20 Feb Meer oder weniger
DIE ZEIT, Nr. 22/2005
Meer oder weniger
Die Idee der Billigflieger wurde zu Wasser gelassen. Mit null Komfort und einem Kapitän in fünf Funktionen pendelt das Kreuzfahrtschiff „easyCruiseOne“ zwischen Saint-Tropez und Portofino
Es war ein Auftakt wie aus den Memoiren eines Illustrierten-Playboys. Mit Prada, Gucci und Armani, mit silikongepäppelten Frauenlippen und Herren in weißen Anzügen. Es roch nach Geld und Status, und die Côte d’Azur schien mit Macht beweisen zu wollen, dass am Ende alle Klischees wahr sind. Doch schon bald lief der Glamour auf Grund. Das Einzige, was dann half, war Alkohol. Aber der Reihe nach.
Im Hafen von Cannes zeigt sich das Meer noch in bester Laune. Es funkelt in der Frühlingssonne wie ein frisch gereinigter Swimmingpool und flirtet mit einem Schiff, das anders ist als die anderen. Es trägt ein Lackkleid in Orange und erscheint merkwürdig hybrid. Wie eine schwimmende, Tausende von Bruttoregistertonnen schwere Konfektschachtel. Die Flaneure an der Mole sind sich einig: Nie hat sich ein poppigeres Kreuzfahrtschiff an die Côte d’Azur gewagt.
Die Stimmung an Bord ist aufgekratzt. Alles wartet auf die große Sause. Frauen mit formvollendeten Stupsnasen knipsen ihr Lächeln an. Hostessen in orangefarbenen Kleidchen durchstöbern mit großen Augen die Räume. Männer, die mit ihren Sonnenbrillen auf die Welt gekommen sein müssen, lachen laut. Gewöhnliche Passagiere sind auch zugegen. Doch dies ist nicht ihre Nacht. Es ist die Nacht der FOS, der Friends of Stelios.
Kabinen gibt es für knapp 40 Euro. Die Reinigung kostet extra
Der Mann mit den vielen Freunden heißt Stelios Haji-Ioannou und ist einer der erfolgreichsten Jungunternehmer Europas. Er gründete die Discount-Fluglinie easyJet und mehr als ein Dutzend weitere Unternehmen, die alle mit „easy“ beginnen. Als die Dunkelheit über Cannes hereinbricht, erscheint der pummelige Zypriote in einer sacharinweißen Uniform mit goldenen Knöpfen und schokoriegeldicken Schulterklappen an Deck. Auf seiner Tellermütze prangen die Buchstaben seines Vornamens, bei dem allein er genannt werden will. Und unter dem Lackschild strahlt das pausbäckige Gesicht eines Lausbuben, der wieder einmal einen Streich ausgeheckt hat. Und genau so ist es. Der jungenhafte 38-jährige Milliardär ist gekommen, um die Jungfernfahrt seines neuesten Coups einzuweihen: easyCruise.
In sein neues Unternehmen investierte Stelios knapp zwanzig Millionen Euro. Er kaufte einen italienischen Luxusliner aus zweiter Hand, nannte ihn easyCruiseOne und ließ ihn vom Kasinoschiff zum Billigvergnügungsdampfer umbauen. Alles, was eine klassische Kreuzfahrt teuer macht, ging über Bord. Auf der easyCruiseOne gibt es keine eleganten Restaurants, keine Wellness-Anlagen, keine Bühnenshows. Das Interieur der 74 fensterlosen Doppelkabinen beschränkt sich auf zwei Matratzen und eine Nasszelle. Das Neonlicht lässt die winzigen Unterkünfte noch trostloser wirken. Die Reinigung kostet extra.
easyCruise bucht man online. Deswegen steht die Internet-Domain in riesigen Lettern auf dem Rumpf. Kabinen gibt es ab knapp 40 Euro pro Person und Nacht. Selbst die preiswerteste Konkurrenz ist dreimal so teuer. „Cityhopping auf See“ nennt Stelios seine Fahrten. Länger als sechs Stunden dauern sie nie. Die meiste Zeit liegt das Schiff in Hafennähe vor Anker. Auf diese Art klappert die easyCruiseOne im Wochentakt die Côte d’Azur und die italienische Riviera ab. Von Nizza über Cannes und Saint-Tropez nach Monaco, dann weiter über Genua und Portofino nach Imperia in der Nähe von San Remo. Tags darauf ist man wieder in Nizza, und die Tour beginnt von neuem. Wie lange man an Bord bleibt, bestimmt jeder selbst. Mit easyCruise erlebe man die Jet-Set-Küste aus der Perspektive eines Yachtbesitzers, sagt Stelios, der es wissen muss. Und weil man immer erst frühmorgens ablege, sei easyCruise perfekt für das Nightclubbing mit den Reichen und Berühmten.
Das klingt, als wolle man einen Nachwuchskader der Friends of Stelios an Bord locken. Doch der erste easyCruise-Einsatz kommt wenig mondän daher. Man trifft junge Verwaltungsangestellte, Verkäuferinnen und Studenten, drei Viertel davon sind Briten. Auch ergraute Amerikaner und pensionierte Lehrer gehören zu den Kreuzfahrern. Sie tragen telefonbuchdicke Reiseführer mit sich herum und helfen, das Durchschnittsalter auf 35 Jahre zu hieven. Kinder indes sieht man keine: Minderjährige sind auf der easyCruiseOne unerwünscht.
Gegen Ende der Premierenparty in Cannes sickert durch, dass die exaltiertesten Damen des Abends im Auftrag einer Agentur am Schampus nippen. Der PR-Fuchs Stelios, der sich vor ein paar Jahren in den Jungfernflug der British-Airways-Discounttochter GO schmuggelte, ein knallorangefarbenes Outfit überzog und Gratistickets für easyJet-Flüge verteilte, liebt es schrill. Und diese Vorliebe überlässt er nicht dem Zufall.
Stelios’ Marketingtalent ist es zu verdanken, dass auf der easyCruiseOne nicht weniger als drei Filmteams für Publicity sorgen. Sie drehen für den britischen Sender Sky Channel eine neunstündige Doku-Soap über das Treiben an Bord. Der Produzent hofft, dass sich die easyCruiseOne noch zu einem richtigen Partyschiff entwickelt. Seine Mitarbeiter an Bord zweifeln daran. Es fehle der Übermut, nörgelt Kameramann Neil schon bald nachdem die Glitzermenschen abgezogen sind. Was er damit meint, sind mehr Passagiere wie Pinky. Die Londoner Event-Managerin mit den faustgroßen Strassohrringen und der alles durchdringenden Lachsirene überredete gleich am ersten Tag einen der Sicherheitsleute, ihr unter den Passagierfotos im Bordcomputer die der allein reisenden Männer zu zeigen. Sie habe sich die Kabinennummern gemerkt, sagt sie seitdem, und es klingt wie eine Drohung.
Aber die Party ist vorbei und das Meer verkatert. Über Nacht hat es sich in ein bleigraues Ungeheuer mit schaumiger Mähne verwandelt. Mit Windstärke acht wühlt jetzt der Mistral durch das Wasser und verhindert, dass das Beiboot nach Saint-Tropez auslaufen kann. Als Ersatz geht es ins spröde Toulon. Statt Glamour empfängt dort die Tristesse eines Marinestützpunktes die Ausflügler. Vor Monaco ist es kaum besser. Der Billigkreuzer darf nicht in den Hafen, und die grimmige See lässt die Fähre, mit der es an Land geht, auf den Wellen hüpfen wie eine über Bord geworfene Kuchenform. Vom Nachmittag an kann niemand mehr das Schiff verlassen. Also sitzt man in einer der zwei Bars und mampft Hamburger oder pappige Pizza. Man starrt auf die fürstliche Skyline, die aussieht, als hätte man ein Stück Hongkong an die Mittelmeerküste verpflanzt, und träumt von fruits de mer.
Als später die Hochhäuser verheißungsvoll zu glimmen beginnen, wird das Gemüt vollends melancholisch. Man trinkt. Aus Enttäuschung und aus Gier. Denn Stelios hat für Pannentage wie diesen verfügt, alkoholische Getränke umsonst auszugeben. „Ship happens“, kalauert Geoffrey aus Aberdeen und ruft mit rotem Kopf nach dem nächsten Pint Bier. Und während Bill die dritte Flasche Rotwein servieren lässt, reckt Gordon aus Toronto an der Reling sein Glas Gin Tonic in die Höhe und prostet der Wahlheimat seines Gönners zu: „It’s not so easy, Stelios!“
Stelios ist schon lange verschwunden. Vermutlich nach London, wo er als einer der beliebtesten Geschäftsleute Großbritanniens sein Imperium regiert. Von 16 Unternehmensgründungen wie der Autoverleihfirma easyCar oder der Gastronomiekette easyInternetCafé sollen höchstens drei Firmen Gewinne abwerfen. Die Easy-Holding veröffentlicht keine Zahlen. Doch jeder Experte ist sicher: Sie sind nicht orange, sondern rot. Nichts reicht bisher an Stelios’ Meisterstück easyJet heran. Vor fünf Jahren brachte er die Fluglinie an die Börse, die dieses Jahr 30 Millionen Passagiere befördern wird. Sein Aktienpaket dient ihm als Kriegskasse. Immer wenn Stelios etwas Neues einfällt, verkauft er ein Stückchen easyJet. Im vergangenen Jahr ist sein Anteil von 25 auf 18 Prozent geschrumpft. Der Sohn eines griechischen Schiffsmagnaten leidet unter dem, was in seinen Start-up-Unternehmerkreisen „postkoitale Frustration“ genannt wird. „Anfangen ist super“, verriet er einem Partygast, „aufhören auch.“ Nur das langweilige Tagesgeschäft liegt ihm nicht.
Dafür ist Roy Deaman zuständig. Er gehört zu jenen Menschen, deren Autorität über jeden Zweifel erhaben ist. Ein Mann wie ein Naturgesetz. Der Mittsechziger mit dem willensstarken Kinn und den messerscharfen, senkrecht verlaufenden Falten ist der Kapitän der easyCruiseOne. Wöchentlich telefoniert er mit Stelios, um Schiff und Konzept zu optimieren. Von beidem ist der Südafrikaner tief überzeugt. Er sagt Sätze wie: „Wir werden neue, größere Schiffe bauen.“ – „Wir werden in der Karibik kreuzen.“ – „Wir werden Erfolg haben.“ Man glaubt ihm jeden einzelnen. Deaman leitete schon eine eigene Kreuzfahrtgesellschaft und einen Safaripark in Kenia. An easyCruise gefällt ihm das Multifunktionale. Hier ist er Kapitän, Manager und Funkoffizier in Personalunion. Und selbst wenn einer der Passagiere auf einen Seeigel tritt, landet er bei Roy Deaman – der Mann in der weißen Uniform amtiert auch als Schiffsarzt.
„Here comes fun!“, ruft Dave, der DJ, nach jedem vierten Lied
Jedes Mitglied der 54-köpfigen Crew arbeitet so. Etwa Agnieszka aus Stettin, die nicht nur im Snack-Restaurant Sandwichs röstet und Kaffee brüht, sondern auch den Boden wienert. Blond ist sie, zart und ernst, und wenn man sie etwas fragt, zuckt sie immer ein wenig zusammen. Dann lächelt sie ängstlich und sucht auf ihrem Namensschild die Antwort. Agnieszka ist das Schiff nicht geheuer. Immer wieder kann man sie im Kampf mit den Zicken des Buchungssystems beobachten. Dann ziehen grüne Digitalanzeigen wie die Hieroglyphen einer fernen Galaxie vor ihr vorüber, und es sieht aus, als wollte sie den Monitor mit ihren polnischen Eiswasseraugen beschwören. Arme Agnieszka. Man möchte sie in den Arm nehmen und vor allem schützen, was der zypriotische Tausendsassa und sein schneidiger Mister Deaman noch nicht optimieren konnten.
Neun Nationalitäten arbeiten auf dem Schiff – zwölf Stunden am Tag und sieben Tage die Woche für ein Monatsgehalt von kaum mehr als 600 Euro. Bis zum Saisonende im Oktober gibt es keinen einzigen freien Tag. Allen hat man gesagt, sie sollten lächeln, wenn sie Passagieren begegnen. Manchmal fällt ihnen das eine Sekunde zu spät ein. Dann mischen sich Unsicherheit und Reue in ihren Mienen. Burschen wie Anselum oder Bonifacio passiert das nie. Sie gehören zu den 16 Indern aus Goa, die an Bord kellnern, spülen und putzen. Ihnen das Lächeln aufzutragen ist, als würde man ein Kind zwingen, Zuckerwerk zu essen. Ein halbes Jahr lang hausen sie zu viert auf acht Quadratmetern in den Eingeweiden des Schiffs. Doch nicht einmal das kann ihre Heiterkeit trüben. Wer sie nicht in sein Herz schließt, hat keins. Man wünscht ihnen das Glück zurück, das sie bei ihrem letzten Arbeitgeber nach zehn Jahren verließ. Der hieß Festival Cruises und machte 2004 Pleite. Der Versuch, auf Kampfpreise umzustellen, hatte die italienische Reederei ruiniert.
Das Gegenstück zur indischen Liebenswürdigkeit hat einen Namen: Dave. Der fürchterliche Dave aus Newcastle. Ein mürrischer Kinderschreck mit abstehenden Ohren und merkwürdigem Schlafzimmerblick. Er ist der Discjockey des Schiffs und traktiert die Gäste bis in die Morgenstunden mit dem Schlimmsten, was die angelsächsische Popmusik zu bieten hat: dem Frühwerk von Britney Spears, fiepsige Versionen der Rocky Horror Picture Show, drittklassige Boygroups der neunziger Jahre. Sogar die immer angetrunkenen vier Pennäler aus Birmingham, deren Tätowierungen so fröhlich wirken wie ihre Laune, fliehen vor ihm in den Whirlpool aufs Oberdeck. Meistens leuchtet auf Daves Kopf eine orangefarbene Baseballmütze. „Hello Sailor“ steht darauf. Immer nach drei, vier Stücken hält er sich ein Mikrofon schief vor den Mund und ruft: „Here comes fun! Can you believe that?“ Ja, Dave, denkt man nachts in seiner euphorisch lackierten Spaßkabine. Wir glauben es. Alles ist orange. Und ohne dich wäre es auch easy.
Die Nächte mit Dave sind eine Qual, doch die Vormittage erquicken. In dieser Zeit zischt die easyCruiseOne mit schäumender Schleppe durch die Gletscherbläue des Mittelmeers. Es sind die Andachtsstunden, in denen man dem Meer huldigt. Gleich nach dem Aufwachen. Denn in den Kabinen knarrt und zirpt und brummt es wie in einem gestörten Telefonhörer. Man holt sich hastig bei Agnieszka einen Pappbecher mit Kaffee und macht der See seine Aufwartung. Dann steht man an der Reling, schnuppert den salzigen Wind und beobachtet die Wellen, die alle verschieden sind und doch gleich.
Schon am Mittag hat das Sinnieren ein Ende. Rostige Hafenspeicher und bröckelnde Industriefassaden stehen Spalier, als das Schiff Kurs auf ein wogendes Dächermeer hält. Ein Chaos aus Ziegeln und Blech tut sich auf, in dem Türme, Kuppeln und Zinnen zu ertrinken scheinen. Das Chaos heißt Genua. Die easyCruiseOne ankert direkt vor seiner riesigen Altstadt. Sie liegt nur einen Steinwurf von den Kais entfernt, und in wenigen Minuten hat einen ihr steinerner Irrgarten verschluckt. Zwischen den Dächern der fünf bis sechs Stockwerke hohen Häuser sieht man den Himmel wie durch Schießscharten. Und immer wieder führen die Gassenschluchten auf Plätze, die plötzlich wie verwunschene Lichtungen vor einem liegen. Genua ist eine Stadt voll schroffer Magie, doch für Stelios’ Nachtschwärmer hat sie nicht viel übrig. Spätestens um Mitternacht leeren sich die wenigen Bars. Auf dem Rückweg zum Schiff verwandelt sich dann die Altstadt in einen düster drohenden Mauernwald voller zwielichtiger Gestalten.
Gleich neben der Kapitale Liguriens liegt Portofino. Das Städtchen ist der vorletzte Ort, den easyCruise besucht, bevor es nach Nizza zurückgeht. Wie eine Sichel umschließen ochsenblutrote, lindgrüne und ockerfarbene Häuser eine winzige Bucht. Stolze Yachten dümpeln im Wasser. Auf den Hügeln thronen Kastelle und Kirchen. Und aus dem überbordenden Grün leuchten prächtige Villen hervor. In den fünfziger und sechziger Jahren ließen sich hier die Hollywood-Größen sehen. Rempelten heute nicht Touristenhorden in den Gassen, wäre Portofino ein Paradies voll duftender Nostalgie. Dann könnte man meinen, gleich bögen Humphrey Bogart und Lauren Bacall um die Ecke, und Greta Garbo tränke auf der Uferpromenade Kaffee.
Schließlich wird es Abend, und auf einmal sind die Touristen auf ihren Kreuzfahrtschiffen und Ausflugsbooten verschwunden. Dann legt sich Ruhe über Portofino wie eine weiche Decke. Es ist die Zeit, in der das Licht zu zaubern beginnt und einem als Passagier der easyCruiseOne wieder einfällt, dass man keine Eile hat. Wer dann seinen Frieden schließen kann mit den Preisen für eine Flasche Wein auf der Piazza, der wird irgendwann seufzen vor lauter Schönheit des Orts. Und vielleicht wird er später sein Glas heben und dem orangeroten Punkt im Meer zunicken und dabei dankbar flüstern: „Prost, Stelios, alter Operettenadmiral!“