Im zweiten Stock liegt Eritrea
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Im zweiten Stock liegt Eritrea

DIE ZEIT, Nr. 44/2009

Im zweiten Stock liegt Eritrea

 

Holzmasken im Friseursalon, Schwertkampf im Innenhof: Bei einer Führung durch die Zuwanderermilieus gehen Kölner auf Weltreise in der eigenen Stadt.

Hier stehen und wegwollen ist eins. Es ist kalt. Es regnet. Feierabendverkehr pöbelt stadtauswärts und spuckt wütende Dreckfontänen auf die Bürgersteige. Die Klinkerorgien der Köln-Deutzer Nachkriegsarchitektur machen das Fernweh noch größer. Gern würde man jetzt in die S-Bahn zum nahen Flughafen steigen. Doch ums Wegfahren geht es unserer Reisegruppe gar nicht. Wir bleiben hier.

Als der letzte Teilnehmer sich am Treffpunkt rechts des Rheins eingefunden hat, gibt der Reiseleiter Thomas Bönig das Zeichen zum Abmarsch – in eins der abgasgebräunten Häuser nebenan. Wir steigen durch einen Flur, der so mustergültig marode ist, dass man glaubt, ihn aus einem Fassbinder-Melodram zu kennen. Im zweiten Stock drückt Bönig auf eine Klingel. Die Tür geht auf, vor uns steht ein schwarzer Mann im Kapuzenpulli mit einem breiten Lächeln. Er heißt Samson Kidane und sagt: „Willkommen in Eritrea!“

In der Wohnung ist es heiß. Tabakqualm und Gewürzschwaden kitzeln in der Nase. An den Wänden hängen afrikanische Landkarten, in der Ecke plärrt ein Fernseher. Nach und nach füllt sich Samsons Wohnküche mit einem Dutzend Menschen. Sie alle haben bei Thomas Bönig den Ausflug „Interkulturelles Köln“ gebucht. Die Idee ist so naheliegend wie genial. In einer Stadt, in der rund 170 Nationen leben und fast jeder Dritte ausländische Wurzeln hat, veranstaltet Bönig Expeditionen in Migrantenmilieus. „Kulturklüngel“ nennt der freiberufliche Reiseleiter sein Einmannunternehmen, das Führungen in das indische, afrikanische, fernöstliche und lateinamerikanische Köln anbietet. Die heutige Tour des 34-Jährigen im Ethnohemd ist die erste, die mehrere Kulturen einschließt. Es ist eine Weltreise durch die eigene Stadt.

Samson verteilt Hühnchen mit Kichererbsenpüree, Fladenbrot und eine fruchtig-scharfe Soße. Er wirkt dabei so zwanglos, als bewirte er Kumpel anstatt wildfremde Menschen. Zwei seiner Freunde sind auch da und öffnen Kölschflaschen für die Gäste. Anfangs irren noch Blicke auf der Suche nach Besteck umher, dann tun wir es Samson gleich und essen mit den Fingern. Die Gespräche flammen auf, als stünden wir in einer Kneipe. Es geht natürlich um Eritrea, das so wenig von sich preisgibt wie kaum ein Land auf der Welt. Die Organisation Reporter ohne Grenzen stuft seine Pressefreiheit auf Rang 173 ein. „Das ist der letzte Platz hinter Nordkorea“, sagt Samson und lässt noch eine Schüssel Püree herumgehen. „Das muss man erst einmal schaffen“, kommentiert ein Mann mit Baseballkappe und grinst etwas unsicher.

Mit elf Jahren war Samson Soldat. Jetzt singt er Lieder von Ungleichheit

Der schlaksige Musiker Samson ist einer der 25000 Eritreer, die in den achtziger Jahren vor dem Krieg flüchteten und in Deutschland Asyl erhielten. Im Alter von elf war er Soldat geworden und hatte gegen die äthiopische Herrschaft kämpfen müssen. „Fünf Kugeln haben mich bei einem Überfall auf unser Lager getroffen“, sagt der 41Jährige und zeigt auf Beine, Bauch und Arm.

Dann kramt er ein Ding hervor, das aussieht wie eine Mischung aus Harfe und Gitarre. Es ist eine Krar, das Nationalinstrument Eritreas. Als Samson anfängt, darauf zu spielen, staunen wir. Solche Musik hat keiner von uns je gehört. Sie birst vor Kraft und klingt zugleich merkwürdig zerbrechlich. Auch Samsons Gesang in der kehligen Landessprache Tigrinya geht unter die Haut. Unterdessen verteilt ein Freund Übersetzungen der Texte, und wir wundern uns, dass sie gar nicht zu den Liedern passen wollen. Samson singt von Ungleichheit und Solidarität, von falschen Ideologien und steinigen Wegen. Die maschinengeschriebenen Zettel sehen aus, als seien sie schon durch viele Hände gegangen. „Nehmt sie mit“, sagt Samson zum Abschied und klopft jedem von uns auf die Schulter. Als wir wieder im Freien stehen, blicken wir noch einmal zurück auf das hässliche Haus, das plötzlich anders wirkt. Es ist jetzt das Haus von Samson Kidane.

Kurz darauf sitzen wir in der S-Bahn und fahren durch den Eisenverhau der Hohenzollernbrücke ins Zentrum. Der Himmel reißt auf, und die nasse Stadt glänzt in der Abendsonne, als sei sie mit Öl eingerieben worden. Ein paar Stationen hinter dem gotischen Gebirge des Doms geht es zu Fuß durch das Belgische Viertel mit seinen Waschsalonkneipen, Schmuckateliers und Plattenläden. Plötzlich biegt unser Reiseleiter in einen Gründerzeitinnenhof aus gelbem Klinker ein, in dem stilstarrende Möbeldesigner Küchen und Bäder für Zigtausende Euro feilbieten. Ganz ruhig ist es auf einmal, nur ein kreisrunder Brunnen schwatzt mit sich selbst. Die kleine Frau im Kimono, die nun hinter ihm hervortritt, hätte man fast übersehen. Es ist Yoshie Shibahara aus Japan. Sie lächelt ein beherrschtes Kirschmundlächeln und kündigt den Meister an: Sensei Chikaoka aus Tokyo.

In pechschwarzen Kimonos betreten der grau melierte Mann und sein Kölner Schüler Luciano die Szene. Sie wirken wie zwei gigantische Raben. In ihren Gesichtern liegt heiliger Ernst, als sie mit einem strikt choreografierten Samuraischwertkampf aus dem 16. Jahrhundert beginnen. Es ist ein Tanz von grimmiger Zartheit. Die Luft stöhnt, die Klingen krachen, und Yoshies Fotohandy klickt ununterbrochen. Zwei japanische Touristen sind als Zaungäste aufgetaucht und machen kennerhafte Mienen. Am Ende applaudieren wir mit gereckten Armen, und die Raben verneigen sich majestätisch. Dann packen sie die Schwerter in Koffer und verteilen Flugblätter von Lucianos Kampfschule in Köln-Nippes.

Manche Frauen aus unserer Gruppe haben da längst nur noch Augen für Yoshies sandfarbenes Gewand mit dem rot-schwarzen Schmetterlingsmuster, das sie aussehen lässt wie eine strenge Elfe. Darum geht es jetzt zur Anprobe in einen Laden für japanisches Design. Yoshie muss hinterhertrippeln – ihr Kimono erlaubt nur winzige Schritte. Sie erzählt, wie sie vor zehn Jahren nach Köln zog, an der Sporthochschule Tanz studierte und sich seitdem als freie Choreografin und Tänzerin durchschlägt. Auf Bönigs Tour moderiert sie den japanischen Teil. Als wir in der Boutique ankommen, steckt bereits eine Reisekameradin in einem Meer aus türkisem Stoff. Sie schwärmt von der stolzen Haltung, zu der das Gebinde sie zwinge. Nur das Atmen falle ihr schwer. Yoshie nestelt noch an der gewaltigen Schürze und erklärt, dass man für das Anlegen eines festlichen Kimonos zwei Stunden benötige. Thomas Bönig lächelt nur und sieht auf seine Uhr.

Japan und Ghana trennen 14000 Kilometer. Auf unserer Reise sind es jedoch nur ein paar Schritte, bis uns Bahba mit ausgebreiteten Armen empfängt. Die ghanaische Friseurin steht auf der Treppe des Zebra Tropicana. Der älteste Afro-Shop Kölns sieht aus, wie er heißt: Jede Wand und jedes Regal quillt über von Perücken, Holzmasken, Puppenköpfen und Fläschchen voller Chemikalien, mit denen Bahba gegen die Drahthaare ihrer Landsleute zu Felde zieht. Auf der Ladentheke steht lackschwarzer Kaffee bereit, aus Musikboxen hüpfen Hiplife-Songs. Der westafrikanische Hip-Hop macht Lust zum Tanzen. Läden wie diesen gibt es in vielen deutschen Städten. Doch ohne Bönigs Geschäftsidee hätten wir ihn wohl nie betreten.

Ein Priester im knielangen Hemd betet dramatisch schnurrend

Dürfen wir kichern, wenn Bahba uns vom Drama der Lockenbekämpfung erzählt? Aber sicher. Sie amüsiert sich ja selbst am lautesten. „Afrikanische Haare! Die reinste Katastrophe! Darauf liegen geht gar nicht!“, ruft sie und wirft die Arme in die Luft wie eine Gospelsängerin. Sie erzählt von den Sprösslingen deutschafrikanischer Mischehen. Bahba erkennt sie schon von Weitem am steil emporlodernden Filz. „Die Haare der Kinder muss man flechten, sonst verknäulen sie wie Watte. Aber das ist knifflig. Die deutschen Mütter sind alle total verzweifelt. Denen gebe ich dann meine Visitenkarte und empfehle, mich anzurufen. Und wissen Sie was? Jede macht es!“

Die Überraschung ist das Prinzip von Bönigs Welttour: Nur er weiß, in welchem Land wir als Nächstes landen werden. Darum ist die Vorfreude unser ständiger Begleiter. Und sie wird nicht enttäuscht. Als wir aus Bahbas Laden treten, wartet schon Anupama im sonnengelben Sari auf uns. Er leuchtet wie illuminiert im Dunkeln und lässt uns spontan applaudieren.

Die Inderin zeigt uns ein Quartier hinter dem Neumarkt, das sich gerade zu einem Einkaufsviertel der rund 30000 Kölner vom Subkontinent entwickelt. In einem wimmelbunten Supermarkt reicht sie trommelstockdünne Gemüsestängel herum. „In Indien ist das ein Aphrodisiakum“, sagt Anupama. Man sieht ihr an, dass sie dieses Thema nicht weiter vertiefen möchte. Lieber demonstriert sie im Modegeschäft nebenan die endlosen Wickelvarianten von Saris. Sie lässt einen Stoff nach dem anderen gestenreich durch die Hände gleiten, bis sie uns vorkommt wie eine vielarmige hinduistische Göttin. Kurz darauf finden wir uns im Hinterhoftrakt eines Theaters wieder. Im Labyrinth enger Gänge steigen wir über Getränkekisten und passieren schließlich eine Duschkabine. Sie gehört zu einem Raum, den sich vier Männer aus Kalkutta teilen. In dem sitzen sie nun vor uns auf dem Boden und musizieren zu Ehren des 140. Geburtstags von Mahatma Gandhi.

Dann führt uns Anupama in dieses Reisebüro, wo ein kleiner indischer Junge auftaucht und uns Samosas bringt. Es ist ein Déjà-vu aus Mumbai, Jodhpur, Ahmedabad und passt so gut zu unserer indischen Stimmung, dass wir uns gar nicht fragen, warum das Kind noch nicht im Bett liegt. Aber mehr passiert hier nicht. Warum sind wir dann gekommen? „Weil die Besitzerin eine Instanz im Viertel ist“, erklärt Bönig und zuckt mit den Schultern. „Der Besuch muss ins Programm. Sonst gibt es böses Blut.“

Der Abend endet in einem Hindutempel, der in einem gekachelten Allerweltsbau residiert. Hüfthohe Götterfiguren erinnern an ein Wachsfigurenkabinett, in der Ecke blinkt ein Om-Zeichen, es riecht nach Sandelholz und Putzmitteln. Gerade ist ein Ritual für die Göttin Durga im Gange. Ein Priester im knielangen Hemd betet dramatisch schnurrend vor zwei Dutzend Menschen. Ein Greis mit blinden Augen und schrundigen nackten Füßen schlägt eine Trommel. Anupama steht reglos da und bekommt ein Madonnengesicht. Nach der Zeremonie übersetzt sie unsere Fragen an den Priester. Als der Reiseleiter Bönig schließlich von ihm wissen will, ob er denn selbst Fragen an uns habe, lächelt er lange und entrückt. Wir glauben schon, er habe nicht verstanden, da kommt endlich die Antwort. Sie lautet: Nein.