20 Feb Endlich wieder Sex
DIE ZEIT, Nr. 51/2004
Endlich wieder Sex
Las Vegas ist die meistbesuchte Stadt der Erde. Im nächsten Jahr wird sie 100 Jahre alt – und besinnt sich auf ihren Ruf als Metropole des Lasters
Carlos war noch nie in Paris, und es sieht nicht so aus, als würde sich daran jemals etwas ändern. Wozu auch? Er steht ohnehin jeden Abend unter dem Eiffelturm. Zwar ist die Stahlkonstruktion nur halb so hoch wie ihr Vorbild an der Seine, doch dafür leuchtet sie nachts umso greller. Das muss sie auch, denn die Konkurrenz im neongleißenden Las Vegas ist groß. Zu Füßen der Kopie stehen die Replikate der Opéra, des Triumphbogens und des Louvre und formen ein Paris nach amerikanischem Geschmack – ohne gallische Sprachschikanen und ohne Metrostreiks. Dafür mit Parkplätzen in Hülle und Fülle. Carlos ist sicher: Das phallische Wahrzeichen des Kasinohotels Paris Las Vegas ist die richtige Kulisse für seine Mission. Mit der Geduld eines Wanderpredigers verteilt er bis in die Morgenstunden obszön aufgemachte Visitenkarten und Broschüren, in denen Damen Hotelbesuche für 49 Dollar offerieren. Paris sei schließlich die Stadt der Liebe, grient Carlos und steckt einem im Elektrovehikel vorbeisurrenden Herrn mit adipösen Hüften eine Call-Girl-Werbung zu.
Auf dem berühmten Strip von Las Vegas wimmelt es von mexikanischen Tagelöhnern vom Schlage Carlos’ wie nie zuvor. Sie alle sind im Auftrag des horizontalen Gewerbes unterwegs und so omnipräsent wie der Smog. Und das ist kein Zufall. „Sin City has found it’s soul“ – so lautet das Credo, mit dem das einstige Wüstenkaff wieder einmal an seinem Image feilt. Im Mai 2005 wird es 100 Jahre alt und feiert das Jubiläum von der kommenden Silvesternacht an mit einer monatelangen Party. Doch es ist nicht die Vorfreude auf Feuerwerke und Geburtstagstorten, die Las Vegas derzeit ein scharfes Aroma verleiht – es ist die überall aufblitzende Tendenz zur Entblößung seiner verruchten, unter dem bunten Schaum der Themenhotels verborgenen Wurzeln.
Der Flirt mit einer Kehrtwende zur sündigen Triade aus Sex, Alkohol und Glücksspiel geschieht nicht grundlos. Alle Statistiken zeigen, dass nach wie vor Männer im Alter zwischen 25 und 49 Jahren die spendabelsten Gäste sind. Und die meisten von ihnen kommen nicht wegen Raumschiffen, Ritterturnieren oder begehbaren Haifischaquarien. Sie kommen wegen ihrer Lust am Laster. Daran glauben nicht nur die Lokaljournalisten und die allmächtigen Hotel- und Kasinobosse. Das betonen auch die Politiker, deren Entscheidungen sich am Gusto der megalomanen Gastronomen orientieren wie an nichts sonst. Ihre Karrieren wären sonst bald beendet. Und so fordert auch Bürgermeister Oscar B. Goodman schon seit längerem eine „neue Freiheit der Sinnlichkeit“.
Was der ehemalige Mafia-Strafverteidiger damit meinen könnte, lässt sich ein paar hundert Meter hinter Carlos’ Stammplatz beobachten. Der Manhattan imitierende Hotelkomplex New York-New York mit seiner im Verhältnis zum Original um ein Drittel geschrumpften Skyline zeigt seit gut einem Jahr Zumanity. Die Show ist ein lüsternes Wasserspektakel mit pornografischen Anleihen und hat immerhin 15 Millionen Dollar gekostet. Gegenüber tanzen in der nachgemachten Sündentempel-Legende Studio 54 in Lack und Leder gewandete Menschen in Käfigen, und im Palms Hotel sind vor kurzem Suiten mit Eisenstangen ausgerüstet worden, damit Stripperinnen bei Privataudienzen Halt finden können. Aber auch das angesagte Hard Rock Casino weiß, womit man die taffen Typen ködert, die im Herzstück des neuen Las Vegas ihre Aktiengewinne verzocken sollen: mit Blackjack-Tischen inmitten einer Poollandschaft und Bargirls, die vor Silikon kaum laufen können.
Der Trend widersetzt sich jener Zähmung von Las Vegas’ rauer Seele, die in den vergangenen 15 Jahren den Strip in eine gewaltige Entertainmentstruktur im Disney-Look verwandelt hat – ein metabolisches System aus Fußgängerbrücken, Laufbändern, Fahrgeschäften und Shopping-Malls. Und jede Attraktion präsentiert sich im Kleid einer nach Superlativen gierenden Peter-Pan-Architektur. Da sind zum Beispiel die pharaonischen Ausmaße der Glaspyramide des Luxor, in dessen altägyptisch verballhornte und weltgrößte Hotellobby 9 Jumbojets und 50 Kleinflugzeuge übereinander passen sollen. Oder da ist das Venetian, das nach seinem schrittweisen Ausbau auf mehr als 6000 Zimmer das größte Hotel des Planeten sein wird und Venedig fast bis ins Detail nachäfft – mit Campanile, Rialtobrücke und Markusplatz. Und so geht es weiter: Gegenüber einem nach Chlor riechenden Canal Grande drängeln sich eine Piratenbucht, ein Feuer speiender Vulkan, König Artus’ Schloss, eine Blaupause des alten Rom und dergleichen mehr. Immer weiter frisst sich das Sammelsurium aus erdbebensicheren Plagiaten in die Wüste. Wo immer man sich befindet in Las Vegas, dort ist man nicht.
Zum regelrechten Rausch wurde die Erlebnisarchitektur in den späten achtziger Jahren, als ein landesweiter Kasinoboom Las Vegas dazu veranlasste, seinen Gästen mehr zu bieten als ein billiges Bett, einen 99-Cent-Shrimp-Cocktail und einen Automaten, der ihnen pro Besuch durchschnittlich 900 Dollar abknöpft. Außerdem setzten die Macher mehr denn je auf die Faustregel, dass sich die Menschen umso schmerzfreier von ihrem Geld trennen, je weiter sie ihrem Alltag entrückt sind. Von diesem Axiom wussten schon die Kasinobetreiber der europäischen Nobelkurorte des 19. Jahrhunderts. Doch nur die Städte in den Einöden des amerikanischen Westens erhoben die Fata Morgana zu ihrem städtebaulichen Prinzip. Von der hingeklebten Fassade, die eine armselige Bude kaschieren sollte, ließ sich natürlich niemand täuschen. Trotzdem gehörte die Attrappe zum guten Ton, war die Scheinfassade stilbildend für das gesamte hochstaplerische Erscheinungsbild des Wilden Westens. So blickt Las Vegas auf eine lange Tradition zurück und ruht auf einer unumstößlichen Erkenntnis, dass sich Menschen blenden lassen wollen. Die monströsen Themenhotels als die konsequenteste Umsetzung dieser Einsicht locken Jahr für Jahr rund 35 Millionen Touristen in die Stadt. Damit hat Las Vegas vor kurzem Mekka als meistbesuchten Ort der Erde abgelöst.
„Bau es hin, und sie werden kommen“ – diese Parole gilt noch immer für jeden Investor in einer Stadt, in der die Auslastung der Hotels über 90 Prozent liegt. Las Vegas sei wie Unkraut, dem man Steroide spritzt, sagen die Immobilienmakler. Doch ohne das Glücksspiel geht nichts. Durch das Halbdunkel der Hotelkasinos wabert das babylonische Gedudel Tausender von Münzspielautomaten, prasseln Kaskaden von Vierteldollarmünzen in die Messingschalen, klatschen Spielkarten auf den Filz. Jeder zweite Dollar, der in der Einmillionenstadt umgesetzt wird, stammt aus dem Glücksspiel. Aber: Die Einnahmen sinken seit Jahren.
Den Grund dafür sehen viele Kasinoangestellte im Aussterben des Zockers vom alten Schlag. „Ohne Jackett hat sich früher kaum ein Mann hierher getraut. Man konzentrierte sich verdammt noch mal auf sein Spiel“, schimpft Bill, ein Urgestein unter den Croupiers im Flamingo. „Heute dagegen kommen Familien in kurzen Hosen an meinen Tisch, die Kinder kleckern mit ihren Eistüten, und wenn es spannend wird, steigen sie aus.“ Für Bill grenzt solches Verhalten an Blasphemie. Schließlich war es kein Geringerer als die Mafialegende Benjamin „Bugsy“ Siegel aus dem Mob von Meyer Lansky, der 1946 das Flamingo als das erste der opulenten Hotelkasinos ins Leben rief.
„Das Zeitalter der Piratenschlachten und Vulkanausbrüche ist vorbei“, verkündet Steve Wynn. Der dreifache Kasinobesitzer und Mitinitiator des Themenrummels ist der König von Las Vegas. Den ersten Schritt wider den infantilen Spaß machte er vor vier Jahren mit seinem Bellagio. Der Hotelpalast ist inspiriert durch den gleichnamigen Kurort am Comer See, den Wynn in Form eines dreieinhalb Hektar großen Bassins vor den Eingang bauen ließ. Kinder sind ausdrücklich unerwünscht, in 15 Restaurants servieren Spitzenköche Kängurufleisch und Hummerwürstchen an Chablis, und in der Bellagio Gallery of Fine Art hat der fast erblindete Wynn seine 300 Millionen Dollar teure Kunstsammlung untergebracht. Doch das Problem ist: Auch durch die mondänen Sphären des Bellagio stromert das typische Achterbahnpublikum in Shorts und T-Shirt, ein Light-Beer in der rechten, einen Plastikbecher mit Jetons in der linken Hand. Die zwölf Dollar Eintritt für Picasso, Cézanne und Renoir geben die meisten von ihnen erst gar nicht aus.
Jetzt legt Steve Wynn nach. Mit seinem gerade entstehenden vierten Haus will er dem stilbewussten Spieler- und Trinkertypus von einst neues Leben einhauchen. Wynn Las Vegas heißt es und wird bis zu seiner geplanten Eröffnung auf dem Höhepunkt der Geburtstagsfeierlichkeiten im Mai kommenden Jahres 2,5 Milliarden Dollar verschlungen haben. Damit stellt Steve Wynn in der Stadt der Exzesse einen neuen Rekord auf. Das 45-stöckige Luxusressort auf dem Gelände des gesprengten Desert Inn wird 2700 Zimmer haben, einen 156 Meter hohen gläsernen Turm, eine Gemäldesammlung und einen Golfplatz. Und als ob Steve Wynn es den Naturgewalten zeigen wollte, die Nevada mit ewiger Dürre straften, jongliert er wieder mit dem kostbarsten Gut der Wüste: Im Wynn Las Vegas wird es einen großen See geben, vier Lagunen und riesige Wasserfälle. Ein Thema aber wird man vergeblich suchen: Das Wynn Las Vegas will auf nichts anspielen als auf sich selbst.
Mit seinem puristischen Projekt beabsichtigt der 61-jährige Impresario die Führung zu übernehmen im Kampf um die Wale. So nennt man in Las Vegas jene Spieler, für die Einsätze unter 100000 Dollar Kinderkram sind. Um sie an die Angel zu bekommen, kündigen Kasinomanager unter falschem Namen Hotelreservierungen, fangen Spieler am Flughafen ab, locken mit Nachlässen bis zu 20 Prozent, wenn die Kugel nicht so rollt wie erhofft. Der Mindestverlust liegt allerdings bei einer Million Dollar. Wer so viel Geld am Tag an den Spieltischen zirkulieren lässt, hat meist auch Anspruch auf einen eigenen Aufzug und bewohnt auf Kosten des Hauses hallengroße Suiten. Und unter der Bezeichnung „Player Development“ offerieren die Kasinos Zockerreisen im hauseigenen Learjet und überbringen den Ehefrauen teure Geschenke, damit sie an den Wüstenexkursionen ihrer Gatten keinen Anstoß nehmen. Wie es scheint, hat ihre Arbeit Erfolg. „Sie kommen alle zurück“, sagt ein Manager des Cesar’s Palace. „Die Verlierer, weil sie ihr Glück erzwingen wollen, die Gewinner, weil sie an ihr Glück glauben.“
Auch Carlos glaubt an sein Glück. Darum ist er in diese Stadt gekommen, in der jeder vom Reichtum träumt, in der Profit alles ist. Das Glücksspiel aber, so viel steht fest, kommt für Carlos nicht infrage. Dafür kennt er zu viele Spielsüchtige. Statistiker haben errechnet, dass jeder fünfte Haushalt in Las Vegas mindestens einen Abhängigen in seinen Reihen hat. Menschen, die so lange vor ihren einarmigen Dämonen sitzen, bis sie ihr Leben ruiniert haben. Und weniger werden es nicht werden, wenn das Laster wieder Hof hält in der „Stadt der Sünde“.
Es ist kurz vor Tagesanbruch, als Carlos vor der Baustelle des halbfertigen Wynn Las Vegas steht. Die Wolken über den Wüstenbergen Nevadas leuchten bereits violett und sehen aus wie ein gigantischer Blaubeer-Milkshake. Der vergnügungstolle Mahlstrom des Strip hat sich in einen kraftlosen Abgesang der Nacht verwandelt. Nur die Neonlichter schreien unermüdlich ihre Verheißungen in die Leere. Carlos ist seit vielen Stunden auf den Beinen, doch er will noch nicht nach Hause. Mit dem Ernst eines in sein Spiel versunkenen Kindes steckt er eine Visitenkarte nach der anderen zwischen die Drahtlamellen des Bauzauns. Wer ihn eine Weile dabei beobachtet, erkennt ein Mosaik. Erst sieht es aus wie die Silhouette einer Frau. Aber das ist es nicht. Es ist ein riesiges Dollarzeichen.