20 Feb Hummer gefällig? Gelbe Flagge hissen
DIE ZEIT, Nr. 18/2008
Hummer gefällig? Gelbe Flagge hissen
Petit St. Vincent ist so groß wie ein Golfplatz. Im Wald und hinter Klippen verstecken sich 22 Hütten. Ein diskreter Service lässt den Gast glauben, er habe die Karibikinsel ganz für sich allein
Und was kommt jetzt?“
„Nichts kommt jetzt. Lass einfach locker. Atme den Wind. Hör der Brandung zu. Entspann dich!“
„Okay. Und was dann? Man muss hier doch etwas tun können…“
„Nein. Gar nichts kann man tun. Nicht auf dieser Insel. Darum geht es doch. Wann kapierst du das endlich?“
Das fängt ja gut an. Selbstgespräche schon am ersten Tag. Dabei ist alles so schön, wie ich es mir erhofft hatte. Ich schaukele in einer Hängematte unter wispernden Palmwipfeln und schaue Schmetterlingen beim Taumeln zu. Lichtspeere bohren durch die Mahagonikuppeln, und am Strand gleißt überirdisch weißes Muschelpulver. Aber es nützt nichts. Ich bin ganz aufgebracht vor lauter Nichtstun und Alleinsein. Die letzten Menschen habe ich vor Stunden gesehen: den puderzuckerweiß uniformierten Inselkapitän, der mich heute Morgen mit seiner Jacht vom Flugplatz auf Union Island abholte, und Charlie, den jovialen amerikanischen Resortmanager mit dem lustigen Sonnenbrand auf der Nase. „Willkommen in der Abgeschiedenheit!“, hatte er bei meiner Ankunft deklamiert und hinzugefügt: „Dies ist ein Ort für Leute, die sich in ihrer Haut wohlfühlen.“ Allmählich dämmert mir, was er meinte.
Petit St. Vincent ist nicht irgendeine Insel. Petit St. Vincent ist die Insel schlechthin. Das karibische Privateiland gehört zum Zwergstaat St. Vincent und die Grenadinen, ist gerade mal so groß wie ein Golfplatz und schwimmt in Form eines freundlichen grünen Comicwals im Meer. Wenn es einen Ort gibt, von dem ausgedunkelte Winterseelen träumen – hier ist er. Wer ihn besucht, lernt nicht Land und Leute kennen, sondern betritt eine unbestimmte Blaupause der Karibik, in der er sich selbst genug sein will. So wie ich in dieser Woche. Ohne Frau, ohne Kind, ohne Kumpel.
Selbst mit geschlossenen Augen sehe ich alles blaugrüntürkis
Für meine Weltflucht gibt es ein Hotel, das genauso heißt wie die Insel. Mehr Infrastruktur existiert nicht. Als sein Gast bewohne ich ein luftiges Cottage aus Lavasteinen und Teakhölzern. Es wirkt wie eine tropische Luxus-Skihütte. Und völlig einsam. Nicht mehr als 22 solcher Häuser verteilen sich auf knapp 50 Hektar. Alle sind so weit voneinander entfernt und so geschickt hinter Klippen oder im Dschungelpelz versteckt, dass ihre Bewohner glauben, sie seien allein auf der Insel. Darum gibt es auch keine Rezeption, keinen Check-in und keine Schlüssel. Anstatt auf Fünf-Sterne-Schnickschnack setzt das Refugium auf Minimalismus. Mein Cottage hat kein Telefon, kein Internet, keinen Fernseher, keine Klimaanlage, keine Uhr und keinen Wecker. Wenn ich dem Personal etwas mitteilen will, benutze ich zwei Flaggen vor der Tür. Hisse ich die gelbe, habe ich einen Wunsch, weht die rote, möchte ich meine Ruhe.
Gut, dass ich mich mit einem Dutzend Bücher gerüstet habe. Sie türmen sich am ersten Nachmittag neben meiner Hängematte am Strand. Jetzt wird gelesen, stundenlang! Doch es klappt nicht. Gerade ein paar Sätze komme ich voran, dann muss ich wieder den Finger zwischen die Seiten klemmen und auf dieses maßlos kobaltblau-türkisgrüne Funkeln und Leuchten der karibischen See starren. Also weg mit dem Buchstabenbrei. Ich werfe das Buch aus der Hängematte und lasse diesen Farbcocktail vollends von mir Besitz ergreifen. Nach und nach strömt er in mein Hirn und färbt den Verstand ein. Selbst wenn ich die Augen schließe, ist alles blaugrüntürkis. Erst jetzt herrscht Friede. Endlich.
Als mir das Zeitgefühl vollends entgleitet, raschelt es im Gebüsch. Vor mir steht ein Kellner im Hawaiihemd. Mit Tablett und Stoffserviette und einem nichts als breiten Lächeln im schwarzen Gesicht. Es ist, als habe er gerade seinen Auftritt in einem Bühnenstück. „Hazron“ steht auf seinem Namensschild. Er rückt ein Basttischchen heran und serviert gegrillten Hummer und ein Glas Weißwein. Wie aufmerksam! Ich möchte ihn umarmen. Dann fällt mir ein, dass ich den Imbiss ja selbst bestellt habe. Einen Steinwurf entfernt gibt es im Unterholz eine Flaggenstation, an der man ein Formblatt mit dem Gewünschten ausfüllt und die Nummer seiner Hängematte einträgt. Im Anschluss hisst man die gelbe Fahne. Jede Viertelstunde fährt jemand in einer Art Golfkarre geräuschlos daran vorbei und nimmt die Bestellung auf.
Abends sitze ich in meinem Cottage auf der Terrasse, die wie ein Schiffsbug ins jetzt silbern glitzernde Meer ragt. In meinem Drink klimpern die Eiswürfel. Links führen Stufen zu meinem Privatstrand, vor mir sinkt die glühende Sonne hinter ein herrisch gezacktes Wolkengebirge und strahlt es von hinten so theatralisch an, dass der Horizont zu einem indonesischen Schattenspiel wird. Wer braucht da einen Fernseher? Unaufhörlich streichelt der Wind so warm und zart über meinen Körper, dass ich mir vorstelle, Charlie drehte irgendwo an den Reglern einer wunderlichen Maschine. Mücken gibt es keine, und das aus einer Entsalzungsanlage gewonnene Wasser aus dem Hahn kann man sogar trinken. Das alles hilft einem ungeheuer, sich schon am ersten Tag mit der Inselexistenz anzufreunden. Robinson Crusoe brauchte dazu zwei Jahrzehnte.
Dass ich mich als Luxus-Eremit ganz prima fühle in meiner Haut, habe ich auch ihm zu verdanken. Denn erst seit Crusoe hält man abgeschiedene Inseln für Orte der Erlösung von den Zwängen der Welt – vorher sah man in ihnen die Hölle auf Erden, deren Einsamkeit einen Seemann in den Wahnsinn treibt. Dort ausgesetzt zu werden war eine schlimmere Bestrafung als der Galgen. Der Kapitän, der so einem Mann eine geladene Waffe mitgab, galt als Menschenfreund. Immer wieder berichteten Neuankömmlinge auf unbewohnten Inseln von Skeletten, die eine rostige Pistole umklammerten. Aber darüber will ich jetzt gar nicht sinnieren. Ich vertreibe die Gedanken mit einem zweiten Cuba Libre aus der Freiluftminibar. Dann läutet die Schiffsglocke vor der Eingangstür. Es ist Hazron mit dem Abendessen.
Der zweite Tag ist Rumliegen. Träumen. Aufs-Meer-Starren. An der Cottagebar hantieren und Nüsse knabbern. Die Zeit schlurft dahin. Tagsüber schüttet es Licht, und in der jäh herabstürzenden Nacht sprühen die Sterne, als tobte eine Party am Himmelsgewölbe. „Alles gut“, schreibe ich in mein Notizbuch.
Am dritten Tag wäre das gelogen. Irgendetwas ist auf einmal anders. Ein unheimliches Ohnmachtgefühl macht sich breit. Lange weiß ich nicht, woher es rührt. Dann verstehe ich. Es sind die Schwarzdrosseln. Diese energischen, pechschwarz gefiederten Vögel mit den satanisch gelben Augen, die ohne Scheu in mein Cottage hüpfen. Als ich frühstücke, flattern immer mehr von ihnen auf meine Terrasse, picken mir den Toast vom Teller, setzen sich auf die Kaffeekanne. Der ganze Tisch ist schwarz von kleinen Teufeln. Sie legen den Kopf schräg und stieren mich an. Es ist, als wollten sie mir sagen, dass alles ein Irrtum ist. Dass es das Paradies gar nicht gibt.
Der Insel-Knigge erbittet bei Tisch lange Hosen. Von Schuhen steht da nichts
Also weg hier. Ab zur Inselinspektion. Doch die Umrundung ist nach weniger als einer Stunde zu Ende. Und auf dem Gipfel des knapp 100 Meter hohen Marni Hill merke ich erst recht, wie klein Petit St. Vincent ist und wie tyrannisch die Weite des Atlantiks. Vor der karibischen Küste aber sind noch weitere Atolle wie grüne Gemmen ins Meer getupft. Dazwischen blitzen grellweiße Segel, und die scharfkantigen Silhouetten der Fregattvögel schaukeln wie von Schnüren gezogen im Wind. So sieht also ein Land aus, das nach dem „Happy Planet Index“ der New Economics Foundation zu den zehn glücklichsten Staaten der Erde zählen soll. Gegenüber ragt der Kegelberg von Petit Martinique in die Höhe. Petit Martinique gehört schon zu Grenada und ist die Putzfraueninsel des Hotels. Die meisten seiner Zimmermädchen pendeln täglich in ihren schlumpfblauen Arbeitskleidchen zwischen dem Eiland und Petit St. Vincent. Grenada belegt in der Glücksstudie Rang 60.
Als ich beim Abstieg an einem majestätisch auf einer Felsnase thronenden Cottage vorbeikomme, halte ich inne. Erst glaube ich, mich verhört zu haben. Da trägt tatsächlich ein junges Paar einen fürchterlichen Streit aus. D. H. Lawrence fällt mir ein, der einmal schrieb, dass Verliebte es sogar in einer kahlen Zelle schön finden könnten. Doch umgekehrt stimmt das wahrscheinlich eher: Wenn zwei nicht glücklich sind miteinander, kann selbst die erhabenste Umgebung nichts retten.
Unten am Strand kommt mir eine drahtige Frau mit sechs Labradorhunden entgegen. Weißes Leinenkleid, Strohhut, nussbraunes Gesicht. Es ist Lynn Richardson, die amerikanische Besitzerin der Insel. Wir setzen uns in den Sand und sehen den Tieren beim Herumtollen zu. Dann erzählt sie mir von ihrem Reich. Das heißt, vor allem erzählt sie von Haze, ihrem Mann. Er hat das Hotel 1968 gebaut. Davor war er jahrelang mit einem Kumpel durch die Karibik geschippert. Irgendwann bekamen die beiden den Auftrag, für einen Millionär eine Karibikinsel zu kaufen. Sie fanden sie in Petit St. Vincent.
Nach und nach ging die Insel in den Besitz von Haze über, den Lynn hier in den frühen achtziger Jahren während einer Regatta kennengelernt hat. „Die Insel ist mein Leben“, sagt sie, und ihr Blick verliert sich über dem Ozean. Es sieht so aus, als warte sie darauf, dass Haze mit seinem alten Schoner über das Wasser herbeisegelt. Aber das wird er nicht tun. Haze ist tot. Vor wenigen Wochen erst starb er mit 73 Jahren vor der Küste Costa Ricas auf einem Surfbrett. Eine Welle hatte ihn gegen einen Felsen geschleudert. Lynn schiebt jetzt ihre Sonnenbrille auf die Stirn und sieht mich lange an. Ihr Mund lächelt leise. Als die Hunde wieder um unsere Beine streichen, knufft sie mir zum Abschied auf den Oberarm.
Im Cottage lässt sich mein Einsiedlertheater nicht mehr so spielen wie zuvor. Ich weiß ja nun, dass ich doch nicht allein bin. Darum verzichte ich am nächsten Abend auf den Roomservice und gehe ins Restaurant auf den Telescope Hill. Hier treffen sich die Cottagebewohner, die wieder unter Menschen wollen. Lange Hose und ein Hemd mit Kragen werden von den Herren erbeten. So heißt es jedenfalls im Insel-Knigge auf dem Nachtkästchen. Meinetwegen. Von Schuhen steht da nichts. Barfuß nehme ich Platz in einem schummerigen Saal. Ich bin der Einzige, der nicht rasiert ist. Das Personal hat seine Hawaiihemden abgelegt und trägt jetzt grau schimmernde Westen.
Um mich herum dinieren etwa zwei Dutzend Gäste. Sie kommen mir vor wie geträumt. Vom Alleinsein ausgedörrt, lausche ich den Gesprächen. Am Nebentisch sitzt eine Amerikanerin mit traubendicken Perlen um den Hals und sagt, dass sie sich Europa nicht mehr leisten könne. Flitterwöchner versenken sich in die Augen des anderen. Irgendwo schüttelt jemand zu jedem Gang bunte Pillen aus einem Glasröhrchen. Und ganz hinten sehe ich Henry am Tisch seiner Eltern in einer Mango popeln. Der Elfjährige aus London schaut genauso mürrisch drein wie neulich, als ich ihn am Strand traf. Alle zwei Jahre macht er mit seinen Eltern auf Petit St. Vincent Urlaub. „Ist doch toll“, habe ich zu ihm gesagt, „Robinson spielen in der Karibik!“ Henry sah mich entgeistert an. Er hatte keine Ahnung, wovon ich sprach. Dann schien ihm etwas zu dämmern, und er berichtete mir von halsbrecherischen Wasserrutschen, auf denen er einmal in einem griechischen Robinson-Club Spaß gehabt habe. Ja, richtig, dieser Robinson-Club. Das, bitte schön, seien Ferien gewesen!
Henry hat Kegelmuscheln gesammelt und drischt sie gegen eine Palme
Der vielleicht liebenswerteste Zug von Petit St. Vincent wird Henry sicher auch noch lange verborgen bleiben. Man begegnet ihm, wenn man durch das Inselinnere stromert und dabei alte Zausel in Hotelkluft entdeckt, die umständlich im Laub harken oder halbe Tage im Schatten einer Palme verdösen. Dann wird klar, dass die ehemalige Sozialarbeiterin Lynn Richardson hier keinen dieser gnadenlosen Dienstleistungsapparate installiert hat, sondern ihren Humanismus ins Werk setzt. Die müden Alten werden nicht aussortiert, sondern gehören einfach dazu. Von den rund 80 Angestellten arbeiten viele schon seit 30, 40 Jahren auf Petit St. Vincent, und jedes Jahr fährt ein Dutzend von ihnen auf Lynns Kosten in den Urlaub nach Amerika. Spricht man sie auf die Inselherrin an, beginnen ihre Augen zu strahlen. „Wir sind alle eine Familie“, sagen sie dann. Lynn findet, dass dieses Gefühl nirgendwo besser gedeihen könne als auf einer Insel.
Als ich ihren Garten Eden nach einer Woche wieder verlasse, bin ich ein bisschen melancholisch. Aber es ist nicht wirklich schlimm. Denn ich weiß jetzt, dass weder die Einsamkeit noch die Selbstbespiegelung einen Ort in der Erinnerung zum Leuchten bringen. Es sind immer seine Menschen. Menschen wie Lynn.
Als mich die weiße Jacht wieder zum Flugplatz bringt und wir an der Westküste von Petit St. Vincent entlanggleiten, sehe ich Henry mutterseelenallein am Strand. Er hat ein riesiges Arsenal von kokosnussgroßen Kegelmuscheln gesammelt. Immer wieder schnappt er sich eine, nimmt Anlauf und drischt sie mit Wucht gegen den Stamm einer Palme. Das Splittergeräusch kann man bis aufs Schiff hören. Für einen Moment kommt es mir so vor, als sei Henry wahnsinnig geworden.