20 Feb Auf jeden Fall!
DIE ZEIT, Nr. 35/2008
Auf jeden Fall!
Allgäuer Bergführer nehmen jetzt auch Kletterlaien zum sicheren Biwakieren mit in die Felswand. Wolf Alexander Hanisch war ihr erster Übernachtungsgast
Jetzt mal halblang, Freunde. Das ist nicht euer Ernst. Nicht diese Gefängnispritsche da unten. Dieser Segeltuchstreifen in der lotrechten Felswand, 20 Meter unter meinen Schuhsohlen und 400 Meter über dem Tal! Doch, genau das ist er. Unser voller Ernst. Mit jedem Ruck scheinen Reini und Wolfgang mir das zurufen zu wollen. Die beiden stehen auf dem Gipfel des Falkensteins und lassen mich am Seil hinunter. Gerade sind sie aus meinem Blickfeld verschwunden, und ich hocke in einem Hüftgurt über dem Nichts. Nach und nach wuchte ich mich mit den Oberschenkeln in die Tiefe. Wumm. Tak. Wumm. Tak. Schau auf deine Hände, deine Beine, glotz nicht in den Abgrund, konzentrier dich! Immer atemloser peitscht eine innere Stimme auf mich ein. Dann sehe ich Tom. Mit seinem pflaumenblauen Helm hängt er unter mir in der Wand und dirigiert mich auf diesen fliegenden Teppich. Ein grotesk dünnes Stückchen Nylon, das in einen rechteckigen Alurahmen gespannt ist. Wer darauf sitzt und hinunterfällt, fliegt 140 Meter durch die Luft, bis er zum ersten Mal aufschlägt. Doch Tom und ich wollen nicht nur sitzen. Wir wollen darauf schlafen. Das Ding ist heute Nacht unser Bett.
Tom fragt, ob ich außen liegen will. Ich versuche, cool zu lächeln
Tom Osterried, Reini Blöchl und Wolfgang Mayr von der Ostallgäuer Bergführervereinigung Altissimo betreiben in Pfronten einen Waldseilgarten, in dem man auf verschieden hohen Parcours zwischen Tannen balanciert. Seit einiger Zeit bieten sie auch Übernachtungen in Baumkronen an. Dazu verwenden die staatlich geprüften Bergführer Hängebiwaks, die nun auch dort zum Einsatz kommen sollen, wo sie eigentlich hingehören: an Steilwänden im Gebirge. Die zusammensteckbaren Pritschen heißen Portaledges und zählen sonst zur Ausrüstung von Big-Wall-Kletterern. In der Königsdisziplin des Klettersports durchsteigt man rund 1.000 Meter hohe Wände wie die Granitmauern des El Capitan im kalifornischen Yosemite-Nationalpark oder die des patagonischen Fitz Roy. Die Monolithen ragen in den Himmel wie aufgestellte Autobahnen. Sie bieten keinerlei Felsvorsprünge oder Bänke. Übernachtungen sind darum nur in Portaledges möglich. Einige Big-Wall-Routen sind so gewaltig, dass Seilschaften die vertikalen Steinwüsten fast drei Wochen lang nicht verlassen und später den aufrechten Gang erst wieder lernen müssen. Mir reicht eine einzige Nacht in der Senkrechten. Bei Tom, Reini und Wolfgang kann man sie buchen – auch als Kletterlaie. Ich bin ihr erster Kunde.
Als ich meinen Fuß auf das Portaledge setze, zucke ich zurück. Es ist ein wenig, als trete man auf eine schwimmende Luftmatratze. Stabil wird das schwebende Feldbett erst, als Tom und ich mit unserem ganzen Gewicht nachrücken. Mein Kopf fühlt sich an wie unter Hypnose. Dennoch bin ich hellwach. Wir klinken die Karabiner unserer Rucksäcke und Hüftgurte in einen der vier Haken, die zehn Zentimeter tief im Fels stecken. Sie sind durch Seile miteinander verbunden, das sichert uns mehrfach ab, sollte ein Haken herausbrechen. Aber muss denn unser Bett von nur einem einzigen getragen werden? Von einem Klebehaken, der so klein ist, dass man ihn fast verschlucken könnte? „Der trägt locker ein Auto“, beschwichtigt Tom. „Zweieinhalb Tonnen, kein Problem.“ Ich zerre ein bisschen an einem der vier Spanngurte, die von den Enden des Alugestänges zum Haken führen. „Total sicher“, sagt Tom.
Ich glaube es ja. Aber was nützt das, wenn die Übermacht der Tiefe alle Sehgewohnheiten verdreht und das Gehirn zum Narren hält? Wenn die Falken plötzlich 100 Meter unter einem durch die Luft segeln, die Baumspitzen nahe der Wand wie grüne Bajonette zu uns hinaufdrohen und der Atem flach bleibt? Nur mühsam kann ich die Frage verscheuchen, was ich hier eigentlich verloren habe.
Später ordnen wir unsere Schlafsäcke und stellen uns dabei an wie Hunde, die ihre Körbchen für die Nacht zurechtscharren. Das zwei Meter lange Portaledge ist nur 1,30 Meter breit. Als Tom sich hinkniet und in seinem Rucksack wühlt, neigt es sich ächzend zur Seite. Dann fragt er mich, ob ich außen schlafen will. Mein Versuch, cool zu lächeln, misslingt. Ich wähle den Platz an der Wand.
Stefan Glowacz fällt mir ein. Die deutsche Kletterikone empfindet die Stunden im Hängebiwak als die schlimmsten beim Big-Wall-Klettern. Das kraftraubende Nachziehen der Materialsäcke, die ungeheure Konzentration auf die Wand, in der jeder Griff ein Risiko sei – tagsüber vertreibe das die störenden Gedanken, sagt der Extremsportler, der gerade von einer Expedition aus der Arktis zurückgekehrt ist. Nachts aber falle die Anspannung ab, und man merke, in welch menschenfeindliche Region man vorgedrungen sei.
Was sich zu unseren Füßen wie auf einer Ansichtskarte ausbreitet, ist jedoch nicht Alaska oder die Wildnis von Baffin Island. Es ist die possierliche Kulturlandschaft des Vilstals, in dessen Mitte die Grenze zu Österreich verläuft. Wir schauen auf sattgrüne Wiesen, dunkle Fichtenhaine und zinnoberrote Hausdächer im letzten Sonnenlicht. Manchmal weht der Wind das leise Bimmeln von Kuhglocken herauf. Und auf der anderen Seite verstellt nur ein Waldrücken den Blick auf das Schloss Neuschwanstein.
Tom zeigt auf die Nordostwand des Aggensteins schräg gegenüber. Ein Prunkstück von einem Berg. So wuchtig und klassisch gezeichnet, dass man seine Umrisse im ganzen Land auf Käseschachteln findet. In der Wand gibt es drei Kletterrouten, erzählt Tom. Eine davon hat er angelegt. Morbus Flattermann nennt er sie. Weil der Stein so brüchig ist und Tom die Haken so weit auseinander gesetzt hat, dass man zwischen ihnen Stürze ins Seil von gut zehn Metern riskiert. Tom zwinkert mir zu und grinst. Dann schiebt er sich den Helm in den Nacken und lässt seine Füße über dem Abgrund baumeln.
Als Bergprofi hat Tom fast alles bestiegen, was Rang und Namen hat. Von der Eiger-Nordwand bis zum Siebentausender im Pamir-Gebirge. Und das sieht man. Sonne und Wind haben ihm scharfe Falten um die Augen geschnitzt. Aus ihnen schaut er so fest und entschlossen, dass man meint, der Teufel persönlich könnte diesem Blick nicht standhalten. Wenn Tom redet, tut er das im Allgäuer Dialekt, der hart klingt, archaisch und unerschütterlich. Könnten die Felswände hier sprechen – sie würden sich wahrscheinlich anhören wie er. Es wundert mich nicht, dass ich mir auf einmal keine größere Autorität vorstellen kann als einen Bergführer. Als einen Kerl wie Tom, der Pfadfinder und Lebensversicherung in einem ist. Ich schaue ihn an und merke, wie mein Puls sich beruhigt.
Ich fühle mich jetzt großartig. Geradezu erhaben. In unserem Adlerhorst wird mir klar, warum man von Hochstimmung spricht im Gegensatz zur Niedergeschlagenheit. Warum man den einen obenauf nennt und den anderen heruntergekommen. Uns alle zerrt die Schwerkraft zu Boden. Darum ist das Oben unser Ideal. Tatsächlich glaube ich auf dem Portaledge, der Gravitation ein Schnippchen schlagen zu können.
Wumm. Tak. Wumm. Tak. Ich hebe den Blick und sehe Reini am Seil. Er bringt die Brotzeit. Sollen doch Profis wie Glowacz im Hängebiwak Trockenfutter mit rationiertem Wasser hinunterwürgen – Tom und ich mampfen Hirschlandjäger, köstlichen Bergkäse und die Wurst von einer der 120 Gämsen, die man in der Pfrontner Gegend jährlich zur Strecke bringt. Völlig unmöglich, dass irgendetwas irgendwo auf der Welt jetzt besser schmeckt als das hier. Während Tom und ich die Bügelverschlüsse unserer Bierflaschen ploppen lassen, taucht die Abendsonne die Zugspitze vis à vis in ein so furioses Rot, dass es selbst dem sentimentalsten Bergfilmer zu kitschig wäre.
Der Schlaf kommt spät mit absonderlichen, unsteten Träumen
Bald darauf funkeln die Lichter von Vils unter uns, als wären wir Piloten bei einem Landeanflug. Tom und ich reden lange. Über das Bergsteigen und warum man es tut. Genau wisse er es selber nicht, sagt Tom. Der Alpinismus sei wohl eine Sucht. Eine Mission, zu der man sich berufen fühle, ohne zu wissen, warum. „Die Berge sind da, also muss ich hinauf“, sagt Tom. Dann zeigt er wieder in eine Richtung. Dort hinten, nur ein paar Kilometer weiter, sei 1970 sein Vater bei einem Lawinenunglück ums Leben gekommen. Da war Tom fünf Jahre alt. Als Jugendlicher ging er später selbst in die Berge, um dort neue Wege auf die Gipfel zu finden. „Je waghalsiger, desto besser“, sagt Tom. Seine Mutter habe damals Höllenqualen gelitten, erzählen Freunde.
Es ist schon nach Mitternacht, als wir uns in den Schlafsäcken vergraben und das Moskitonetz um unser Portaledge ziehen. Vielleicht macht es ja unser aberwitziges Lager etwas heimeliger. Aber es klappt nicht. Reglos liege ich da und höre dem Wind zu. Manchmal rüttelt er an unserer Liege, als ob er uns zeigen wolle, wer hier oben das Sagen hat. Dann ist es wieder totenstill. Die Gedanken flattern durch meinen Kopf. Jedes Mal, wenn ich einen erhascht habe, schweife ich sofort wieder ab. Dann lausche ich dem Geschrei kämpfenden Getiers am Wandfuß oder stelle mir vor, wie unsere Körper die Plane dehnen und darunter nichts ist als Luft. Sehr viel Luft.
Der Schlaf kommt spät. Er ist unruhig und dauert nicht länger als zwei, drei Stunden. Mit absonderlichen, unsteten Träumen, die alle im Wind zu gaukeln scheinen. Tom geht es kaum besser. Selbst ihn verlässt nie das Gefühl, sich in eine Dimension begeben zu haben, die nicht vorgesehen ist für uns. Der Mensch ist kein Vogel.
Wir erwachen im müden Rosa des Morgenlichts. Stumm nicken wir uns zu und packen unsere Rucksäcke. Wir wollen schnell zum Kaffee, den man auf der anderen Seite des Bergs in einem Hotel bekommen kann. Aber dafür muss Tom mich erst abseilen. Sofort schießt wieder Nervosität in alle Glieder. Viel zu übernächtigt, um zu wissen, was ich tue, halte ich Tom mein Wirrwarr von Seilen und Karabinern hin. Ich komme mir vor wie ein Kind, das von seiner Mutter angekleidet wird. Dann frage ich dreimal, ob alles stimmt, und tauche ab. Nach ein paar Metern hüpfe ich über einen Überhang und gleite frei wie Spiderman durch die Luft.
Unten wartet schon Reini und strahlt. Sein erster Hängebiwak-Kunde hat wieder festen Boden unter den Füßen. Als er meine aufgerissenen Augen sieht, spendiert er mir eine alte Bergsteigerweisheit: „Der Berg gehört dir erst, wenn du wieder unten bist. Vorher gehörst du ihm.“ Stimmt, denke ich und schaue hinauf zum Bett, das jetzt streichholzschachtelgroß in der Wand klebt. Könnte von mir sein, Reini.