeton und Eternit. Am besten, Sie schnappen sich gleich ein Taxi und sagen das Zauberwort: Cambodunum.

Wenn Sie wenig später auf einer Anhöhe aussteigen, sind die Scheußlichkeiten der Vorstadt antiken Ruinen gewichen – unter dem Namen Cambodunum war Kempten einst Sitz der römischen Provinz Rätien. Wegen einer Nennung im Jahr 18 nach Christus beansprucht es sogar, die älteste Stadt Deutschlands zu sein. Lassen Sie also die stolzen Kemptener nicht hängen, und erweisen Sie dem Archäologischen Park Cambodunum Ihre Reverenz. Bestaunen Sie die Thermen, Reliefs und Tempelbauten. Knabbern Sie Plätzchen nach römischem Rezept. Und knipsen Sie ein Selfie vor der Alpenkette. Deren sinnlos glücklich machende Wirkung entfaltet sich sogar auf einem Display.

Anschließend gehen Sie hinunter zur Iller, überqueren den Fluss und spazieren durch die Bäckerstraße zum St.-Mang-Platz. Schon sind Sie ins Spätmittelalter gewechselt. Patrizierhäuser stehen jetzt Spalier, die mit ihren Gauben, Türmen, Pilastern und Treppengiebeln aussehen, als wollten sie dem Gebirge Konkurrenz machen. Das ist Ihnen zu viel? Dann beruhigen Sie Ihre Augen in der St.-Mang-Kirche – seit dem Bildersturm 1533 ist sie kahl wie ein Squashcourt. Nicht überall in Bayern geht es nämlich katholisch zu. Bis ins frühe 19. Jahrhundert bestand Kempten aus einer freien protestantischen Reichsstadt innerhalb enger Wehrmauern und einer katholischen Stiftsstadt mit riesigem Territorium. Natürlich bekriegten sich beide nach Kräften.

Gehen Sie nun weiter über den Rathausplatz, wo sportliche Menschen an Cafétischen ihre verspiegelten Brillen in die Sonne halten. Setzen Sie sich nicht dazu, sondern kaufen Sie Brezeln in der Bäckerei Wipper – es sind die besten der Welt. Links davon führt eine Freitreppe hinauf in die Fußgängerzone, ab der die historische Stiftsstadt beginnt. Durch die schlendern Sie nun in Richtung Residenz. Wie feudal die Fürstäbte hier herrschten, ahnen Sie, wenn Sie den Palast erreichen. Den kolossalen Stuckwahn seines Rokokointerieurs können Sie jedoch nur per Führung erleben. Besuchen Sie darum die Lorenzbasilika nebenan, und legen Sie in der weiß-gold-blauen, von zauberischem Licht durchfluteten Vierungskuppel den Kopf in den Nacken. Schöner schwindelig als von solch religiösem Überwirklichkeitselan kann einem gar nicht werden.

Kein Wunder, dass Sie jetzt ein Bier brauchen. „Zum Stift“ heißt der vis-à-vis um Gäste buhlende Platzhirsch unter den Wirtschaften. Lassen Sie den neobarocken Bau dennoch rechts liegen. Ein Stück weiter gibt es den besseren Stoff: im Meckatzer Bräu-Engel in der Prälat-Götz-Straße. Dort dudelt schale Radiomusik, aber man serviert ein hopfig-zischendes Allgäuer Bier, von dem Sie in München nur träumen können.

Auf dem Rückweg kaufen Sie sich bei Käse-Geiger in der Promenadenstraße ein Stück von den 400 Allgäuer Käsesorten als Wegzehrung. Der kraftvolle Dialekt der Verkäuferin lässt es gleich noch besser schmecken. Dahinter liegt der Stadtpark, wo die Busse zum Bahnhof abfahren. Achten Sie beim Warten darauf, dass Sie sich unterstellen. Denn hier krächzt und kackt die größte Saatkrähenkolonie Süddeutschlands. Alle Vertreibungsversuche schlugen fehl; selbst Drohnen, die Falkengeschrei verströmten, konnten die Krähen nicht in die Flucht schlagen. Und im Grunde haben die Vögel ja recht. In Kempten kann man es aushalten.

 

2 Stunden in Kempten

Allgäu-Museum

Vom dandyhaften Konterfei des Fürstabts Roth von Schreckenstein, der die letzte deutsche Hexe zum Tode verurteilte, bis zu kuriosen Objekten wie einem Taschenuhrhalter: Das sechs Etagen umfassende Allgäumuseum ist eine riesige Fundgrube rund um die Region.

Sissi-Bäckerei

Die Zuckerbäckerei Sissi treibt den Glukosespiegel allein durch ihr süßliches Dekor in die Höhe – ganz zu schweigen von den Mehlspeisen, Torten und Petits Fours zum selbst gerösteten Kaffee. Achtung: Hier ist alles pink!