Weltmeister im Hochstapeln
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Weltmeister im Hochstapeln

DIE ZEIT, Nr. 44/2014

Weltmeister im Hochstapeln

 

Alle zwei Jahre treten Kataloniens beste „castellers“ in Tarragona gegeneinander an. Unser Autor hat sich einem Team der menschlichen Turmbauer angeschlossen – und mit ihm triumphiert.

Menschen können zu Beton werden. Es müssen nur viele sein. Und sie müssen so gepresst stehen wie in diesem Block um mich herum. Die Schultern staffeln sich, als seien sie eins, die Gesichter liegen im jeweils nächsten Nacken wie in einem Kopfkissen. Hinten spüre ich das Schnaufen von Jordi. Vorn kitzelt das Rasierwasser von Enric. Der Geruch von Schweiß und Erschöpfung dagegen kommt von allen Seiten. Und von allen Seiten kommen auch die Männer und Frauen, die nun über uns hinüberstaken, auf unsere Schultern steigen, um damit für andere den Weg nach weiter oben zu bahnen. Während in der Arena der Jubel losbrandet, ist es um mich herum dunkel geworden. Immerhin stehe ich fast im Zentrum dieses riesigen Fußvolks, aus dem nun ein Turm wächst – ein Turm aus Menschen in grünen Hemden. Mein Atem wird flacher. Mein Kreislauf schwächelt. Und mein Rücken schmerzt von gut drei Zentnern Gewicht. Doch das Schlimmste kommt erst noch. Aber der Reihe nach.

Ich bin in den Süden Kataloniens gekommen, um mir einen einzigartigen Wettbewerb anzuschauen und, mit etwas Glück, auch daran teilzunehmen. In Tarragona, der alten Römerstadt an der Costa Dorada, findet alle zwei Jahre im Oktober die Meisterschaft der castellers statt. Die castells, menschliche Türme, sind eine katalanische Spezialität. Schon seit gut 200 Jahren, als drei Mann hohe Säulen den Höhepunkt von Tänzen und Prozessionen bildeten, ist die Disziplin bekannt – und hat sich irgendwann zu einer Art Volkssport verselbstständigt. Heute gibt es zwischen den Pyrenäen und dem Ebrodelta kaum eine Stadt ohne mindestens einen Verein, der sich dem Turmbau widmet. 73 solcher Mannschaften oder colles existieren mittlerweile. Sie pflegen eine Leidenschaft, in der Zusammenhalt alles ist und die auch deshalb oft als Sinnbild für Kataloniens nationales Selbstbewusstsein angesehen wird.

Zwischen April und November treten die Vereine an jedem Wochenende auf Festen auf. Auch dort geht es ehrgeizig zur Sache. Doch zum Sport mit Punkten, Sieger und Trophäe wird die Welt der castellers nur einmal alle zwei Jahre beim Wettbewerb in Tarragona. Der geht dieses Jahr in die 25. Runde und gilt katalonienweit als Weltmeisterschaft. Denn castellers gibt es, nach internationalen Werbetouren großer colles, inzwischen auch in anderen Ländern wie Mexiko, Indien oder China. Doch die können sich keineswegs mit den hiesigen Teams messen und sich wohl im Zweifelsfall auch keinen Massenausflug nach Tarragona leisten. So kommen die zwölf Teams des Wettbewerbs sämtlich aus Städten innerhalb der Landesgrenzen.

Da ich eine Chance wittere, relativ umstandslos Weltmeister zu werden, habe ich die colla von Vilafranca gefragt, ob ich sie kurz vor dem Wettbewerb besuchen und dann in Tarragona mitmachen kann. Schließlich hat sie den Ruf, besonders weltoffen zu sein, und ist so etwas wie der FC Barcelona des Turmbaus: 2012 hat Vilafranca den Wettbewerb zum neunten Mal gewonnen – das sechste Mal in Folge.

Die Hauptstadt des Cavagebietes Penedès macht an sich keinen weltmeisterlichen Eindruck. Der Charme der zimtfarben umbauten Gassen im Zentrum wird neutralisiert von den immer gleichen Modekettenschaufenstern. An Marktständen gibt es Töpfe und Klobürsten zu kaufen, ein paar Marokkanerinnen wühlen in Bergen von Jogginghosen. Auf der Plaça Penedès klacken die Skateboards von Halbwüchsigen, sitzen Menschen auf Restaurantterrassen und kämpfen mit ihren Zeitungen gegen den Wind.

Hier treffe ich Eloi Miralles. Der ältere Herr im rosafarbenen Pullover ist Mitglied der castellers de Vilafranca und Autor eines Standardwerks über die Türme. Er hat unzählige Kritiken über castell-Feste verfasst und wird in Tarragona als einer von sieben Juroren wirken. Der Experte begrüßt mich mit beidhändigem Handschlag. „Du kommst zur richtigen Zeit, die castells waren nie besser. Wir schreiben gerade Geschichte“, schwärmt er, und seine Augen blitzen hinter der silberfarbenen Designerbrille.

Auf unserem Umweg zum Vereinsheim der castellers erzählt Eloi vom Goldenen Zeitalter der Turmbauten gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Man wisse, was die damaligen Vereine auf die Beine stellten, sei aber ständig beim Versuch gescheitert, die schwierigen Varianten neu hinzubekommen. Doch vor Kurzem habe eine neue Ära begonnen. Immer wieder legt Eloi väterlich seine Hand auf meinen Unterarm und lächelt mich stolz an. Wir schreiten Plaketten ab, die an Hausfassaden prangen und Zeugnis ablegen von castells, die der Truppe aus Vilafranca hier erstmals öffentlich gelungen sind. Auch vor dem Rathaus bleiben wir stehen, wo der Verein 1998 den tres de deu amb folre i manilles hochzog, einen gut 15 Meter hohen Menschenwolkenkratzer mit zehn Stockwerken.

Das Vereinsheim ist ein neugotischer Bau mit einer Balustrade, die wie gemacht ist fürs Herunterwinken. Der Weg zur Trainingshalle im Innenhof führt an einer Bar vorbei, in der man gerade mit dem Bierzapfen kaum nachkommt – Mäßigung scheint keine Rolle zu spielen vor der Meisterschaft. Der Wettbewerb lockt die 700 Vereinsmitglieder fast vollzählig an. Sonst trainieren hier dreimal pro Woche nur die etwa 250 Aktiven, die für größere castells nötig sind.

In der Halle steht der erste Turm des Abschlusstrainings an. Ich habe mir noch keinen Überblick verschafft, da schiebt mich der bärtige Pere Almirall schon in die pinya. So heißt das Fundament, das für die Stabilität des Menschenstapels wichtig ist – unter anderem. „Eine kompakte pinya sorgt auch dafür, dass die castellers nicht auf den Boden fallen, wenn der Turm einstürzt“, sagt der von galligem Ehrgeiz ganz durchdrungene Pere, der eine Art Teamchef ist. Bitte was? Er stürzt ein? Über uns? „Klar. Bei hohen Türmen passiert das oft“, sagt er und läuft mit seinem Plan der Teilnehmerpositionen weiter. Während Pere auf die castellers eingestikuliert, wirkt er wie ein ruppiger Fußballtrainer alter Schule.

In der pinya, dem „Zapfen“, mache ich immer wieder, was Pere mir eigentlich wegen der Sturzgefahr verboten hat: Ich hebe mein Gesicht aus dem Schulterwald und linse in die Mitte, zum Turm. Dort zittern bärenstarke Arme wie unter Strom, Zähne werden gefletscht, Gesichter sind Fratzen der Anstrengung. Das ganze Gebäude aus Muskelkraft und Gleichgewichtssinn bebt und wankt und scheint nie völlig unter Kontrolle. Man spürt: Der kleinste Fehler genügt, und alles bricht zusammen.

Im Zentrum des flüchtigen Kunstwerks stehen die baixos: vier Schwergewichte, auf deren breiten Schultern sich der tronc, der Stamm der Konstruktion, Etage für Etage nach oben arbeitet. Über 300 Kilo lasten auf jedem von ihnen. Auf den Stockwerken darüber balancieren je ein bis fünf Leute, die umso zarter gebaut sind, je höher sie stehen. Häufig sind es Frauen, die vor 30 Jahren noch in keiner colla mittun durften. Um dem Stamm noch mehr Stabilität zu verleihen, stehen bei großen Türmen über der pinya zusätzlich folres oder manilles, ein bis zwei Etagen Hilfskräfte, um den eigentlichen Stamm herum. Und ganz oben befindet sich die pom de dalt, die Kuppel, auf der fünf- bis elfjährige Knirpse das castell krönen.

Ist das der Schlüssel zum Verständnis des Volkssports: dass Kraftpakete und Hänflinge, Frauen und Männer, Alte, Junge und ganz Kleine hier ihren Platz haben? „So ist es. Jeder ist gleich wichtig. Kameradschaft macht überall den Erfolg aus, aber nirgends kann man sie schöner erleben als bei den castellers“, sagt Josep Cabré. Der Präsident empfängt mich in seinem Büro samt Kuppeldecke und Fahnenständer. Es wirkt wie das Amtszimmer eines Caudillos und will so gar nicht passen zu dem jovialen 50-Jährigen mit der Meckifrisur, der im wirklichen Leben Buchhalter ist. Und wie sehr hängt der Sport für ihn mit dem katalanischen Patriotismus zusammen? „Ach, wir wollen die Politik eher draußen halten. Die spaltet nur“, winkt Josep lächelnd ab und schenkt lieber noch etwas Weißwein nach.

Es wird spät an diesem Abend: Das Training endet am frühen Morgen bei Freibier. Man trinkt und lacht, stempelt sich die Wangen mit Kussmündern und steht fast so eng zusammen wie in der pinya. Viele Unterhaltungen enden mit einer Umarmung. Und als die blonde Montse merkt, dass meiner grünen Montur noch das rote Tuch fehlt, bindet sie das ihre vom Handgelenk und gibt es mir.

Am Sonntagmorgen bricht eine Armada von Reisebussen mit 600 Grünhemden nach Tarragona auf. Neben mir sitzt Michael aus England. Er kommt seit sieben Jahren während der castell- Saison jedes Wochenende von London nach Vilafranca, um keinen einzigen Auftritt seiner colla zu verpassen. Er sei süchtig nach dieser innigen Solidarität, sagt der Kahlkopf mit den vielen Lachfalten. Katalanisch oder Spanisch hat er deswegen nicht gelernt.

In Tarragona ziehen wir als Letzte wie Gladiatoren zu heroisch schmetternden Klängen in die Arena ein. Als der Marsch mit einem langen, vor Dringlichkeit stehen bleibenden Ton endet, wird es laut: Hinter uns tobt eine grüne Wand von Vilafranca-Fans auf der Tribüne. Bevor es losgeht, mische ich mich kurz unter sie und schaue auf den Turnierplatz. Er sieht von oben aus wie ein Pow-Wow Tausender Indianer in ihren Stammesfarben. Zur katalanischen Nationalhymne bin ich wieder unter meinen Mitstreitern. Alle singen inbrünstig und heben die Rechte. Auch Josep schaut ergriffen, als auf den Rängen Transparente entrollt werden, die Kataloniens Unabhängigkeit fordern. So einfach lässt sich die Politik also doch nicht draußen halten.

Jede der zwölf mitstreitenden colles muss nun vier oder fünf castells errichten, von denen nur die besten drei zählen. Die meisten Punkte gibt es, wenn die Formation nicht nur auf-, sondern auch komplett wieder abgebaut werden kann. Stürzt sie ein, bevor ein Kind auf der Spitze den Arm zum Gruß erhebt, gibt es überhaupt keinen Punkt.

Turm um Turm wächst nun in den Arenahimmel. Es sind rote und blaue, braune und gelbe, violette und rosafarbene Monumente von titanischer Schönheit. Achtstöckig oder neunstöckig, mit zwei Spitzen oder einer, mit schlanken Pfeilern aus einzelnen castellers oder mit gleich fünf Menschen pro Etage. Je schwieriger die Türme werden, desto häufiger stürzen sie ein, oft im Stil fachmännisch gesprengter Hochhäuser. Menschen wirbeln dann wie Stoffpuppen durch die Luft. Fer llenya sagen sie dazu, Kleinholz machen. Am Ende wird das Rote Kreuz 182 Einsätze zählen. Zwei Knochenbrüche sind darunter. Die Kinder aus den colles müssen nicht ohne Grund Helme tragen.

Bevor wir mit einem quatre de nou amb folre i agulla beginnen, einem Turm, der bei seinem Abbau einen Obelisken aus einzelnen castellers stehen lässt, stachelt uns Pere lauthals auf. Nie hätte ich gedacht, dass die verschliffenen Laute des Katalanischen zu so etwas gut sind. Ich verstehe kein Wort von seinem rhetorischen Exzess, skandiere aber trotzdem mit den anderen zurück.

Alles läuft prächtig, ein Gegner nach dem anderen bleibt auf der Strecke. Aber nicht die Truppe aus Valls, einem nahen Städtchen, in dem die castell-Kultur ihren Anfang nahm. Unser größter Konkurrent ist immer ein paar Punkte voraus. Am Schluss müssen wir deshalb auf den größten Trumpf wetten. Nur wenn Vilafranca der Aufbau des legendären Zehnstöckers gelingt, wird es was mit der Titelverteidigung. Hoffentlich geht uns vorher nicht die Puste aus: Seit sechs Stunden stehen wir durchgeschwitzt und schmerzenssteif in der Arena und gähnen nur noch im Mief, aus dem jeder Sauerstoff herausgeatmet zu sein scheint.

Ausgerechnet jetzt müssen wir unseren riskantesten Turm zeigen. Einen Turm, den Vilafranca zwar seit 16 Jahren im Programm hat, aber nur zweimal abbauen konnte. Immerhin: Diesmal würde der Aufbau allein schon genug Punkte bringen für den Sieg. In einem Anfall von Chuzpe reihe ich mich so tief in die pinya ein wie noch nie. Durch die immer düsterer werdende Höhle wallt ein Grunzen und Stöhnen wie in einem Koben wilder Tiere. Immerhin hat jeder von uns zwei Kerle auf den Schultern. Draußen setzen nun die nölenden, streng kodifizierten Klänge von Schnabelflöten ein. Sie ertönen, wenn die castellers für die vierte Etage aufsteigen, erst dann wird die Konstruktion auch in die Wertung aufgenommen. Außerdem sagen die Flöten uns Leidensartisten im Dunkel, wie weit der Turm schon fortgeschritten ist. Die Musik wird immer irrer, dann geht sie in der Raserei auf den Rängen unter. Keine Frage: Unser Steppke grüßt jetzt von der Spitze – der Turm ist aufgebaut!

Doch schon einen Moment später geschieht es. Das Schlimmste. Das, was eigentlich immer nur den anderen passiert, aber niemals uns: Der Turm, die Siegessäule aus Fleisch und Blut, bricht zusammen. Ich höre dumpfe Schläge wie von einem Teppichklopfer. Dann jagt ein scharfer Schmerz durch meine linke Schulter, wird es um mich herum stockfinster. Mein Kopf, mein Hals, meine Arme – nichts davon lässt sich auch nur einen Zentimeter bewegen. Fünf, sechs oder sieben Körper müssen über mir liegen. Ich kann kaum noch atmen. Und ich weiß: Es dauert Minuten, bis ich wieder frei bin.

Sie kommen mir vor wie eine Stunde. Dann wird es hell. Augenblicklich fährt mir das pralle Leben in jede Haarwurzel. Es ist vollbracht. Sieg für Vilafranca! Kurz darauf lacht Pere zum ersten Mal – als ihm der Ministerpräsident die Trophäe überreicht. Die restlichen Teammitglieder umarmen einander nach Kräften und darüber hinaus. Castells, wahrhaftig, sind viel mehr als Sport; sie sind große Riten zur Feier von Willenskraft und Gemeinschaftsgeist. Und wenn sie ein Triumph wie jener von Tarragona krönt, werden sie zu einer Kommunion mit Gänsehaut, die man nie mehr vergisst.

Viele Stunden und herrlich übermütig schmeckende Gläser Cava später wache ich nachts schweißgebadet auf. Ich will um mich schlagen. Doch dann merke ich, dass ich nicht in der pinya stecke, sondern allein in meinem Hotelzimmer bin. Die Beklemmung verfliegt prompt. Alles andere wäre ja auch albern. Ich bin schließlich Weltmeister.