Justos Werk
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Justos Werk

DIE ZEIT, Nr. 53/2016

Justos Werk

 

In einem Vorort von Madrid baut ein Mann seit einem halben Jahrhundert eigenhändig eine Kathedrale. Sie wird wohl niemals fertig. Trotzdem kommen die Menschen in Scharen – um zu sehen, was Glaube erschaffen kann.

Am Anfang ist Überforderung. Was wuchtet sich hier in die Höhe – eine Demonstration gegen den rechten Winkel? Alles an diesem Gebäude ist rund, organisch, fließend. Und auf eine so versponnene Weise unfertig, dass es an die Relikte eines Filmsets denken lässt, dessen Produzenten das Geld ausging. Die Ziegelwände sind nur zur Hälfte verputzt, aus den Türmen schrauben sich nackte Wendeltreppen in den Himmel, auf manchen der blauen Kuppelgerippe klappern Störche. Gleichzeitig spürt man: Hier ragt etwas Unerhörtes aus dem östlichen Speckgürtel von Madrid. Es ist die Kathedrale Nuestra Señora del Pilar, das Lebenswerk des heute 91-jährigen Justo Gallego Martínez. Seit einem halben Jahrhundert errichtet er sie. Allein.

Im Innern wirken die Dimensionen noch gewaltiger. Die Wintersonne fällt durch das Metallskelett der Hauptkuppel von 22 Metern Durchmesser, die sich an nichts Geringerem als dem Petersdom orientiert. Staubkörnchen tanzen im Licht, es riecht nach Zement. Rohre liegen herum, Eisenstangen, Paletten, Kacheln. Es ist also wahr: In der Schlafstadt Mejorada del Campo verwittert kein gescheitertes Projekt, hier wächst tatsächlich eine Basilika empor – „Justos Kathedrale“, wie jeder hier im Ort sie nennt. Etwa drei Viertel des Baus sind fertig. In der Apsis hängen schon Heiligenbilder, in der Krypta dämmert Kirchengestühl unter Plastikplanen seinem Einsatz entgegen, in der Sakristei blicken die Büsten von Jesus und seinen Aposteln ins Ungefähre. Ihre Köpfe sind identisch, weil sie aus derselben Gussform stammen, und sie erinnern an den nicht sehr frommen Dude aus dem Film The Big Lebowski.

Je länger man herumstreift, desto irrwitziger erscheint, dass alles nur von zwei Händen aufeinandergeschichtet worden sein soll. Irgendwann gelangt man auf die Galerie und sieht unten im Kirchenschiff drei Kombis stehen, die so klein wie Tretautos wirken. Spätestens jetzt gibt man auf. Die Vorstellung ist zu groß, der Kopf zu klein.

Vom Haupteingang her klirren Hammerschläge. Dort steht Justo auf einem Berg von Bruchfliesen. Mit ihnen will er bald den Boden pflastern. Der Alte ist so dürr, als hätte man ihn aus Draht gezwirbelt, doch seine Bewegungen sind kraftvoll und harmonisch. Kaum zu glauben, dass er sich schon in der zehnten Dekade seines Lebens befindet – trotz des hageren, völlig entfleischt wirkenden Kopfes, der den Totenschädel nur mühsam verbirgt. Sollte Justo einmal heiliggesprochen werden, würde man ihn in der Kluft malen, die er jetzt und in jedem anderen Monat des Jahres trägt: blauer Arbeitskittel, weißes Hemd, roter Schal und rotes Mönchskäppi. Der Manierismus El Grecos wäre dann der passende Stil.

Egal, wann man die Kirche besucht – Justo ist immer da. Aber alles andere als zugänglich. Im Winter taut er am ehesten an seiner Pausen-Feuertonne auf. Sie wandert mit ihm zu den Arbeitsstationen. Justos Stimme ist laut und bellend, man erschrickt ein wenig. Der Bauernsohn war Trappistenmönch, bis ihn 1959 der Vorschlaghammer des Schicksals traf: Eine Tuberkulose-Erkrankung führte zu seinem Ausschluss aus dem Kloster. Auch wenn es die Antibiotika in einem Madrider Krankenhaus waren, die ihn gesunden ließen – für Justo kam nur Gott selbst dafür infrage. Darum legte er das Gelübde ab, der spanischen Nationalheiligen eine Kathedrale zu bauen.

Mejorada war damals noch ein Dorf. „Im Jahr 1961 habe ich den Grundriss abgeschritten auf einem der Felder, die mir mein Vater vererbte. Einfach so, in Form eines Kreuzes“, erzählt Justo und rührt im Feuer. Dann fing er an – ohne Ahnung von Architektur, Maurerhandwerk oder Statik. Alles, was der damals 36-Jährige hatte, war etwas Geld aus dem Verkauf von Olivenhainen und Inspiration durch ein paar Bücher. „Jeder glaubte, ich würde bald wieder aufgeben. Einen Verrückten haben sie mich genannt, und die Kinder warfen Steine nach mir. Heute sind diese Kinder Großeltern. Und ich baue immer noch!“

Aber wozu der Gigantismus, Justo? Andere ehren Gott doch auch, ohne gleich Kathedralen zu errichten. „Diesen Leuten fehlt eben ein starkes Ideal“, sagt er, steht ungeduldig auf und beginnt wieder, Fliesenbrocken in eine Schubkarre zu schmeißen. „Jeder schuldet Gott, was er hat. Und wenn ich Gold besitze, darf ich ihm kein Silber geben. Mein Glaube ist groß, und ein großer Glaube verlangt nach großen Taten.“

Nach großen Reden verlangt er nicht. Wer mit Justo sprechen will, muss ihn dafür bezahlen. Sonst erntet er nur ein jähes Hin und Her seines Zeigefingers – die absolute Verneinung. „Sermone habe ich geredet, immer und immer wieder das Gleiche, und dann verstehen sie doch nicht, dass es hier um Gott geht und nicht um mich“, schimpft Justo über die Besucher, die von ihm erduldet werden wie eine unvermeidliche Plage. Ein ums andere Mal verweist er stumm auf eine Wand mit verblassten Presseartikeln und besonders nachdrücklich auf die Spendenbox am Seiteneingang. Justo braucht das Geld dringend. Bald will er die große Kuppel mit teuren Zinkplatten decken.

Alles ist angefangen, nichts fertig

Beim Stromern über die 8.000 Quadratmeter große Baustelle mit Sakristei, Taufkapelle, Kreuzgang und mehreren Sälen stößt man in mancher Ecke auf alte Autoreifen oder abgeschlagene Bordsteinkanten. Was hat der profane Krempel hier zu suchen? Die Antwort: So ziemlich alles. Denn Justo ist ein Meister des Recyclings. Sein Erbe war nach wenigen Jahren verbaut, seitdem nutzt er ganz Madrid als Rohstoffquelle. Holt sich Ausschussware von Baustellen oder bekommt sie umsonst geliefert.

In dieser Hinsicht ist Justo ein moderner Kirchenbauer. Mochten seine Vorgänger mit Gold und Marmor prunken. Er nimmt ausrangierte Reifen für die Konstruktion romanischer Bögen, Regenrinnen zur Verschalung von Geländern, Ölfässer und Blechbüchsen, um Säulen hochzuziehen. Die Mauern bestehen aus Ziegelschutt, die Steine sind mal längs, mal quer, mal bröckchenweise eingesetzt. Das Ergebnis wirkt darum kolossal und zerbrechlich zugleich.

Am nächsten Morgen ist es bitterkalt in der Kirche. Justo und Ángel haben sich die Schals bis unter die Nasen gebunden. Ángel López ist ein so gottesfürchtiger wie leutseliger Maurer, der Justo zwei Jahrzehnte lang sporadisch zur Hand ging. Seit der ihm ein Gehalt bezahlt, arbeitet Ángel täglich auf der Baustelle. Mauert und schleppt, organisiert Spenden, besorgt Material und bringt das bisschen Essen, das der Vegetarier Justo zu sich nimmt. Wer den ernsten und stangendünnen Bauherrn, dessen einziger Luxus aus Milchkaffee und Marzipan besteht, neben dem stämmig-kleinen, ständig zu Scherzen aufgelegten Ángel sieht, kann nicht anders, als an Don Quijote und Sancho Pansa zu denken. Hinter der Sakristei kleben die beiden gerade farbiges Granulat in den liturgischen Farben Rot, Gelb, Blau und Weiß auf Glasscheiben für die Fensterlöcher. Sie wirken dabei wie in ihr Spiel versunkene Kinder.

Sein größter Wunsch sei die Fertigstellung der Kathedrale, sagt Justo. Aber stimmt das? Wer ihn beobachtet, ertappt ihn ständig bei einer anderen Verrichtung. Er werkelt so unsystematisch, dass man fast ein System dahinter vermutet. Allein die schiefe Freitreppe hat er mehrfach hintereinander mit unterschiedlichen Farben gestrichen, trotz einer heftigen Gürtelrose, die ihn seit Jahren quält. Die kinderzimmerbunten Darstellungen der Kirchengeschichte aus der Hand eines Amateurs will er auch übermalen. Alles ist angefangen, nichts fertig. „Der Weg entsteht beim Gehen“, predigt er, und man hat den Eindruck, als sei genau das sein Ding: ein möglichst verschlungener Weg, der nirgendwo endet.

Mein Glaube ist groß, und ein großer Glaube verlangt nach großen Taten

Ist Justo also ein spanischer Sisyphos? Der Dokumentarfilm The Cathedral and the Madman aus dem Jahr 2009 legt eine andere Deutung nahe. Dort tritt ein Mönch seines ehemaligen Klosters auf. Er sagt: „Justo hat immer härter gearbeitet und heftiger gefastet als die anderen. Er wurde irgendwann zu radikal für unsere Gemeinschaft.“ Und so stimmten die Brüder schließlich nicht wegen der Tuberkulose gegen seine Neuaufnahme nach der Genesung, sondern aufgrund einer allzu verbissenen Büßerpraxis. Als der Regisseur ihn darauf anspricht, antwortet Justo: „Ich habe hier genauso viel Buße getan, wie ich es im Kloster hätte tun können – sogar noch viel mehr.“ Wer verstehen will, was ihn antreibt, kommt um diese Antwort nicht herum: Mit seinem Kirchenbau tut er Buße, nimmt Teil am Leiden Christi, der sich für die Erbsünde des Menschen opferte.

Solche Akte finden Bewunderung, auch in einer abgeklärten Zeit. Das New Yorker Museum of Modern Art präsentierte Justo 2003 in Abwesenheit als Teil einer Gruppenausstellung. Zwei Jahre später spielte er die Hauptrolle in einem Werbespot für einen Energydrink, der ihn als Mentalitätsmonster inszenierte und landesweit berühmt machte. Vor seiner Tür sieht es anders aus. Die Stadtverwaltung ist überfordert mit einer Mission von diesem Ausmaß.

„Eigentlich existiert die Kathedrale gar nicht“, sagt Mejoradas Bürgermeister Jorge Capa, ein nervöser junger Mann mit Igelschnitt. Er sitzt in seinem fahnengeschmückten Büro voller Furniermöbel im Klinkerblock des Rathauses. „Das Gebäude wurde nie genehmigt, es besteht aus Schrott, und keiner weiß, nach welchen Plänen es errichtet wurde. Wie wollen Sie das legalisieren?“ Aus Sicherheitsgründen habe man Justo bereits angewiesen, den Aufgang zur Kuppel für Besucher zu sperren. Im Grunde müsste man ihm eher heute als morgen den Abrissbescheid schicken, meint Capa, der jährlich immerhin 5.000 Euro Steuern von Justo einzieht. „Aber das käme seinem Todesurteil gleich.“

Auch die Diözese, erfahrener mit Wundern, steht vor einem Dilemma. Justo hat sie vor mehr als 40 Jahren als Erben bestimmt. Doch was wird aus der Kathedrale, wenn es vor ihrer Vollendung mit dem Erbauer zu Ende geht? Der zuständige Bischof schweigt. Aber wie man hört, wird über die Gründung einer Stiftung diskutiert.

Der Furor eines Weltallergikers

In gewisser Weise ist Justo Gallego Martínez noch viel älter als 91. Der bedingungslose Glaube, der ihn antreibt, gehört in eine längst untergegangene Epoche. Und das, was er hervorbringt, kann sich nicht entfalten im 21. Jahrhundert. Es ist wohl die Bestimmung dieses Bauwerks, als Ruine zu überdauern. Denn mehr als alles andere ist sie ein Monument, das von der Opferbereitschaft des Menschen und der Kraft des Religiösen erzählt. Zum Ausdruck kommt beides durch all das Unfertige, Unzulängliche, Improvisierte, dem die Strapazen anzumerken sind. Darin wurzelt die Größe der Kathedrale, nicht in ihrem späteren Gebrauchswert. Und so wie Justos Leben ohne die Kirche keinen Sinn besitzt, steht umgekehrt die Kirche ohne seine Inbrunst unter dringendem Kitschverdacht.

Am ehesten wird diese Dialektik von jenen in Mejorada verstanden, die in Justos Projekt eine Inspiration sehen. „Es zeigt, dass der Glaube Berge versetzen kann. Immer wenn ich verzage, gehe ich vorbei, erkenne ein paar Fortschritte und fasse wieder Mut“, sagt Rocío, die in einem Restaurant bedient. Sie mag diese Unfertigkeit.

Andere sehnen sich nach der Vollendung. Es sind Justos treueste Fans, die an der Schleppe von Legenden mitweben, die er mittlerweile hinter sich herzieht. So soll er einmal aus 35 Metern abgestürzt und unversehrt geblieben sein – die Hand Gottes habe ihn aufgefangen. Ausgerechnet die Trainingshosenmänner, die in den Bars der Fußgängerzone schon morgens Schnaps bestellen, maulen dagegen über einen Schandfleck, der die Stadt so schamlos überrage.

Tatsächlich wirkt die offizielle Kirche Mejoradas mickrig gegen Justos Bau. Ihr farbloses Inneres dient dem jungen Pfarrer als Begegnungsort für flüsternde Gespräche mit seiner Gemeinde. In einer der Bankreihen stellt er sich unter seinem Spitznamen vor: Curry. Die knallengen schwarzen Klamotten lassen ihn nicht nur aussehen wie einen Rocksänger – er ist auch einer. La Voz del Desierto heißt seine Band, die fast nur aus Priestern besteht. Nach der Sonntagsmesse läsen er und Justo gemeinsam in der Bibel, erzählt er. Man braucht einige Zeit, bis sich das Bild im Kopf einstellen will. Dabei sind die beiden einander ähnlicher, als es auf den ersten Blick scheint. „Für Statiker ist es eine Laune der Physik, dass die Kathedrale noch nicht zusammengebrochen ist“, sagt Curry. „Aber ich bin sicher, dass sie unter Gottes Schutz steht. Haben Sie die Krypta gesehen und die Lieferwagen, die auf ihr parken? Justo ist ein Instrument Gottes, da gibt es gar keinen Zweifel.“

Für Justo steht das sowieso fest, wie alles in seinem Leben. Am späten Nachmittag wärmt er sich auf in seinem garagenhaften Zimmer neben der Sakristei, wo er seit Jahren schläft. Die Glut in der Feuertonne atmet wie ein Tier. Er reibt sich die Augen und legt dann seine Stirn in beide Hände. Man meint jetzt in ihm den Märtyrer zu erkennen. Aber der Zustand währt nur kurz. Einen Augenblick später leuchtet er wieder geradezu vor Energie. Sie wirkt fast gespenstisch.

Fragen zum Kirchenbau ignoriert er und spricht lieber von dem, was ihn bis in die Fingerspitzen ausfüllt: der Katholizismus als einzige Hoffnung der Menschheit. Aber was heißt sprechen: Aus ihm bricht der Furor eines Weltallergikers, der die Moderne rundheraus ablehnt. Mit dem spirituellen Sirup heutiger Wellnessreligionen hat Justo nichts im Sinn. Er verabreicht stärksten mittelalterlichen Tobak. Der Körper? Ein sündiges Werkzeug des Teufels! Protestanten? Kandidaten für die Hölle! Madrid bei Nacht? Ein sittenloses Schlangennest! Als er fertig ist, bohrt sein Blick noch ein paar Sekunden nach. „Hast du das verstanden?“, will er wissen. Dann schüttelt er den Kopf und sagt zu sich selbst: „Gar nichts hat er verstanden.“

Merkwürdigerweise schmälern seine Tiraden die Sympathie nicht, die man für ihn empfindet. Es muss damit zu tun haben, dass die Faszination seines Lebenswerks auf dem Kompost der zerfallenden Religion sprießt. Und je irrelevanter die in Europa wird, desto titanischer und zugleich Don-Quijote-haft schrulliger wirkt Justos Gegenentwurf.

Tags darauf sieht man ihn wieder staubumwirbelt auf dem Schuttberg im Haupteingang herumhämmern. Auch dieses Mal umringen ihn Schaulustige. Kinder rufen Hallo, Erwachsene recken ihre Handykameras, als sei er ein urtümliches Wesen in einem Zoo. Dieses Mal tut er so, als wäre niemand da. Ach, Justo, denkt man. Ein Leben lang schuftest du in deiner Gottesfurcht dagegen an, dass die Religion zur bloßen Sehenswürdigkeit verkommt. Und hast doch selbst eine gebaut.