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Logieren geht über studieren

DIE ZEIT, Nr. 43/2011

Logieren geht über studieren

 

Von wegen elitär: In den Colleges von Oxford und Cambridge können während der Ferien Touristen wohnen. Aber Vorsicht ist geboten im Umgang mit den strengen Pförtnern

Den Blick aus dem Stadtplan heben und den Kopf in den Nacken legen ist in Oxford eins. Inmitten der gotischen Himmelssehnsucht all seiner nadelspitzen Türme, Bögen, Kuppeln und Kapitelle stehen Touristen herum, als posierten sie für ein Erweckungsbild der Zeugen Jehovas. Viel mehr als hochstaunen bleibt ihnen allerdings auch nicht. Denn eintreten in die Hauptattraktionen der Stadt lässt man sie nur hin und wieder. Die 39 Colleges öffnen und schließen ihre Pforten für Besucher mit despotischer Willkür – von festen Öffnungszeiten kann keine Rede sein.

Aber das ist nicht mein Problem. Ich schreite durch das trutzige Eingangstor und passiere ein Verbotsschild, das Neugierige draußen hält. Der livrierte Pförtner winkt mich in seine Loge, drückt mir einen Zimmerschlüssel in die Hand und schickt mich weiter in einen einschüchternd leeren Innenhof. Rings um mich herum zacken dunkle Zinnen in den Abendhimmel, hinter mir blitzen die Kameras abgewimmelter Japaner. Ein kleines Triumphgefühl fliegt heran. Schließlich ist dieser Hof das Herz eines der angesehensten Colleges der Stadt. Und zwar meines Colleges. Wenn auch nur für zwei Nächte.

Möglich ist das durch Charlie Ramsay. Der damalige Oxford-Student machte vor vier Jahren eine Entdeckung: Die meisten englischen Collegezimmer standen während der Trimesterferien leer. Die Studenten werden in dieser Zeit nämlich heimgeschickt. Aber der Konferenzbetrieb, der dann beginnt, füllt längst nicht alle Betten. Was für eine Verschwendung, dachte Charlie und richtete die Internetseite www.universityrooms.co.uk ein – eine zentrale Buchungsplattform für Collegezimmer in mittlerweile 21 britischen Städten. Die Bed & Breakfast-Angebote sind viel günstiger als Hotels. Ich will sie in niedrigen, mittleren und hohen Preislagen probieren und beginne mit dem höchsten Standard – im Jesus College von Oxford.

Der Tisch klebt, als sei er imprägniert mit jahrhundertelang verschüttetem Bier

Im Eingang zu meinem Treppenhaus hängen sechs schwarze Talare, als seien gerade Harry Potter und seine Freunde zu Besuch. Die 450 Jahre alten Stufen knarren, dann quietscht der Schlüssel verheißungsvoll im Schloss. Ich betrete meine zwei winzigen Zimmer mit Bad – und bin ernüchtert, als sei plötzlich im Kino das Licht angegangen. Der Teppich wirft Falten, die Wände haben die Farbe von Kartoffelpüree, Leitungsrohre kriechen über den Putz wie in einem Dritte-Welt-Krankenhaus. Keine erratischen Kritzeleien oder vergessenen Bierflaschen sind zu entdecken, nur eine melancholisch nackte Pinnwand erinnert an ein Studentenleben. Ich lege mich auf das pritschenartige Bett und starre auf den Fleischerhaken, der aus einem Balken an der Decke ragt. Sollen sich daran etwa die Durchgefallenen aufknüpfen? Nein, erklärt eine Broschüre auf dem Nachtkästchen. Von ihm soll man sich bei einem Brand aus dem Fenster abseilen. Ich lösche das Licht und grübele lange über ein fernes Blöken. Erst als ich herausfinde, dass irgendwo jemand mitten in der Nacht Klarinette übt, schlafe ich ein.

Der Morgen im Jesus College besitzt die Gravität eines Feiertags. Wo man Stimmengeläut und adoleszenten Kraftüberschuss erwarten würde, herrscht während der Ferien phlegmatische Ruhe. Bedienstete tragen mit vornehm kleinen Schritten Zeug über den Hof. Männer sitzen auf Bänken und stieren in Laptops. Ein paar Touristen hat man jetzt auch hereingelassen. Alle fotografieren die Graffiti über den Treppenaufgängen. Mit bunter Kreide sind dort die Namen anderer Eliteuniversitäten aufgemalt, die den Jesus-Ruderern auf der Themse unterlagen. Men’s I Division bumped University Worcester, Keble and Christ Church, heißt es über einem der Stiegenhäuser. Ein Zimmermädchen aus der Karibik verrät mir andächtig, dass darin der spätere Ministerpräsident von Jamaika seine Bleibe hatte. Gleich nebenan wohnte Lawrence von Arabien, ein Stück weiter der zweimalige britische Premierminister Harold Wilson. Allein 26 Regierungschefs des Vereinigten Königreichs hat Oxford hervorgebracht.

Am Tag darauf treffe ich in der Dining Hall Michael zum Frühstück, einen angehenden Doktor der Physik mit rotem Wuschelkopf. Um acht Uhr, denn schon eine halbe Stunde später wird das Buffet abgeräumt. Unter dem strengen Blick der Collegegründerin Elisabeth I. vertilgen wir an einer kegelbahnlangen Tafel Würstchen, Speck und Baked Beans. Der Tisch klebt wie imprägniert von jahrhundertelang verschüttetem Bier. Jedes Husten detoniert geradezu in dem Saal voller Stuck, Ölgemälde und düsterer Wandpaneele. Michael schwärmt von der Betreuung in Oxford. „Hier haben die Studenten Anspruch auf mindestens ein Einzeltutorium pro Woche bei einem Dozenten“, erzählt er und schaufelt sich eine Ladung Bohnen in den Mund. „Und wenn ich nachts eine Mail an meinen Professor schrieb, konnte ich die Antwort zum Frühstück lesen.“ Während in Deutschland rund jeder zweite Student hinschmeißt, beträgt die Abbruchquote in Oxford gerade mal ein Prozent.

Das ist in Cambridge nicht anders. Die ewige Konkurrentin erreiche ich nach einer dreistündigen Busfahrt durch geisttötende Ackerlandschaft. Als ich mit meinem Gepäck über das Kopfsteinpflaster der Fußgängerzone rattere, ahne ich, warum Oxford mit Athen verglichen wird und das ruhigere Cambridge mit Sparta. In Oxford ballen sich Pubs, in denen man stolz ist auf einen Studenten wie Bob Hawke. Der leerte 1963 in der Turf Tavern anderthalb Liter Bier in elf Sekunden und stellte damit einen Weltrekord auf. Später hat er es dann noch zum australischen Premierminister gebracht.

Zu Cambridge passt so etwas nicht. Hier konzentrieren sich eher Geschäfte für Gelehrtenbedarf. In ihren Auslagen liegen Doktorhüte, Schals und Manschettenknöpfe in den Farben der 31 Colleges. Die berühmtesten von ihnen erheben sich im Bleilicht des Nieselregens wie monumentale Märchenschlösser. Dennoch wirken sie bleicher und strenger als jene von Oxford. Da passt es, dass ich ein Zimmer im Sidney Sussex College gebucht habe. Das ist die Schule der Puritaner.

Der erste Eindruck jedoch ist ein anderer. Im Pförtnerhäuschen riecht es nach Parfüm wie in einer Transvestitengarderobe. Bis eben habe hier eine Konferenz von Kosmetikerinnen getagt, erklärt der Pförtner. Mit solchen Veranstaltungen verdienen die Colleges während der Ferien Geld. „Gerade haben wir einen Hochbegabtenverein im Haus. Jeder von denen hat einen IQ von über 130. Sehr komplizierte Leute.“ Dass sich die in Cambridge treffen, leuchtet ein. Die Stadt kommt auf mehr Nobelpreisträger als ganz Deutschland. Auch mein College hat fünf von ihnen ausgebildet.

Die Pförtner gelten als Siegelbewahrer der Eliteschulen. Angeblich wurden ihre Posten zuweilen mit illegitimen Sprossen des Königshauses besetzt. Seit mich die Melonenträger des Trinity College einmal in Landjunkermanier vom Rasen gejagt haben, glaube ich daran. Manchen falle die Umstellung schwer, erzählen fortschrittlichere Kollegen. Sie müssten noch lernen, dass sie es 16 Wochen im Jahr nicht mit Teenagern zu tun haben, sondern mit Kunden. Viele Colleges wollen Dienstleister werden. Sie renovieren ihre Zimmer für Gäste oder bauen an.

Dass man dabei auch ein bisschen übertreiben kann, zeigt meine kleine Suite im Klosterhof des Sidney Sussex College. Der elegante Sessel, das Schuhputzzeug, der Beutel mit Toilettenutensilien – das alles erinnert eher an ein Designhotel als an eine Studentenbude. Und das soll mittlerer Standard sein? „Immerhin haben Sie nur ein Bad auf dem Flur“, erklärt Keith Willox. Er ist hier der domus bursar . Heute würde man wohl Facility-Manager sagen. Keith ähnelt dem Schauspieler Robin Williams: sanfte Augen, viriles Kinn. Als er mir die Zimmer zeigt, komme ich mir vor wie im Hochsicherheitstrakt. Lichtschranken lassen die Gänge Abschnitt für Abschnitt erstrahlen. Feuertüren öffnen sich nur auf Schalterdruck. Schlösser verlangen nach Zahlencodes.

„Wir verbessern unser Sicherheitskonzept ständig“, sagt Keith und reckt sein Kinn. Vor drei Jahren war er noch Geschwaderkommandeur der Royal Air Force im Irak. Er zeigt mir die Rokokohalle, in der gerade ein spanischer Chor Kaffee trinkt. Auch hier sind keine Studenten zu sehen. „Seien Sie froh“, feixt Keith und öffnet das Tor zur Kapelle, wo der Schädel des Republikgründers Oliver Cromwell in einer Keksdose beigesetzt ist. Wo genau, kann Keith nicht sagen. Nur drei Tutoren kennen die Stelle. Dann bittet er eine Treppe hinab. Sie führt zu unterirdischen Gängen, in denen 20000 Flaschen Wein und 100 Jahre alte Brandys in Munitionskisten aus dem Ersten Weltkrieg lagern. „Das ist auch ein Investment“, sagt Keith und pustet den Staub von einer Flasche Port. „Man braucht nur einen anderen Begriff von Zeit.“

Unterm Baum hüpft ein Hochbegabter. Sein Bumerang hängt in der Krone fest

Das Schönste am Sidney Sussex College ist der Garten. Buchsbaumkugeln, raketenförmig getrimmte Eiben, Beete in auf- und absteigenden Farbtönen – hier herrscht das Pathos der Vernunft. Nichts aber geht über den Rasen. Er ist kurz wie Robbenfell und so dicht, dass er unter den Sohlen federt. Ich darf ihn sogar betreten. Unwillkürlich verschränke ich die Arme hinter dem Rücken wie ein Gelehrter und drehe meine Runden.

Doch irgendwann stimmt etwas nicht mehr. Natürlich, es ist der Krach. Da biegt schon eine Gärtnerarmee mit winzigen Traktoren und Federrechen um die Ecke. Ihr Chef heißt Trevor; ich frage ihn nach dem Geheimnis des englischen Rasens: „Wir mähen das Gras nur mit Spindeln. Die schneiden die Halme glatt wie Papier. Sicheln dagegen machen Spliss. Scheußlich!“ In diesem Moment unterbricht uns aufgeregtes Geschrei. Unter einem Baum hüpft ein Hochbegabter. Der Mann hat seinen Bumerang in die Krone gepfeffert. Trevor verdreht die Augen und holt eine Leiter.

Oxford und Cambridge sind gelehrte Inseln auf der Insel. London nicht. Es ist der Ort der Regierung, der Banken, der Kunst. Für Bücher ist wenig Platz. Es sei denn im Stadtteil Bloomsbury, wo die British Library und die University of London residieren – und meine letzte Unterkunft. Ich beziehe mein Zimmer unterster Kategorie im weinroten Klinkerpalais des William Goodenough College. An der Rezeption empfängt mich kein uniformierter Pförtner, sondern eine junge Inderin in Jeans, die ich erst für eine Studentin halte. Das Zimmer ist sauber, das Bett prima. Aber der Raum hält, was seine Kategorie verspricht: Die zerschrammten Möbel stünden bei jedem Sperrmüll lange auf der Straße.

Dafür sind endlich Studenten da. Das Goodenough ist ein College für Graduierte aus knapp 100 Ländern, von denen nur die Hälfte in den Ferien nach Hause muss. Im Aufzug steigt ein Doktorand aus Thailand in flatternden Guruklamotten zu. In der Hand hält er Tüten mit scharf gewürztem Essen, die den Lift wie eine Garküche riechen lassen. „Learning, learning, hungry, hungry!“, ruft er, als er im dritten Stock davonraschelt.

Abends trifft man sich in der Studentenbar, die so laubenhaft zusammengenagelt ist, dass sie auch als Partykeller eines Gemeindezentrums durchginge. „Dafür ist sie wahrscheinlich genauso billig“, sagt ein Gast und bestellt noch ein Ale. Sein senfgelber Anzug unterscheidet ihn vom Bohemelook der anderen Tresentrinker. Er sei ja auch gar kein Student, erklärt er. Seine Frau studiere Gesang, und mit ihr teile er sich ein Familienzimmer im College. „Da gibt es sogar einen Kindergarten. Vielleicht haben wir deswegen in diesem Jahr schon vier Geburten im Haus.“

Wir wechseln in einen Pub am Rand von Bloomsbury. Hier wirkt niemand mehr, als sähe er sich gern im Talar. Der ganze Laden dampft vor rüder Herzlichkeit. Auf der Bühne spielt eine Band und bringt eine halbstündige Version von Sympathy for the Devil. Die Leute toben. Ich auch. Genau so etwas brauchte ich wohl nach meinen Tagen in Oxford und Cambridge. Deren Colleges mögen die Herzkammern der akademischen Welt sein. Doch der große Spaß ist dort nicht zu Hause. Er wohnt hier. Im Überschwang des ganz normalen Lebens.