Beat City
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Beat City

DIE ZEIT, Nr. 13/2008

Beat City

 

Liverpool ist wieder da. Eine Kneipentour durch die Kulturhauptstadt mit den Beatles von heute

Ach, die Beatles. Meine Band war das nie. Die Musik zu brav. Die Manieren zu gut. Die Fans zu backfischhaft überdreht. Und jetzt das! Im Cavern Club, 33 Stufen unter dem Kopfsteinpflaster der Liverpooler Mathew Street, drischt George Harrison den Auftaktakkord von A Hard Day’s Night aus den Saiten – und ich bekomme eine Gänsehaut. Ich schüttele meinen Kopf zum Beat von She’s A Woman. Ich spiele Luftgitarre zu Day Tripper und singe aus vollem Hals Can’t Buy Me Love. Alles hopst Schulter an Schulter, es riecht nach Schweiß und verschüttetem Bier, irgendwo erproben ein paar Mädchen das Gekreisch der Beatlemania von damals. Selbst das macht plötzlich Spaß. Der Grund dafür steht auf der Bühne. Vier Beatles-Klone in knallengen Anzügen. Sie nennen sich The Beat Beatles, und sie sind gut. Gespenstisch gut. Die vier Jungs sind erst Anfang zwanzig – so alt wie die Original-Beatles in den frühen Sechzigern, als sie noch zu den Wilden der Popmusik zählten und fast 300 Mal im Kellergewölbe des Cavern Club spielten.

Dort, wo damals Paul McCartney stand, zuckt jetzt der Beat Beatle Andy auf seinen Blumenstängelbeinen und knickt an der Hüfte ein wie sein Vorbild. Der Kerl am Schlagzeug heißt Jay und wirft seinen Pilzkopf in Ringo-Manier hin und her. Ganz rechts reißt Paul am Hals seiner bauchnabelhoch hängenden Gitarre wie John Lennon selig. Und traumverlorener als Ben kann man den stillsten Beatle George Harrison gar nicht verkörpern. Die Illusion ist perfekt. Nirgendwo könnte sie besser funktionieren als hier in dieser Stadt.

Liverpool ist Europäische Kulturhauptstadt 2008 und müht sich redlich, ein buntes Programm auf die Beine zu stellen. Aber seine Kultur ist vor allem Musik. Und seine Musik, das sind vor allem die Beatles. Der Kult um die Fab Four lebt nicht nur, er springt einen geradezu an. Das beginnt schon auf dem Flughafen, der John Lennon Airport heißt. Mehr als ein Dutzend Coverbands spielen in Bars voller Beatles-Devotionalien. Es gibt ein Beatles-Museum, ein Beatles-Hotel, Geschäfte mit Beatles-Klamotten und so viele Beatles-Monumente, dass ihre Zahl wohl bald die der Kriegsheldendenkmäler übersteigt. In Liverpooler Buchhandlungen habe ich nach einem Stadtführer gesucht – und außer einem quittengelben Beatles-Guide keinen einzigen gefunden.

Macht nichts. Ich habe ja schon vier leibhaftige Führer. An diesem Wochenende werden mir die Beat Beatles ihre Stadt zeigen. Ich warte nach dem Konzert an der Bar des Cavern Club auf sie. Ben alias George Harrison kommt als Erster aus dem Umkleideraum. Er trägt jetzt weder Anzug noch Krawatte, sondern tief hängende Jeans und eine schwarze Militärjacke. Dort, wo gerade noch eine Pilzkopfperücke saß, umschwirren nun stufig geschnittene Haare die Stirn, als pustete sie etwas nach vorn. Ein Pilzkopf des 21. Jahrhunderts. Warum spielt so einer Maskeradenrock? „Weil jeder Auftritt ein paar Hundert Pfund einbringt“, sagt Ben zwischen zwei tiefen Zügen Ale. Dann erzählt er, dass sich die Gruppe vor fünf Jahren für einen TV-Wettbewerb formiert hatte und Spaß an der Sache fand. Heute gehören die Beat Beatles zu den besten Coverbands der Stadt.

„Hier haben die Beatles vorgeglüht, ehe sie auftraten“

Dass sie die Beatles verehren, ist nicht nur Theater. „Sie haben den Mersey Beat berühmt gemacht, verstehst du? Schneller Viervierteltakt, eingängige Melodien, dominanter Gitarrensound. Das war die erste Popmusik, die nicht aus Amerika kam und weltweiten Einfluss hatte“, sagt Ben. George Harrison ist er nie begegnet. Trotzdem hält er ihn für den besten Gitarrenlehrer, den er je hatte. „Seit ich George imitiere, bin ich viel besser geworden.“ Ben redet oft von dem 2001 gestorbenen Beatle, und jedes Mal klingt es, als spräche er von einem guten Freund. Dann kommen Paul, Andy und Jay in engen Ben-Sherman-Pullundern an die Bar. Auf ihren Gesichtern glitzert Schweiß, und in ihren Beinen steckt noch die ganze Hibbeligkeit der Show. Gerade recht für eine Kneipentour, sagen sie. Wir stellen unsere Gläser auf den Tresen und ziehen los.

„Liverpool trinkt gern“, sagt Andy grinsend, als wir aus dem Keller auf die enge Mathew Street treten und uns der Nieselregen ins Gesicht stäubt. Das ist nicht zu übersehen. Im „Beatles-Viertel“ rund um den Cavern Club scheint jeder Barbesuch ein Waffengang zu sein. Manche Männer halten gleich zwei Biergläser in den Händen und führen sie abwechselnd zum Mund. Aus jeder dritten Kneipe rockt Livemusik. Besonders voll sind das Grapes und der White Star Pub. „Hier haben die Beatles vorgeglüht, bevor es im Cavern Club losging“, sagt Paul. Immer wieder muss ich ihn ansehen und mich vergewissern, dass er doch nicht John Lennon ist.

Auf der Straße wimmelt es von schrill geschminkten Frauen. Ihre Schuhe sind so hochhackig, dass man sie jenseits des Ärmelkanals wohl nur in Geschäften für Unzuchtsartikel bekäme. Von der Irischen See her peitscht ein eisiger Wind die Stadt, die Temperaturen liegen nur wenig über null Grad. Aber die Partymädchen tragen knappe Kleidchen wie für eine Sause am Strand von Ibiza. Am liebsten würde ich jeder meine Jacke über die Schultern legen.

Als erste Station haben die Jungs das Alma de Cuba ausgesucht. Eine ehemalige katholische Kirche mit viel Blattgold, polierten Marmorsäulen und riesigen Heiligenbildern. Zur Kommunion gibt es bunte Drinks. Andy, Jay, Paul und Ben bestellen Whisky-Cola und nicken im Takt einer Drum-and-Bass-Version von Strawberry Fields Forever. Auf dem Altar steht ein Mischpult, dahinter turnt ein tätowierter DJ mit nacktem Oberkörper. Es gebe Leute, die fänden das Alma de Cuba blasphemisch, sagen die vier. Kein Wunder: Im Ballungsgebiet von Liverpool lebt die Hälfte aller britischen Katholiken. Die meisten von ihnen sind Nachfahren der 300000 Iren, die im 19. Jahrhundert vor der Hungersnot nach Amerika fliehen wollten und in der Hafenstadt Liverpool hängen blieben. Darunter waren auch die Ahnen von Paul McCartney und John Lennon. Hätten die Iren grüne Haut, wären die Liverpooler mintfarben, ulkt Andy. Dann schnappt er sich den nächsten Drink und prostet einer rothaarigen Schönen zu. Mir fällt auf, dass er von Paul McCartney nicht nur den Hüftknick abgeguckt hat. Auch der Bernhardinerblick des Ex-Beatle gehört dazu.

Das Alma de Cuba liegt am Rand des Ropewalk District am anderen Ende der Innenstadt. Das umtriebigste Liverpooler Ausgehviertel bebt vor Leben. Drei Universitäten mit 60000 Studenten sorgen für proppenvolle Bars. Wir gehen ins Bumper. Durch den Riesenladen wühlt erdige Rockmusik. Fashion-Punk-Mädchen lachen mit bärtigen Allen-Ginsberg-Typen, Retro-Trainingsjacken-Träger quatschen mit Dandys im schmalen Anzug. Pfundnoten fliegen über die Tresen wie in einer Wettannahmestelle. Blicke schweifen nicht aneinander vorbei, sondern treffen sich. Als irgendwer Freunden auf Wiedersehen sagt, hält er auch mir seine Hand zum Abklatschen hin.

Es ist im Bumper wie überall in der Stadt: Eine große Klappe und ein angriffslustiger Witz sind das, was zählt. „Konversation in Liverpool ist mehr als nur reden“, sagt Barney, der ein Freund der Beat Beatles ist und wie fast jeder hier in einer Band spielt. „Konversation in Liverpool ist ein Markenzeichen, ein Kulturgut.“ Als er sich so sprechen hört, zerlacht er schnell das Pathos und haut mir auf die Schulter.

Am nächsten Mittag sitzen wir im Lounge-Restaurant Babycream in den Albert Docks am Hafen. Jay erzählt, dass die Fußballstars der beiden Liverpooler Clubs oft hier vorbeischauen. So sieht es auch aus. Die Theke ist kühlschrankweiß lackiert, es gibt avantgardistische Diwane und lila Vorhänge. Durch die Glaswände blickt man auf das Hafenbecken und die Arkaden der Lagerhäuser, in die jetzt Galerien, Büros und Bars gezogen sind. Zu den Albert Docks führen die Liverpooler jeden, dem sie stolz zeigen wollen, wie ihre Stadt brummt. Die historische Anlage liegt inmitten eines Gewirrs von Baukränen. Schräg hinter ihr entsteht gerade für mehr als 1,3 Milliarden Euro das größte Einkaufszentrum Europas. Nicht weit davon wird 2010 ein neues Stadtmuseum aus Marmor seine Tore öffnen. Und östlich der Albert Docks erkennt man die Echo Arena, die 10000 Zuschauer fasst und geformt ist wie eine Gitarre.

„Das wurde auch verdammt Zeit“, mault Paul, aus dem nun der ganze Stolz auf die Liverpooler Musikszene spricht. Die hat es nämlich auf mehr Nummer-eins-Hits gebracht als jede andere der Welt. „Echo and The Bunnymen, Elvis Costello, Ladytron, The Coral – so viele sind hier berühmt geworden. Und erst jetzt gibt es eine Halle, die groß genug ist, dass sie wieder bei uns auftreten können.“ Doch Pauls Groll ist nur Attitüde. Er weiß genau, dass er zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. Vielleicht ist das Liverpool von 2008 sogar spannender als das von 1961. Paul studiert Tontechnik an Paul McCartneys Liverpool Institute for Performing Arts. Das Lipa ist eine der gefragtesten Schulen der Stadt.

Im Hard Days Night Hotel baumeln Notenblätter von der Decke

Es ist nicht lange her, dass Liverpool auf Finanzhilfe aus Brüssel angewiesen war. An den Bauzäunen am Hafen sieht man Schilder mit dem Wortspiel „Thank EU“. Die einstmals stolze Handelsstadt, zweite Metropole des Empire, hat im 20. Jahrhundert viel von ihrem Glanz verloren. Noch in den späten Neunzigern galt Liverpool als eine der ärmsten Großstädte Westeuropas. Doch in dem Maß, in dem es wirtschaftlich bergab ging, blühte die Popkultur auf. Die Helden des Mersey Beat machten aus der Beaten City die Beat City und prägten ihr Selbstbild als rockender Underdog.

Daran erinnert rund um die Albert Docks nicht mehr viel. Darum steigen Jay und ich vor dem Babycream in eins der buckeligen Taxis. Er will mir „Ringoland“ zeigen. Das Viertel heißt eigentlich Dingle und ist die Gegend, in der Ringo Starr aufwuchs. Sie liegt im berüchtigten Postzustellbezirk Liverpool 8, der in den achtziger Jahren für seine Krawalle berüchtigt war. Jay ist blond und trägt eine randlose Brille. Seine Ringo-Rolle nimmt man ihm erst auf der Bühne ab. Er sagt, dass er mit dem Drummer den einzigen Working-Class-Beatle verkörpere. Ringo, den wahren Liverpooler. Den, der nichts kapierte, wenn die anderen über Karlheinz Stockhausen diskutierten und in Indien die Erleuchtung suchten. Durch das Taxifenster blicke ich auf ochsenblutrote Backsteinsiedlungen. Sie zeichnen sich auf den regenverschleierten Scheiben ab wie Aquarelle. Manche wirken leidlich proper, andere heruntergekommen. So wie die Madryn Street, in der Ringo 1940 geboren wurde. Mehr als drei Milliarden Euro flossen in die Erneuerung Liverpools. Hier merkt man davon nichts. Ringos Haus ist eins der wenigen, die nicht verbrettert sind. Hunde und leere Plastiktüten geistern herum, ein Wind pfeift wie auf hoher See. Schon seit Minuten haben Jay und ich keinen Fußgänger mehr gesehen. Nur Touristenbusse rollen vorbei. Sie fahren den autobiografischen Beatles-Songs hinterher: durch die Penny Lane oder zum Kinderheim Strawberry Field. Durch Ringos Straße wird bald niemand mehr fahren. Sie soll in den nächsten Monaten abgerissen werden. Das Haus mit der Nummer 9 wird man dann Stein für Stein abtragen und so lange aufbewahren, bis beschlossen ist, wo es stehen soll. Vielleicht im neuen Stadtmuseum.

Mein letzter Abend mit den Beat Beatles beginnt im Philharmonic Pub in der Hope Street. Es war die Idee von Paul. Sein Alter Ego John Lennon soll sich nirgendwo wohler gefühlt haben als in diesem viktorianischen Biertempel mit den überbordenden Ornamenten, die einen bis auf die Toilette verfolgen. „Der größte Nachteil am Berühmtsein ist, dass ich nicht mehr im Phil mein Bier trinken kann“, soll Lennon in seinen New Yorker Jahren oft geklagt haben. Es wird seinerzeit nicht bei einem geblieben sein. Hier vergisst man schnell, die Pints zu zählen. Mit den immer aufgekratzten Beat Beatles sowieso. Doch das ist manchmal nicht verkehrt. Nicht in Liverpool, das die gute Laune eines frühen Beatles-Songs besitzt und die ruppige Vergnügungssucht einer Hafenstadt. Liverpool ist ein Kumpel. Das ist es, was mir hier von Anfang an gefiel.

Erst im Morgengrauen komme ich zurück ins Hard Days Night Hotel, das vor wenigen Wochen eröffnet wurde und ganz den Beatles gewidmet ist. Überlebensgroß grüßen ihre Statuen von der über hundert Jahre alten Fassade. Der Türsteher ist bereits im Dienst und zieht seinen Zylinder. Komisch, das macht er sonst nie. In der Lobby baumeln Notenblätter von der Decke, und Beatles-Songs laufen rund um die Uhr. Als ich eintrete, ist es Let It Be. Das ist der richtige Soundtrack, um einem Kater gelassen ins Auge zu sehen, denke ich und fahre im Fin-de-Siècle-Aufzug zu meinem Zimmer. Bewacht von einem riesigen Ringo-Konterfei über dem Bett, schlüpfe ich unter die Decke. Die Matratze ist eine Wolke. Prima hier. Dann raffe ich mich noch einmal auf und schlurfe zur Tür. Ich habe vergessen, das Schild herauszuhängen. Es enthält eine wichtige Information für das Reinigungspersonal: „I’ve had a hard day’s night.“