19 Feb Voll die Checker
DIE ZEIT, Nr. 50/2016
Voll die Checker
Quietscht die Matratze? Ist Staub in den Winkeln? Hunderttausende Hobbytester bewerten im Internet jedes Detail ihres Urlaubs. Hoteliers richten sich nach dem Urteil der Reiseportale. Wir haben eifrige Bewerter im Einsatz erlebt.
Der Frühstücksraum des Stadthotels Jaime III in Palma de Mallorca ist ein Hindernisparcours voller verkeilter Sessel. Jeder Gang zum Büfett droht mit blauen Flecken zu enden. Aber sonst gibt’s nichts zu meckern. Der Serranoschinken ist zart und würzig, die Früchte leuchten wie Juwelen, sogar Cava steht bereit. Dass es im Jaime III dennoch nicht allen geschmeckt hat, erfährt, wer nebenbei sein Smartphone befragt. „Unterirdisch“, lautet das Urteil eines Münchners auf dem Bewertungsportal Tripadvisor. „Ekelhaft“, schreibt ein Schwede. „Weit von Klasse“, motzt ein Russe laut Übersetzungscomputer auf der weltgrößten Reiseseite im Internet. Wohlwollender zeigt sich das Konkurrenzportal Holidaycheck. Doch auch dort findet man Kommentare wie jenen aus der Schweiz: „Das ist wirklich Jugendherbergsniveau.“
Wer früher ein Hotel suchte, vertraute seinem Reisebüro oder kaufte einen Führer. Man zahlte Geld für die persönliche Empfehlung eines bezahlten Experten. Heute hat sich dieses Feld gehörig demokratisiert: Hunderttausende Laien geben auf Portalen wie Tripadvisor oder Holidaycheck Wertungen ab, viel aktueller und detailreicher, als man sie in einem Buch fände. Reisebüros verweisen inzwischen selbst auf Weiterempfehlungsraten aus dem Netz.
Die meisten Freizeitbewerter posten nur ein-, zweimal im Jahr – wenn sie nach dem Urlaub etwas mitzuteilen haben. Aber es gibt auch „Power-User“ auf den Plattformen. 22 solcher Vielbewerter treffen sich an diesem Novemberwochenende auf Mallorca zum Get-together. Sie sind für die Schweizer Seite Holidaycheck aktiv, die dank zehn Millionen Kommentaren zu 500.000 Hotels als größtes Portal im deutschsprachigen Raum gilt. Falls die Schwarmintelligenz ein Gesicht hat, dann trägt es deren Züge.
Adrian hat gerade im Jaime III eingecheckt und wartet nun auf den Aufzug. Dies sei sein erstes Boutiquehotel, sagt er in butterweich rollendem Fränkisch. Mit seiner lackschwarz gefärbten Haartolle, dem Menjou-Bärtchen und seinen gasflammenblauen Augen ginge der Endvierziger auch als Juror einer Casting-Show durch. Mehr als 70 Hotels hat er bereits beurteilt, meist Unterkünfte von Pauschalreisen. „Ich bin schon immer viel unterwegs gewesen. Aber seit meinem Einstieg bei Holidaycheck vor acht Jahren reise ich vor allem, um Orten auf den Zahn zu fühlen“. 42-mal war er schon in der Türkei. Man will das gerade bestaunen, da betritt er den Aufzug und zählt weiter auf: 52-mal Italien, 36-mal England, 35-mal Tunesien, 63-mal Österreich, 30-mal Tschechien, 8-mal Domrep … Als es im neunten Stock bimmelt, hat er 22 Länder durch. Auch die Zahl seiner bereits absolvierten Flüge kennt er: 298.
All diese Orte beschreibt er nicht nur, er fotografiert sie auch. Im Frühjahr hat er einen Preis bekommen für die meisten eingestellten Fotos aller 1,9 Millionen Nutzer: Insgesamt sind es mehr als 45.000. Top-Holidaychecker darf er sich seitdem nennen.
Wie seine Kollegen, die sich hier zum Austausch treffen, hat Adrian Anreise und Unterbringung selbst organisiert – und wird während des Aufenthalts bewerten, was sich dafür anbietet. Das Management von Holidaycheck spendiert den freiwilligen Zulieferern lediglich eine Bustour mit Besichtigungsprogramm.
Auf dem Weg zum Zimmer klacken Lichtschranken, und Fotokunst leuchtet im Dunkel der Gänge auf wie in einer Geisterbahn. Adrian findet das „geil“. Dann fällt die Tür ins Schloss. Jeder andere wäre jetzt froh, nach langer Reise die Füße hochlegen zu können. Adrian nicht. Er setzt sich aufs Bett und startet sein Programm. Wieder und wieder federt er auf der Matratze auf und ab und schaut dabei mit Klavierstimmergesicht ins Ungefähre. Ist sie weich, hart, mittel? Quietscht sie? Was wäre, schliefe man nicht allein? Dann geht es weiter. Er prüft, was auf dem Schreibtisch ausliegt. Registriert, ob die Kleiderbügel auch für Hosen taugen. Mustert die Toilette und zählt am Schluss die Gratis-Hygieneartikel. Es wirkt wie eine Inventur.
Was Adrian antreibt, lässt sein Profilname „Snakeplissken“ erahnen: So heißt der gegen finstere Mächte kämpfende Held seines Lieblings-Actionfilms Die Klapperschlange. Robin Hood hätte auch gepasst. Denn Adrian möchte der Reiseindustrie auf die Finger hauen können. „Früher ging man den Tourismuskonzernen doch ständig auf den Leim“, erzählt er auf der Hotelterrasse. „Aber Leute wie wir bringen Transparenz. Mit Kataloggerede, in dem eine verkehrsgünstige Lage bedeutet, dass dir Flugzeuge über den Kopf donnern, kann man jetzt kaum noch einen reinlegen.“ Adrian lehnt sich zurück und klopft die nächste Zigarette aus der Schachtel. Er genießt es, zu den Guten zu gehören.
Positive Bewertungen sind wichtiger als Werbung
Seine Bewertung über das Jaime III verteilt Adrian später auf von Holidaycheck vorgegebene Kategorien wie „Zimmer“, „Service“ oder „Gastronomie“. Trotzdem wirkt sein Text wie ein Mahlstrom, in dem Hast und Haarspalterei kein Widerspruch sind. Adrian verfasst ihn nicht nur für Reisende, sondern auch im Bewusstsein, dass Hotelmanager mitlesen. So bemerkt er nach einem Staubtest: „Auch wenn die Reinigungsfachkräfte nicht so groß gebaut sind, kommt man mit einer kleinen Erhöhung auch mal über den Türrahmen, da kam einiges herunter.“
Sein Eifer ist weniger vermessen, als man glaubt. Auf kritische Einträge reagieren viele Hotels inzwischen sehr rasch. Denn positive Bewertungen sind für die Nachfrage mittlerweile wichtiger als jede Werbemaßnahme. Im Vier-Sterne-Haus Royal Cupido, einem grellweißen Kasten mit lidschattenblauen Glasbalkonen am Strand von Arenal, wurden aufgrund von Onlinekommentaren schon Steckdosen neu verlegt. Auch hier sind gerade Vielbewerter von Holidaycheck abgestiegen. „Früher blies der Wind nur aus einer Richtung“, sagt der stellvertretende Hoteldirektor Diego Álvarez, „heute weht er von allen Seiten. Wer damit nicht klarkommt und schlechte Kommentare sammelt, läuft Gefahr, aus dem Katalog der Veranstalter zu fliegen.“ Den oft gehörten Verdacht, Hotels legten bei den Bewertungen selbst Hand an, weist er von sich: „Wer sein eigenes Haus hochschreibt, profitiert nur kurz. Zuerst kommen vielleicht mehr Gäste. Doch die sind dann enttäuscht, und der Manipulationsaufwand steigt. Ein Teufelskreis.“
Auch die Bewerter sind kaum zu beeinflussen, allein durch ihre Zahl. Der kleine Kreis der Reisebuchautoren und Journalisten ließ sich noch leicht hofieren. Heute kann jeder Hotelgast seine Erfahrungen veröffentlichen. Jemand wie Adrian, dem sein Top-Status viel bedeutet, läuft schon mal im Holidaycheck-Shirt durch die Lobby und bekommt dann gelegentlich Angebote für freie Massagen und Zimmer-Upgrades. Doch die, sagt er, lehne er ab.
Auch Silvia profitiert nicht von ihrer Tätigkeit. Die Holidaycheckerin, Gast im Royal Cupido, hatte um einen Late-Check-out gebeten – vergeblich. Bereits 174 Hotelbewertungen hat Silvia aus der halben Welt gepostet. Manche davon im Abstand von Tagen. Die Erklärung dafür ist einfach: Die strichdünne Mittdreißigerin, die gerade mit wehender Blondwolke und signalrotem Lippenstift so schmissig in die Lobby stöckelt, ist Stewardess. Unter dem Arm trägt sie einen Stapel Broschüren von Hotels aus der Nachbarschaft. Wie eine Profitesterin nimmt Silvia nicht nur ihr Quartier unter die Lupe, sondern sichtet auch weitere. „Ich bin süchtig nach Hotels“, sagt sie, „seit meiner Kindheit. Nenn mich eine Hoteloholic!“ Und woher der Mitteilungsdrang? Ihre Bewertungen, die sie gleichermaßen bei Holidaycheck und der internationaleren Seite Tripadvisor veröffentlicht, gäben ihr die Möglichkeit, Dampf abzulassen. „Das ist wie mit der Crew. Hat man ein schlechtes Hotel erwischt, dann krittelt man im Bus zum Flughafen so lange daran herum, bis der Ärger verraucht ist.“
Die Inspektion des Zimmers unternimmt Silvia so energiegeladen, wie sie spricht. Wo immer sie hinschaut, erkennt sie einen Makel. Die Leselampen? Gelump, das einem auf den Kopf knallt, wenn man es nur berührt! Das Waschbecken? Ein Wasser verspritzendes Unding, unter dessen Hahn noch nicht einmal ein Becher passt! Der Safe? Eine in Kniehöhe angebrachte Frechheit, die mit dem Schiebeschrank zusammenstößt! Als Silvias Furor endlich verebbt, ist man sicher: Nur der Abriss kann jetzt noch helfen.
Um eine Bewertung zu begründen, würde es genügen, ein oder zwei Details herauszugreifen. Doch Silvia postet später ihre gesamte Bestandsaufnahme. Manchmal bedauere sie selbst ihren Perfektionismus, sagt sie. „Aber je mehr Erfahrung du hast, umso genauer schaust du hin.“ Was verlangt sie denn von einer Herberge? „Zimmer, in denen ich mich sofort heimisch fühle. Es darf keine drei Tage dauern, bis ich begreife, wie die Beleuchtung funktioniert.“ Deshalb achtet Silvia auch auf scheinbar unbedeutende Dinge wie ein fehlendes Schräubchen am Fluchtplan. „Solche Sachen summieren sich zu einem diffusen Unbehagen. In meinen Kommentaren versuche ich, das bewusst zu machen. Und wenn ich das schaffe, erziehe ich die Nutzer dazu, auch selbst präziser hinzusehen.“
Tatsächlich verblüfft Silvias Talent, den Finger selbst in kleinste Wunden zu legen. Jeder Kritikpunkt stimmt. Erstaunlich nur, dass das Haus in ihrer Gesamtwertung noch immer auf 4,1 von sechs Punkten kommt. Das verdankt sich einer Zusammenschau verschiedener Kategorien, die viele Negativurteile am Ende abmildert.
Checkertypen: Der Rächer, die Chronistin, der Zeichendeuter
Positive Gesamtbewertungen sind auf allen Portalen notorisch. Auf Holidaycheck etwa empfehlen gerade einmal zwölf Prozent der User ein Hotel oder Reiseziel nicht weiter. Das Management der Plattform spielt diese merkwürdige Schieflage herunter. Es seien weniger die Noten, die klarmachten, ob ein Hotel etwas tauge. Vielmehr suchten Nutzer meist gezielt nach jenen Kommentaren, die etwas mit ihren eigenen Bedürfnissen zu tun hätten. Den Frühaufsteher muss nicht kümmern, ob im Hotel schon um zehn Uhr morgens das Frühstücksbüffet geräumt wird.
Mit ihrer Akribie gehen Silvia und Adrian fast wie Profitester vor – obwohl ihre Texte später im breiten Beurteilungsstrom untergehen. Aber es gibt auch andere Temperamente. Annemarie zum Beispiel, eine mädchenhafte Rentnerin mit grau melierten Pagenschnitt, die sich fürs Vielbewerter-Treffen in eine erdnussbutterbraune Bettenburg neben dem Royal Cupido einquartiert hat. Ihre Kommentare sind Volksfeste des Persönlichen. Sie schreibt über ihre Freude aufs Frühstück oder über die zusätzliche Wolldecke, die so schön wärmte. Ihr geht es nicht um den systematischen Schlagabtausch mit den Tücken des Hotelbetriebs; Annemarie verfasst eher eine Art digitales Tagebuch, mit dem sie noch etwas ihrer Reise nachhängen kann. „Durch meine Bewertungen denke ich intensiver an den Urlaub zurück“, sagt sie.
Doch wie die meisten ihrer Mitstreiter bleibt auch Annemarie am handfesten Detail hängen. Die Ästhetik, der Charakter, die besondere Atmosphäre eines Hotels spielen weder auf Holidaycheck noch auf anderen Plattformen eine größere Rolle. Überall arbeitet man sich gleichsam an der A-Note ab und vernachlässigt die B-Note, die für den künstlerischen Ausdruck.
Tien-Lun ist da eine Ausnahme. Er besitzt ein Gespür für Dinge jenseits von Steckdosen und Wolldecken und hat für Tripadvisor bislang mehr als 300 Hotel- und Restauranturteile gepostet. Holidaycheck sei ihm ein wenig zu deutsch, sagt der Vielbewerter mit Wurzeln in Taiwan, der als Logistikleiter eines Chemiekonzerns in Basel arbeitet. Das Treffen mit Tien-Lun findet in Frankfurt statt, in einem Businesshotel der Wyndham-Grand-Kette. Das Hotel schätzt er, „weil es ziemlich gut zeigt, wie ich ticke“. Er wurde darauf aufmerksam, weil es keine Messeaufschläge erhebt – eine krasse Ausnahme in Frankfurt. „Als Kostenstellenleiter will ich das Beste für mein Geld, egal, ob geschäftlich oder privat.“
Die Lobby ist von nordischer Coolness. Nachtblaue Schalensessel kontrastieren mit Betonsäulen, berghüttengemütliche Tierfelle mit Regalen im Industriedesign. Tien-Lun steckt noch im Mantel, als er auf die edlen Wasserkaraffen zeigt, die für Wartende am Rezeptionstresen bereitstehen. „Das allein sagt schon alles. Wer an so etwas denkt, der kümmert sich auch“, erklärt er und vergleicht den Materialwert dieser Geste mit ihrem Effekt auf den Gast. Er wird das an diesem Nachmittag noch öfter tun. Wenn Silvia den Typus der Perfektionistin verkörpert, Adrian den Rächer und Annemarie die Chronistin, dann ist Tien-Lun der Zeichendeuter. Zwar teilt auch er gern mal aus. Er sagt: „Ein Hotel ist wie ein alter Motor. Ab und zu muss man beides treten, damit es wieder rundläuft.“ Aber im Wyndham Grand läuft es für ihn rund genug.
Auch das chinesisch-malaysische Restaurant zwischen den neonspeienden Bordellen des Bahnhofsviertels ist eine klare Empfehlung. Tien-Lun preist es bei Tripadvisor, wo nicht alle begeistert sind. „Ich würde nur dorthin gehen, wenn ich wirklich verzweifelt bin für Malaysian Essen“, schreibt einer. Das Lokal ist angenehm schnickschnackfrei. Tien-Luns Augen folgen verzückt dem geschmeidigen Hin und Her der Kellner. Es ist, als genösse er ein Ballett. Dann bestellt er auf Chinesisch, und kurz darauf füllt sich der Tisch mit Dim Sum und Hainan-Huhn, mit Schweinebauch, scharfen Riesengarnelen und Klebreis im Lotusblatt. Es schmeckt so köstlich, dass man jeden Einzelnen aus der Küchenmannschaft umarmen möchte.
Wäre man auch hier gelandet, hätte man sämtliche Tripadvisor-Kommentare über Tien-Luns Lieblingsasiaten hochgerechnet? Wohl kaum. Dafür hätte einem zu sehr der Kopf geschwirrt. Schon wahr, dass der Schwarm von den Launen einer einzigen Kritikerpersönlichkeit befreit. Dass er immer auf dem neuesten Stand ist. Und dass er bei allen Widersprüchen verlässliche Tendenzen abbildet. Doch die gratis hingeworfenen Wertungen verbeißen sich leicht in ermüdende Details – und machen dadurch früher oder später wieder Lust auf die Zuspitzungen des guten alten Reiseführers.
Da hilft nur die Ausschau nach Bewertergefährten wie Tien-Lun. Oder die Erinnerung an Friedrich Hebbel. Der kannte zwar kein Internet, dafür aber den Gott des Reisenden. Es ist der Zufall.