19 Feb Was kostet die Stadt?
DIE ZEIT, Nr. 10/2015
Was kostet die Stadt?
Groß, grell und „Hot Pink“: Las Vegas feiert die Künstlichkeit. Wolf Alexander Hanisch feiert mit.
Der Brunnen rauscht und gurgelt, als beratschlagten seine Wassermassen über ihren nächsten Auftritt. Kurz darauf hört man ein Zischen und sieht, wie Fontänen aus kreisrund angeordneten Düsen so in die Luft geschossen werden, dass sie leicht schräg aufeinander zujagen. Fast im gleichen Moment stoppt der Brunnen abrupt den Nachschub. Die Strahlen lösen sich von ihrer Quelle und wirken auf einmal wie fliegende Fische, die man in die Freiheit entlassen hat. Gierig schnellen sie von allen Seiten weiter in die Höhe, bis sie oben in ein rosa Licht hineinsausen, das erst jetzt angeht. Dort stoßen sie zusammen und explodieren glitzernd und prasselnd als riesige pinkfarbene Wasserstaubwolke. Es ist ein sekundenkurzes Bild von entrückter Schönheit. Und der Moment, in dem man glaubt, das Wesen von Las Vegas vor Augen zu haben. Aber ich greife vor.
Das Wasserspiel vor dem Portal des Hotelkasinos Aria betört umso mehr, wenn man es als frivoles Gegenstück zur hier versammelten Wolkenkratzerschar betrachtet: gläserne Fassaden und verspiegelte Zylinder, spitze Pfeiler und scharfe Kanten. Unter dem Namen „City Center“ kündet das Ensemble vom nächsten Paradigmenwechsel der Stadt. Die Zockermetropole will sich kühle Eleganz verordnen. Das pubertär Grelle habe ausgedient, lautet die Botschaft, die Farbe des neuen Las Vegas sei schlichtes, erwachsenes Grau.
Man muss aber nur die paar Schritte zum Strip gehen, um zu begreifen, dass Grau hier keine Chance hat. Auf dem berühmtesten Abschnitt des Las Vegas Boulevard ist die Stadt jener architektonische Hexentanz, der mir schon beim Landeanflug das Herz höherschlagen ließ. Schillernd und glitzernd reihen sich die größten Hotels der Welt aneinander. Ich kann mich gar nicht sattsehen am zuckerstangenbunten Turmgedrängel des New York-New York, am imperial auftrumpfenden Caesars Palace, an den Renaissance-Fassaden des Venetian. Immer wieder lege ich den Kopf in den Nacken wie ein Bauernjunge auf Stadtbesuch. Las Vegas soll bald einem Finanzdistrikt gleichen? Quatsch. Die Stadt ist dafür gemacht, den grenzenlosen Weltappetit des Menschen zu stillen. Dass sie den Globus dabei rosiger färbt, als er ist, gehört dazu. Hier will ich einmal fünf gerade sein lassen. Kein Ort könnte dafür mehr infrage kommen.
Wer die dominierende Farbe im bunten Gewimmel ausmachen will, ist schnell fertig: Der Gewinner ist Pink. Wie ein anzüglicher Clown durchhüpft es die Stadt. LED-Reklamen werben für Shows, in denen Tänzer pinkfarbene Zylinder und Tänzerinnen pinkfarbene Strümpfe tragen. Auf pink gestrichenen Bordsteinkanten prosten mir feiernde Frauen zu, die pinkfarbene Federboas tragen. In einem Kasino-Eingang prangt ein zwei Meter hoher Stöckelschuh in Metallic-Pink. Und vor dem falschen Eiffelturm des Hotels Paris Las Vegas lassen sich falsche Polizistinnen in pinkfarbenen Netzstrumpfhosen fotografieren; sie nennen sich Sergeant Sexy und Lieutenant Love.
Wenn Las Vegas geliebt wird, dann dafür, dass es den Exzess und die Verruchtheit feiert. Keine Farbe scheint für solche Ausschweifungen geeigneter zu sein als die schrille Schwester des Rosa, die hier Hot Pink heißt und so etwas ist wie die Animierdame unter den Farben: Sie wirkt weder besonders geschmackssicher noch besonders schön. Aber sie kitzelt ein kribbelndes Verlangen wach, das selbst nicht genau weiß, worauf es aus ist, und das im prüden Amerika sonst oft unter der Decke gehalten wird.
Es ist darum kein Wunder, dass das erste am Strip gebaute Hotel seit 1946 auf Pink setzt: das mythenumflorte Flamingo. Federn aus rosa Neon fächern sich verheißungsvoll über seinem Eingang auf – und bereiten nicht auf das vor, was dahinter folgt. Ich betrete eine Art Fabrikhalle, in der sich Spieler mit mechanischen Reflexen an Glücksmaschinen abarbeiten. Es bimmelt und dudelt, Bedienungen mit knappen Röcken massieren den Zockern an Pokertischen die Nacken, damit niemand schlappmacht. Der Weg zu meinem Zimmer ist die reinste Wanderung. Als ich es endlich erreiche, stelle ich fest: Im Bad riecht es nach kaltem Rauch. „Was dagegen?“, scheint das pinkfarbene Deckenlicht zu meckern. „So ist das nun mal. Du bist in Las Vegas!“ Und das stimmt ja. Was wäre ein Sündenbabel ohne Laisser-faire.
Der New Yorker Gangster Benjamin „Bugsy“ Siegel steckte in den vierziger Jahren sechs Millionen Dollar seines Clans in den Bau des Hotelkasinos. Doch weil die Investition zunächst fehlschlug, ließ ihn sein Boss Meyer Lansky erschießen. Noch heute erinnert eine Büste an den Mobster. Sie steht im Innenhof, durch den Flamingos mit zerbrechlicher Anmut stolzieren. Die Vögel und der Hotelname sollen auf Siegels Freundin zurückgehen, eine Tänzerin mit roten Haaren und äußerst langen Beinen. „Ob das wahr ist, weiß keiner so genau“, sagt eine Angestellte und streut eine Futtermischung mit synthetischem Farbstoff aus, der das Gefieder schön rosa tönt. „Aber die Legende ist toll. Und darauf kommt es an.“
Fest steht, dass die anrüchige Aura Bugsy Siegels den Strip interessant machte und immer mehr Menschen in die immer zahlreicheren Hotels und Shows lockte. Auch Elvis Presley trat hier auf – ab 1969 gab er in Las Vegas gut 800 Konzerte und mutierte zu einem unnahbaren Traumwesen.
Heute ist es ein Klacks, ihm nahezukommen. Pünktlich zur Verabredung mit Elvis fährt am Hoteleingang eine Hochzeitstorte von einem Auto vor; es ist ein rosa Cadillac aus dem Jahr 1956. Ein Mann steigt aus, und ich denke: Mein Gott, der King! Der strassbesetzte Strampelanzug! Das lakritzschwarz gefärbte Haar! Und dieses gemeißelte Lächeln! Der 52-jährige Eddie Powers ist einer von 100 Elvis-Imitatoren der Stadt und der einzige, der Touren mit jenem rosa Cadillac-Modell anbietet, das Elvis einmal seiner Mutter schenkte. Gleich umarmt er mich wie einen Kumpel. Als wir losfahren, merke ich, wie sich ein Dauergrinsen in meinem Gesicht breitmacht. Der Motor blubbert, die weichen Ledersitze fühlen sich an, als fläzten wir uns in einer Wanne voller Gelee. Und sofort ist Party. Eddie reicht mir einen Erdbeer-Margarita und singt Viva Las Vegas. Ich singe mit, winke Passanten, kräusele wie Elvis die Oberlippe. Der Glanz des King färbt schon auf mich ab. Möchte einer ein Autogramm? Im rosa Cadillac durch Kassel cruisen wäre peinlich. Hier aber ist es nichts anderes als angemessen.
An den Ampeln flirtet Eddie in fremde Autos hinein. Man sieht, wie die Damen lachen, aber man hört es nicht. Dann gibt er ein Konzert vor dem berühmten „Welcome to Fabulous Las Vegas“-Schild, hinter dem jetzt lachsrosa Schleierwolken im maisgelben Abendhimmel flammen. Als er zu Burning Love arabische Touristinnen mit Kopftuch zum Tanz bittet, tun die so, als wüssten sie nicht, wer Elvis ist. Spielverderber!
Hier will jeder sein, was er nicht ist
Später geht der King in einem Supermarkt pinkeln und kommt zurück mit Gratis-Donuts. In seinem Gesicht kleben jetzt ein paar Krümel, die nicht mehr verschwinden. Nicht beim Abfahren der Wedding Chapels und auch nicht im Elvis-Museum, wo in Vitrinen Dinge liegen, die der Star qua Berührung weihte. Immer wieder muss Eddie für Fotos posieren, immer wieder lacht er das Elvis-Lachen. Ha. Ha. Hahaha. Nach 30 Jahren Heldenverehrung scheint ihm selbst nicht mehr ganz klar zu sein, ob er Eddie ist oder Elvis. Was sein Idol für ihn bedeute, will ich am Schluss der Tour wissen. „Ich sehe in ihm den Vater, den ich nie hatte“, verrät er leise und hält zum ersten Mal einen längeren Blickkontakt. Jetzt bin ich es, der ihn umarmt.
Elvis ist Nostalgie, Elektromusik der Trend. Alle Megaresorts von Las Vegas konkurrieren heute um die weltbesten DJs. Die durch Kasinos und Ladenzeilen miteinander verbundenen Schwesterhotels Wynn und Encore machen mit ihren vier Clubs mehr Rendite als mit dem Glücksspiel. Allein der Club XS im Encore verkauft in einer guten Nacht Getränke für eine Million Dollar.
Um zu ihm zu gelangen, irre ich am nächsten Abend durch das Labyrinth beider Häuser. Rosig schimmernde Perlmuttpfauen bewachen Eingänge; Blumengestecke in der Form lebensgroßer Ponys fahren auf einem Karussell im Kreis. Das neoviktorianisch eingerichtete Society Cafe ist wohl zu schwarz-weiß geraten und wurde mit fast schmerzhaft pinkfarbenen Sofas aufgepeppt. Und vor einem Theater sticht eine Skulptur von Jeff Koons ins Auge: Der gleißend legierte Riesentulpenstrauß für knapp 34 Millionen Dollar feiert die Oberfläche, bejubelt das Dekorative. Lange stehe ich hinter der Absperrung und wünsche mir, den bonbonbunten Lack berühren zu dürfen.
Der Club XS prunkt so schamlos mit Gold, dass die Farbe wirkt wie eine reiche Verwandte des Pink. Die Lüster, die Säulen, die Frauentorso-Plastiken hinter der Bar – nichts ist vor ihr sicher. Hier eintreten und Augen machen sind eins. Die Covermodels von Vogue oder Harper’s Bazaar gibt es nur dank Photoshop? Ach was. Hier sind sie alle versammelt und lassen Schneewittchen aussehen wie eine Kuh. Klar, dass ein Fachmagazin das XS kürzlich zum „heißesten Club Amerikas“ gekürt hat. Große, weite Welt, hier bin ich! Jetzt wird gefeiert!
Die Musik ist fanfarenlaut. Immer wieder kuppelt der DJ gleichsam aus, um dann ein paar Rhythmusgänge hochzuschalten. Es fühlt sich jedes Mal an, als zirkuliere mein Blut plötzlich schneller. Auf dem Höhepunkt fliegen unzählige Hände in die Luft – und filmen mit Mobiltelefonen die Goldflitter, die in diesem Moment auf uns niedergehen. Spätestens jetzt kann ich mir nichts mehr vormachen: Hier regiert das Kalkül. Und das Feiern ist eher ein Posen. Die Männer lachen übertrieben kantig, die Frauen balancieren auf stelzenhohen Absätzen und streichen sich imaginäre Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ich nippe schon an meinem dritten Wodka Tonic und komme mir vor wie in einer Castingshow.
Die Besucher des XS ähneln den Themenhotels am Strip: Offenbar will hier jeder sein, was er nicht ist. Für Entertainment-Manager Ryan Perrings ist das sogar ein Teil des Erfolgs: „Weil kaum einer der Gäste in Las Vegas wohnt, können sie sich in den Clubs neu erfinden. Du willst ein Filmproduzent sein, ein Künstler, ein Fußballer aus Europa? Alles, was du dazu brauchst, sind eine Kreditkarte und der Mut, sie richtig zu benutzen“, sagt der Schlaks in Schwarz und grinst.
Nach einer langen Nacht empfängt mich das Vormittagslicht wie eine gleißende Wand. Gnadenlos leuchtet es Bierbüchsen und verstreute Visitenkarten von Prostituierten auf dem Strip aus. Besser, man ist nicht da, solange die Sonne scheint. Also fahre ich in die Wüste – im pink lackierten Geländewagen einer Ausflugsagentur. Seine Farbe fällt mir schon fast nicht mehr auf. Bald bleiben die Motels von Las Vegas zurück, und der Red Rock Canyon breitet sich aus, eine staubige Marslandschaft, aus der Sandsteintürme ragen. Wind und Erosion haben hier in Jahrmillionen einen Zaubergarten in Ziegelrot, Bastgelb und Altrosa geschaffen, den das verlöschende Licht des Nachmittags immer wieder neu einfärbt.
Als auf der Rückfahrt die Silhouette von Las Vegas aufscheint, werde ich den Gedanken nicht los, dass die Mojave-Wüste ringsum die fiebernde Architektur erst befeuert haben muss. Und irgendwie ist das ja tatsächlich so. Weil die hypnotische Leere des Landes alles Menschenwerk klein und nichtig erscheinen lässt, hielt ihr das ehemalige Eisenbahnkaff seit seiner Gründung 1905 aufschneiderische Fassaden entgegen, die eigentlich nur schäbige Hütten kaschierten. So bildete sich eine Illusionsarchitektur heraus, die typisch war für viele Siedlungen in den Einöden des Wilden Westens. Natürlich ließ sich davon niemand hinters Licht führen. Doch die Hochstapelei gehörte hier von Anfang an zum guten Ton.
Vielleicht wirkte Las Vegas als Welthauptstadt der Illusion nie fantasievoller als in den sechziger Jahren, in denen die Neonschilder ihre größte Strahlkraft entfalteten. Heute weichen sie fast überall dem kalten Perfektionismus moderner LED-Wände. Aber es gibt einen Ort, wo die Röhren ihre letzte Ruhe finden: auf dem Lagerplatz des Neon Museum nördlich von Downtown. Geborsten und von Taubenkot zersetzt, stehen Leuchtbuchstaben, Fiberglasfiguren und Reklametafeln im Staub, als feierten sie eine melancholische Party und plauderten über alte Zeiten. Man findet hier zum Beispiel ein lastwagengroßes Objekt in Federform, das einst am Hotel Flamingo blinkte. Den geschwungenen Schriftzug des ehemaligen Moulin-Rouge-Hotelkasinos, in dem Politiker am Blackjack-Tisch verabredeten, die Rassentrennung in Las Vegas abzuschaffen – vorher waren schwarze Entertainer wie Sammy Davis Junior nach ihren Auftritten vom Strip verjagt worden. Oder die futuristisch-zackigen Lettern des Stardust-Kasinos, die in einen rosa Atompilz montiert waren: In den fünfziger Jahren erhob das Hotel die Nukleartests in der Wüste zur Touristenattraktion und ließ die „Miss Atomic Bomb“ wählen.
Auf dem Neonfriedhof wird die Geschichte der Stadt greifbar. Vielleicht fühlt Las Vegas sich deswegen hier so real an. Gleichzeitig führt der Verfall vor: Die Stadt ist besessen vom Neuen.
Möglicherweise ist sie auch deshalb so schwer zu fassen. Wer es trotzdem versuchen will, geht am besten gleich dorthin, wo sie besonders künstlich ist – und daher ganz bei sich selbst. Ich habe mich am Schluss bei der pinkfarbenen Ikone schlechthin eingemietet: Barbie. Im 26. Stock des Palms Casino Resort westlich des Strip hat man zum 50. Geburtstag der Puppe eine „Hot Pink Suite“ gestaltet. Ich trete ein – und bin sofort knallwach. Die schrillen Kontraste von Pink, Türkis und Lila auf 220 Quadratmetern sind ein Schock. Den Kamin flankieren zwei pinkfarbene Bakelitpudel. Auf dem lackschwarzen Plastiksofa schreien mich pinkfarbene Kissen an. Und neben dem Bett prangen 119 Barbies in einem garagentorgroßen Schaukasten an der Wand – aufgespießt wie Schmetterlinge.
Schweinchenrosa beruhigt, wollen Wissenschaftler herausgefunden haben. Dieser aggressive Farbton aber kratzt auf. Den ganzen Abend über warte ich darauf, dass etwas passiert. Dass Paris Hilton an der Tür klingelt. Die falschen Polizistinnen vom Strip. Oder diese Popdiva, die hier kürzlich übernachtete. Der PR-Direktor nannte ihren Namen, den ich aber gleich wieder vergaß. Dank ihrer Berühmtheit bekam sie Geld fürs Gastsein. Natürlich: Dollargrün wäre auch eine Farbe für Las Vegas. Ohne Geld geschieht hier gar nichts.
Irgendwann gehe ich in die Riesendusche und versuche mich einfach selbst an der Stripperstange, die dort montiert ist. Gar nicht so einfach, diese Reptilientänze. Als ich nass und nackt fast hinschlage, wechsele ich in den Jacuzzi und genehmige mir im Gebrodel kalifornischen Rosésekt auf Eis. Dazu schallt der Stoner Rock von Monster Magnet aus der Stereoanlage. Die bedröhnte Stimme von Sänger Dave Wyndorf ist wie geschaffen für den Aberwitz von Las Vegas: Come on down to the hotel, baby / I can be what you want me to be / you can choke on your own medication / I can watch myself on TV.
Hinter dem Fenster speit der Strip sein Licht. Darüber schweben fast im Minutentakt Flugzeuge mit Neuankömmlingen ein – Flugzeuge voller pinkfarbener Träume. Die meisten werden zerplatzen wie die Fontänen vor dem City Center. Aber das macht nichts. Sie werden selbst dann fantastisch aussehen.