19 Feb Schnappschüsse des Lebens
DIE ZEIT, Nr. 47/2014
Schnappschüsse des Lebens
Seit bald einem Jahr reisen die australischen Filmemacher Epiphany Morgan und Carl Mason um die Welt und porträtieren jeden Tag eine neue Zufallsbekanntschaft. Hunderttausend Zuschauer begleiten sie im Internet. Ein Gespräch über ganz normale Verrückte und das Vertrauen zu Fremden.
DIE ZEIT: Vor acht Monaten sind Sie von Ihrer Heimatstadt Sydney aus in die Welt gezogen, um ein Jahr lang jeden Tag eine Reisebekanntschaft in einem Videofilm zu porträtieren und auf Ihrer Website 365docobites.com zu veröffentlichen. Ihr Ziel sei, „aus Fremden Freunde zu machen“, schreiben Sie dort. Haben Sie denn so wenige Freunde in Australien?
Epiphany Morgan: Freunde kann man nie genug haben, oder? Aber im Ernst: Als Filmemacher lieben wir das Reisen, und irgendwann haben wir uns gefragt, wie wir unseren Beruf mit einer Weltreise verbinden könnten. Da fiel mir ein Buch in die Hände, das genau 365 Seiten hat. Das brachte mich auf die Idee, eine Dokumentation zu drehen, die exakt ein Jahr lang läuft. Dann dachte ich: Warum eigentlich nicht gleich 365 Dokumentationen? Mein Freund Carl und ich haben schließlich sieben Monate lang die Weltreise geplant, Geld gesammelt und geübt, Filme unter Zeitdruck zu drehen, zu schneiden und zu veröffentlichen.
ZEIT: Klingt anstrengend.
Carl Mason: Das ist es auch. Tatsächlich haben wir den Aufwand völlig unterschätzt. Im Schnitt sind wir pro Tag sieben Stunden lang mit der Herstellung beschäftigt. Manchmal drehen wir von morgens bis abends mehrere Filme und produzieren sie dann in den Tagen darauf, damit wir vor unserer täglichen Deadline garantiert etwas veröffentlichen können. Schließlich müssen wir ja auch unterwegs sein, essen, duschen, schlafen. Vor allem der Schlaf kommt zu kurz. Dieses Projekt ist wirklich das härteste, das wir jemals gemacht haben. Aber auch das beste.
ZEIT: Warum – weil Sie einen Rekord aufstellen?
Morgan: Nein, das wäre ja bescheuert. Wir glauben, dass es beim Reisen weniger um Sehenswürdigkeiten geht, sondern vor allem um die Kontakte, die man knüpft. Uns interessieren die verschiedenen Perspektiven der Menschen, die wir treffen. Jeder erzählt uns seine Geschichte, seine Träume, seine Probleme, seine Sicht aufs Leben. So entsteht nach und nach ein riesiges soziales Puzzle aus fünf Kontinenten, 26 Ländern und 70 Städten, das mittlerweile gut 240 Teile besitzt.
ZEIT: Aber ein bisschen verzerrt ist das Puzzle doch. Es treten ja vor allem jüngere Menschen auf, die Englisch können.
Morgan: Da bedingt eins das andere. In den USA und Kanada, wo wir vor Europa waren, tauchten in den Filmen auch Ältere auf. Aber hier sprechen viele von denen zu wenig Englisch. In Asien, Südamerika und Afrika, wo es demnächst hingeht, wollen wir Dolmetscher einsetzen. Aber davor graut mir jetzt schon. Dann wird die Sache noch aufwendiger.
ZEIT: Wachen Sie manchmal morgens auf und denken: Heute will ich keine Leute anquatschen?
Mason: Oh ja! Das kommt vor. Aber wir gehen jedes Mal raus und machen weiter. Oft werden wir gerade dann mit besonders tollen Bekanntschaften belohnt. Es wundert mich immer noch, wie viele Leute Wildfremden ihr Herz ausschütten und ihre Sehnsüchte verraten. Von vier Angesprochenen wimmelt uns gerade einmal einer ab.
ZEIT: Vielleicht sind Sie ja so etwas wie reisende Therapeuten.
Morgan: Tatsächlich scheint es manchmal ein richtiges Mitteilungsbedürfnis zu geben. Möglicherweise liegt es daran, dass auch ich mich bei den Interviews verletzlich fühle und das nicht verberge. Nach fast 250 Gesprächen bin ich immer noch ein bisschen aufgeregt.
Mason: Das Tolle an unserer Art, Menschen einfach so anzusprechen, ist ja, dass sie dann gar keine Zeit haben, lange zu überlegen, was sie Epiphany antworten sollen, während ich filme. Sie sagen in der Regel das, was sie wirklich denken.
ZEIT: Aber was wollen Sie denn von ihnen wissen?
Morgan: Wir geben kein Thema vor. Das würde die Leute nur verschrecken. Uns geht es um ein lockeres und deswegen authentisches Plaudern über Lebensphasen, persönliche Wünsche oder auch Schicksale. Schnappschüsse des Lebens mit Ton und bewegten Bildern – das ist es, was wir machen.
ZEIT: Nach welchen Kriterien picken Sie die Leute heraus?
Morgan: Dann und wann besuchen wir Gesprächspartner ganz gezielt. Etwa vor Kurzem diesen Herrn, der im ältesten Weinkeller Madrids ein Restaurant führt, oder den Betreiber des Dritter-Mann-Museums in Wien, der so ein wunderbar sanftes Englisch spricht und so viel weiß über die Nachkriegszeit in der Stadt. Auf der Straße gehen wir instinktiv vor. Da zählen Körpersprache, Blicke oder ausgefallene Ideen wie die von diesem Bettler in New Orleans. Der legte seinen quicklebendigen Hund auf dem Rücken in einen kleinen Pappsarg und bat um Geld für eine würdige Bestattung. Der dösende Hund sah wirklich tot aus, aber wenn man ihn berührte, leckte er einem die Hand.
„Eine tägliche Dosis Menschlichkeit“
ZEIT: Was war denn die rührendste Begegnung, die Sie bisher hatten?
Mason: Da gibt es viele emotionale Momente. Zum Beispiel die drei liebenswürdigen Jungs, die wir auch in New Orleans getroffen haben. Erst ganz am Schluss des Gesprächs stellte sich heraus, dass sie arbeitslos waren und auf der Straße lebten. Oder der nette Kerl in New York, der Aids hatte, gerade aus dem Gefängnis kam und dann erfuhr, dass seine Mutter gestorben war. Da muss man dann schon schlucken. Gleichzeitig merken wir aber immer wieder, wie viel Zuversicht auch in Menschen steckt, die man sich verzweifelt vorstellt.
Morgan: Barry aus Venice Beach in Los Angeles ist so einer. Ein alternder Maler mit murmelblauen Augen, der in einem schrankgroßen Wohnwagen wohnt, den er selbst gebaut hat und mit einem Fahrrad durch die Stadt bewegt. In dem Ding bin ich klaustrophobisch geworden. Aber für Barry ist die fahrende Kiste das Symbol seiner Freiheit. Beeindruckt hat uns auch dieser New Yorker, der völlig gesund in einer psychiatrischen Klinik aufwuchs, die seine Eltern leiteten. Sein Blick auf die Kranken war der auf ganz normale Menschen mit all ihren Macken und ihrem Humor. Irgendwie steht er für die Idee von 365 Docobites. Die Filme wollen ja bewusst machen, wie viel man lernen kann, wenn man unbefangen und einfühlsam hinsieht und hinhört.
ZEIT: Wollen Sie die Unterschiede zwischen den Menschen zeigen, oder wollen Sie sie überwinden?
Morgan: Das klingt wie ein Gegensatz, für uns ist es aber keiner. Einmal telefonierte ich mit meiner 83-jährigen Großmutter, die uns im Internet verfolgt. Sie sagte mir, dass sie jetzt verstehe, was wir tun: Wir machten deutlich, wie viel die Menschen bei allen Unterschieden gemeinsam hätten.
ZEIT: Aber sucht man auf Reisen nicht gerade Menschen, die ganz anders sind als man selbst?
Mason: Schon. Doch je länger wir unterwegs sind, desto mehr stellen wir fest, dass es überall alles gibt. Offene und verschlossene Leute, großzügige und selbstsüchtige, lustige und ernste …
ZEIT: Welche Rolle spielen die vielen Sozialen Netzwerke, in denen Sie mit 365 Docobites aktiv sind?
Mason: Die sind ganz entscheidend. Wir haben täglich weltweit über hunderttausend Zuschauer, und ihre Zahl wächst immer weiter. Je mehr die unsere Clips teilen und kommentieren, desto intensiver wird die ganze Sache, desto näher kommen wir unserem Ziel, Ängste und kulturelle Barrieren abzubauen. Wir wollen eine tägliche Dosis Menschlichkeit liefern.
ZEIT: Auch völlig sinnfreie Reisevideos finden im Internet viele Freunde. Warum glauben Sie, dass Ihre Botschaft ankommt?
Morgan: Weil sie manchmal ganz praktische Auswirkungen haben kann. Kürzlich hat ein Mädchen in Australien für einen Jungen aus Belgien geschwärmt, der in unseren Filmen zu sehen ist. Die beiden haben sich dann auf unserer Facebook-Seite näher kennengelernt und wild drauflosgeflirtet.
ZEIT: Die Welt ist klein …
Mason: … und war trotzdem nie größer. Schließlich können wir heutzutage Anteil an unzähligen Leben haben. Und die sind es doch, aus denen die Welt besteht, oder?