20 Feb Bansko brummt
DIE ZEIT, Nr. 2/2006
Bansko brummt
Die Engländer sind schon da, die Russen auch. Fast über Nacht ist die bulgarische Stadt im Pirin-Gebirge zum internationalen Wintersportort aufgestiegen
Was der alte Dimitar Spasev von dem Trubel gehalten hätte, weiß man nicht. Wahrscheinlich hätte er wieder geschimpft. So wie immer in seinen letzten Jahren. Über die Hotelkästen, über den Krach und über die Baukräne. Über die Zementmischer und die protzigen Geländewagen, die jetzt überall die Gehwege verstellen. Veränderungen seien ihm halt ein Gräuel gewesen, sagt seine Witwe mit einem raffinierten Goldzahnlächeln. Und bestimmt hätte Dimitar auch für ihre neue Einnahmequelle wenig übrig gehabt. Die Alte mit dem riesigen Kopftuch vermietet jetzt das ehemalige Schlafzimmer an Touristen. 40 Euro pro Woche bekommt sie dafür – mehr Rente erhielt ihr Mann in einem ganzen Monat nicht. Und fast sieht es so aus, als hätte Dimitar es geahnt. Mit argwöhnischem Ernst stiert der Greis auf die Umtriebe der neuen Zeit. Als Fotokopie. Sie steckt in einer Plastikhülle und hängt an der Haustür der Familie Spasev. Dort reiht sich Dimitars Konterfei ein in die endlose Galerie von frischen und verblichenen Todesmeldungen, die nahezu an jedem Tor und an jeder Mauer des bulgarischen Gebirgsstädtchens Bansko zu finden sind. Es ist, als wollten diese Tradition und Dimitar daran erinnern, dass das letzte Hemd keine Taschen hat. Doch darüber denkt in Bansko keiner nach. Nicht, seitdem das Goldfieber den Ort gepackt hat.
Bulgarien ist ein Land auf der Rückseite Europas. Nachrichten von dort schaffen es selten in die Zeitungen. Doch Bansko boomt dagegen an – mit einer aufsehenerregenden Karriere: In nur zwei Jahren hat es die 10000-Einwohner-Stadt geschafft, die alteingesessenen bulgarischen Skimetropolen Borovez und Pamporovo hinter sich zu lassen. Heute gilt Bansko als der bedeutendste Wintersportort Osteuropas.
Bis 2003 gab es in dem zweieinhalb Autostunden südlich von Sofia gelegenen Ort im Pirin-Gebirge gerade einmal einen quietschenden Sessellift aus den achtziger Jahren, eine jeglichen Komforts unverdächtige Skilodge und ein paar Kurhotels mit dem Muff aus kommunistischer Zeit. Doch dann stampften Sofioter Investoren eine Skiarena aus den Flanken des über 2700 Meter hohen Hausbergs Todorka, der sich mit seiner mächtigen Kegelform wie ein dicker Geldsack über dem Ort erhebt. Für 30 Millionen Euro entstanden 22 weitere Lifte, die zu 17 Abfahrten führen. Von den insgesamt 65 Kilometern Pisten misst die längste 16 Kilometer. Es gibt Dutzende von Skikanonen, eine Flutlichtanlage und natürlich die üblichen Späße wie Fun-Park oder Halfpipe. Der nagelneue Skiberg ist der Motor für Banskos Boom.
Vor allem englische Reiseveranstalter setzen auf Bansko. Auch die deutsche TUI bietet Pauschalreisen an. Doch Urlauber aus Deutschland sieht man wenig. Eher Skandinavier und klamme Griechen, die in privaten Quartieren wie jener der Familie Spasev unterkommen. Die erste Nation am Ort aber stellen die Briten. Sie ziehen Bulgarien mittlerweile Andorra als günstige Skidestination vor. Nicht weit hinter ihnen rangieren die Russen – und fallen mehr als alle anderen ins Auge. Manche von ihnen sehen aus, als habe man eine Prämie für die bizarrste Demonstration von Reichtum ausgelobt. In den gläsernen Skibars an der Mittelstation sieht man Männer mit Goldschmuck wie aus einem Pharaonengrab und Champagner nippende Frauen in Pelzjacken von obszöner Opulenz. Ihre toupierten Haarberge leuchten wie blondierte Zuckerwatte. Hinter den Theken saugen glutäugige Kellnerinnen an ihren Zigaretten und wiegen die Hüften im Takt bulgarischer HipHop-Songs. Die Russen seien gern gesehene Gäste, sagen sie. Niemand werfe hemmungsloser mit dem Geld um sich.
Allein im ersten Halbjahr 2005 haben mehr als 2,7 Millionen ausländische Touristen 705 Millionen Euro in Bansko ausgegeben. Das sei eine Steigerung von rund zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr, schwärmt Tourismusdirektor Blagoy Ragin. Von den Bulgaren können sich den Ort nur noch die Wendegewinnler und jene Million Abwanderer leisten, die in den neunziger Jahren ihre Heimat verließ. Die 140 Euro, die ein Skipass für sechs Tage kostet, sind für sie – und die Ausländer – lächerlich günstig. Das Gros ihrer Landsleute aber müsste für diesen Spaß fast anderthalb Monate lang arbeiten.
Die Bulgaren behaupten, ihr Land habe eine Würde, die darin liege, sich nicht mit anderen zu messen. Wer Bansko besucht, kann jedoch nicht anders, als den Ort mit seiner Konkurrenz in den Alpen zu vergleichen. Und diese Gegenüberstellung bereitet großes Vergnügen. Denn Bansko ist kein zur Skikirmes aufgeblasenes Kaff, sondern gehört zu den neun bulgarischen Weltkulturerbestätten der Unesco. Man geht über Pflaster, dessen Kopfsteine so groß sind, als wären sie die Panzer von Riesenschildkröten. In der Luft liegt ein heimeliger Geruch von Kohle- und Holzfeuern. Gassen und schmale Straßen winden sich durch einen Irrgarten aus trutzburgenhaften Festungshäusern aus dem 18. und 19.Jahrhundert. Viele besitzen Wehrmauern, in die Schießscharten eingelassen sind. Durch sie schoss man auf die Türken, die das Land jahrhundertelang besetzt hielten. Die Häuser sind im Stil der „Nationalen Wiedergeburt“ errichtet, jener lachhaft kurzen Phase zwischen 1762 und 1878, in der, nach landläufiger Meinung, die ganze Geistesgeschichte, das ganze große Nationalgefühl des Landes wie bei einer Kernfusion zusammengeschmiedet worden ist. Bansko gilt als eines der wichtigsten Zentren dieser bulgarischen Renaissance. Und dem vielleicht gewichtigsten Mann hat man auf dem zentralen Platz ein scheußliches Denkmal errichtet. Der Banskoer Mönch Paisij Chilendarski hatte als Erster die Geschichte der Bulgaren verfasst und so ihren Patriotismus beflügelt. Wer die vielen Gasthäuser in Reichweite des Gedenksteins sieht, ist überzeugt, dass Bansko gerade eine neue Wiedergeburt durchlebt. Dieses Mal eine ökonomische.
Die rund hundert Tavernen von Bansko heißen Mehanas und haben nichts gemein mit den Kitsch- und Krawallkaschemmen, wie man sie überall in Tirol findet. Auch nicht die Mehana Baryakowa. Durch die Butzenscheiben ihrer winzigen Fenster glimmt das Licht wie in einem Werbespot für Glühwein. Kaum hat man sich unter dem wie für Kobolde gezimmerten Türrahmen hinweggeduckt, fährt man spontan aus der Jacke. Irgendein Instinkt meldet unverzüglich: Hier ist man gut zu dir. Zwiebeln und Chilischoten baumeln von rußgeschwärzten Balken, bunte Kissen und Decken liegen aus, Feuer prasseln in Kaminen. An den Tischen schaben Kellner Berge von Grillfleisch auf die Teller und rammen dann die armlangen Spieße wie vor Jahrhunderten die Säbel in die Holzdecke. Experimentierfreudige probieren die gefüllten Schweinsfüße oder das Kalbshirn in Butter und trinken dazu hochprozentigen Rakija aus zahnputzglasgroßen Bechern. Für ein Essen mit Getränken bezahlt man so viel wie in den Alpen für einen Teller Suppe.
Plötzlich erheben sich vier Musiker, Typen wie aus einem Film von Emir Kosturica. Glockenheller Gesang taumelt durch den Raum. Dann setzen die Instrumente ein, der Rhythmus beginnt zu galoppieren, und die Töne von Klarinette und Akkordeon stürmen los, als lieferten sich Jazzrock-Virtuosen ein akustisches Gefecht. Schweiß rinnt über die Wangen der Männer. Sie spielen, als ginge es um ihr Leben. Wer will, dass sich der Klarinettist noch mehr ins Zeug legt, spuckt auf einen 10-Lewa-Schein und klatscht ihn ihm auf die Stirn. Anklänge von Okzident und Orient wirbeln hin und her, und am liebsten spränge man auf und schrie seine Lust heraus. Seinen Respekt. Und seine Dankbarkeit, dass Banskos musikalischer Gusto Lichtjahre entfernt ist von dem Gesums all der verlogenen Gestalten, die einen in der alpinen Gaudigastronomie mit teutonischer Volksmusik foltern.
Aber Bansko kann auch anders. Nämlich Techno. Den hört man im Oxygene, einem urbanen Schuppen, in dem nichts knapper ist als sauerstoffhaltige Luft. Dafür wabern die von Cannabis geschwängerten Rauchschwaden der kiffenden Snowboard-Freaks durch die Gewölbe. Auch im Club Amnesia, wo sich trinkfreudige Engländer das Gedächtnis von ihrer zerebralen Festplatte löschen, wird nicht gejodelt, sondern hart gerockt. Und gleich nebenan sieht man die Damen der Erotic Bar wie Kurtisanen der zwanziger Jahre ihrem Arbeitsplatz entgegenstöckeln.
Banskos fidele Altstadt ist eingeschnürt von einem immer breiter werdenden Gürtel aus Hotels und Apartmentanlagen. Gleich neben der Talstation gibt die großmannssüchtig hingeklotzte Luxusherberge der Kempinski-Kette den Platzhirsch. Manche Anwesen haben sich Türmchen aufgesetzt und kokettieren mit dem traditionellen Stil bulgarischer Klöster, andere begnügen sich mit schlichten Holzbalkonen. In die Neubauten sind allein in den letzten anderthalb Jahren 35 Millionen Euro geflossen. Um sie an den Mann zu bringen, balgen sich Dutzende von Immobilienagenturen um Kundschaft. Überall sieht man ihre immergleichen Glasfronten, hinter denen Makler an Besprechungstischen auf Käufer warten. Die Preise für Häuser und Apartments in Bansko betragen mittlerweile das Zehnfache des Landesdurchschnitts. Und es geht weiter nach oben. Als Treibstoff für den Höhenflug dienen die anstehende Entscheidung über Bulgariens EU-Beitritt 2007 und die Bewerbung als Austragungsort der Olympischen Winterspiele 2014.
Mehr als 90 Prozent aller Apartments seien bereits verkauft, sagt die Immobilienmaklerin Miglena Penova. Die zierliche Frau trägt keine der hier üblichen Skiklamotten, sondern ein Kostüm, mit dem sie auch an der Londoner Börse auftreten könnte. Frau Penova arbeitet für das Banskoer Immobilienbüro des bulgarischen Reiseveranstalters Balkan Holidays. Das Unternehmen mit Sitz in London zählt zu den Pionieren des neuen Tourismus in Bansko. Längst mischt es auch im Immobiliengeschäft mit, das seine Umsätze vor allem mit englischen Kunden macht. Fast keiner der Käufer nutzt die Eigentumswohnungen selbst, sondern veräußert sie gewinnbringend nach zwei oder drei Jahren. In der Zwischenzeit sorgen smarte Damen wie Miglena Penova für die Vermietung der Spekulationsobjekte in der Wintersaison.
An der obersten Liftstation, unter dem Gipfel des Todorka auf 2560 Meter Höhe, lässt man den Abenteurerkapitalismus Banskos unter sich. Es hat über Nacht geschneit, als hätte der bulgarische Künstler Christo weiße Laken vom Himmel wehen lassen. Die Hänge liegen da wie frisch gemachte Betten. Die Skispitzen zittern vor Ungeduld, doch der Blick will erst schweifen. Über die sanft schwingenden Bergrücken des Rila-Gebirges und zu den Gipfeln der Rhodopen, wo der Musensohn Orpheus Pflanzen und Tiere mit seinem Gesang bewegte und Dionysos es sich gut gehen ließ. Schließlich taucht man hinab und zischt über knackig präparierte Pisten. Die meisten sind allerdings eher mittelprächtigen Skifahrern zugeeignet, die letzten Kilometer bewältigen selbst Ungeübte mit minimaler motorischer Begabung. Aber es gibt auch Abfahrten wie jene, die von Alberto Tomba eingeweiht und nach ihm benannt wurde. Das Patenkind der italienischen Skikanone gehört nicht zu jenen adrenalintreibenden Schlünden, die Könnern alles abverlangen; doch von solidem Schwarz ist die Strecke allemal.
Während der Eröffnung von Banskos Skisaison am 17. Dezember war auch die Skilegende Marc Giradelli zu sehen. Der fünffache Weltcupsieger fungiert als Werbepartner Banskos. Und er ist viel beschäftigt. Er präsentiert die Stadt auf Skimessen, und er berät die bulgarische Skinationalmannschaft, die hier regelmäßig Quartier macht. Demnächst will er ein Trainingscamp für Nachwuchsrennläufer in Bansko gründen. Kein Wunder, dass der Österreicher im Pirin-Gebirge verehrt wird wie ein Filmstar.
Im Gegensatz zu Giradelli sieht Janko Popow tatsächlich so aus. Und wäre er wirklich ein Kinoheld, seine Rollen stünden fest: Revoluzzertypen wie jener Motorradvagabund, den Dennis Hopper in Easy Rider verkörperte. Mit seinem struppigen Bart, seiner verwegenen Sonnenbrille und seinem Schlapphut wirkt Banskos Chefskilehrer wie geschaffen für Fahrten abseits des Mainstreams. Die führen durch grandiose Tiefschneehänge und sind Ausflüge ins Delirium. Beim Tanz durch die Fichten bebt die Brust vor Freude, und wer dabei die Orientierung verliert, ruft Janko oder einen seiner Kollegen mit einem Funkgerät. Bansko gilt als Treffpunkt der Freerider-Szene Osteuropas.
Dass man die Tiefschneefans bald besser kontrollieren müsse, meint Iwan Obrejkow. Er amtiert als Skidirektor. Alles, was auf den Hängen rund um den Todorka passiert, unterliegt seiner Obhut. Herr Obrejkow ist ein besonnener Mann, der gründlich nachdenkt, bevor er antwortet. Und er ist überzeugt, dass sein weißes Reich weiterwachsen muss. Mit dem Skistock zeigt er auf ein Gebiet hinter der Mittelstation. Es ist für den nächsten Ausbau vorgesehen. Zurzeit hielten sich 9000 Skifahrer pro Tag und ebenso viele Betten im Ort die Waage, sagt er. Doch unten werde weitergebaut. Also müsse man hier reagieren. Ob solche Pläne nicht früher oder später mit den Restriktionen der Unesco kollidierten, die dem Pirin-Gebirge den Status eines Weltnaturerbes verliehen hat? Das sei eine gute Frage, gibt der Skiboss zu. Und lächelt lange. Wie eine bulgarische Sphinx mit Sturzhelm steht er auf der Alberto Tomba und lächelt. Eine Antwort gibt er nicht.
Das Kostbarste und Schönste, was Bansko zu bieten hat, ist die orthodoxe Kirche Sveta Troiza. Trotz Tiefschneenirvana, Mehana-Musik und der Damen der Erotic Bar. Das Gotteshaus aus dem Jahr 1835 zählt zu den größten Heiligtümern Bulgariens. Von außen wirkt es unscheinbar. Doch wer eintritt, muss vor Ergriffenheit seufzen. Kunstvoll bemalte Decken, Wände und Säulen aus düsterem Holz umfangen die Betenden wie ein Märchenwald. Es riecht nach Wachs und Inbrunst. An der Stirnseite gleißen goldene Ikonen von atemberaubender Pracht. Wie von einem nervösen Tick getrieben, huschen die Hände krummer alter Weiber über die Bilder der Heiligen. Zwei pechschwarz gewandete Priester mit wallenden Vollbärten singen eine Litanei. Ihr betörend auf und ab schwellender Gesang ruft wieder ins Bewusstsein, dass man sich am Rand Europas befindet. An einer Peripherie, die dem westlichen Bewusstsein so weit entrückt ist, dass Karl May nicht der Versuchung widerstehen konnte, einige seiner Helden in diese Weltgegend zu fantasieren. Überall flackern unzählige Kerzen wie Sterne im All und bitten um Fürsprache. Sie werden auf zwei Ebenen angezündet. In Brust- und Augenhöhe für die Lebenden, in Bodennähe für die Toten. In der Sveta-Troiza-Kirche übersteigt die Zahl der Kerzen für die Lebenden die für die Toten um ein Vielfaches. Bansko hat sich dem Leben verschrieben. Mögen seine Verstorbenen noch so mürrisch von ihren Fotokopien blicken.