Säufer vor dem Herrn
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Säufer vor dem Herrn

DIE ZEIT, Nr. 33/2013

Säufer vor dem Herrn

 

Am Atitlán-See in Guatemala kümmern sich die ansässigen Maya jetzt selbst um die Touristen. Eine Reise mit viel Magie, kleinen Fischen und etwas Alkohol.

Geht es hier wirklich um mich? Kaum zu glauben. Die Asociación Ijatz hat sich herausgeputzt wie für einen Staatsbesuch. Fähnchen hängen von der Decke, auf der Tafel stehen Wimpel, frittierte Bananen und Kuchen mit Zuckerguss. Eine Armada von Kannen ist auch da. Aus ihnen fließt starker Kaffee, der so beflissen nachgeschenkt wird, dass ich mir langsam Sorgen um meine Nachtruhe mache. Ablehnen geht nicht, das ist klar. Denn der Mokka ist der Stolz der Kooperative von Kaffeebauern in San Lucas Tolimán, einem Dorf am Ufer des Atitlán-Sees im Hochland von Guatemala.

In konfettibunt prunkenden Trachten sitzen die Indianer um den Tisch, wer etwas sagen will, hebt die Hand wie ein Schulkind. Schnell ist das Thema gefunden, von dem sie mir erzählen wollen: der Kaffeerost, der ihren Sträuchern mit seinem orangeroten Ausschlag den Garaus macht. Nur wie der Krankheit beizukommen wäre, das wissen sie nicht. Die einen sind für Chemie, die anderen für noch aufwendigere Mayarituale. Als alles gesagt ist, wird es plötzlich still, und der Präsident sieht mich fragend an. Sein Gesicht wirkt jetzt noch melancholischer und schwerer, sein winziges Panamahütchen noch grotesker. Es dauert etwas, dann begreife ich: Die Kaffeebauern warten auf den weisen Rat ihres Gastes aus Deutschland. Ich aber nippe nur verlegen an meiner fünften Tasse. Da erlöst mich Marlons flammender Appell. Die Rituale sollen es richten, was denn sonst!

Marlon Calderón ist ein Mittdreißiger mit hehren Gesten und Geschäftsführer von Viva Atitlán, dem kürzlich gegründeten ersten indianischen Touranbieter Guatemalas. Der Verbund aus elf lokalen Vereinen will Touristen mit Ausflügen zu Kaffeepflückern, Fischern oder Kunsthandwerkern das Leben der Maya zeigen, die in den zwölf Orten rund um den Atitlán-See zu Hause sind. Während etwa die Hälfte der Guatemalteken indianischen Ursprungs ist, gehören hier fast alle zu einem der knapp zwei Dutzend Mayavölker des Landes. Und nirgendwo scheint ihre mystische Welt besser aufgehoben zu sein als an diesem See: Wie ein stahlblauer Spiegel liegt er inmitten einer Landschaft, die wohl den Hauptgewinn zog, als einst der Lostopf mit den Panoramen herumging. Drei von Lavafurchen geäderte Vulkane wachen mehr als 3.000 Meter hoch über Wasserfälle und die maßlose Vegetation von Regenwäldern. Ihre Kegel sind so emblematisch geformt, dass man meint, im Bühnenbild eines naiven Malers gelandet zu sein. Und auch der See selbst liegt im Krater eines Vulkans: Vor 85.000 Jahren schleuderte der Berg so viel Magma in die Luft, dass er zusammenbrach und sich mit Wasser füllte.

Kein Wunder, dass der Atitlán-See zu den bedeutendsten Zielen des nationalen Tourismus zählt. Der Region scheint das allerdings nicht zugutezukommen – sie ist die viertärmste von Guatemalas 22 departamentos. „Das Geld bleibt bei großen Reiseveranstaltern und ein paar Hotels hängen“, sagt Marlon auf dem Weg zu unserem Boot mit Außenbordmotor. „Das wollen wir ändern, indem wir Besucher viel mehr mit Einheimischen zusammenbringen.“ Marlon reckt das bärtige Kinn und schaut kämpferisch unter dem Schirm einer Drillichkappe hervor. Er gleicht jetzt noch mehr als sonst einem etwas fülligen Wiedergänger Che Guevaras.

Auf unserer Überfahrt nach San Juan am Ostufer tanzen Licht und Schatten so kunstvoll über die froschgrünen Kraterwände, dass man glaubt, eine gigantische Projektion sei im Gang. Doch plötzlich verdunkeln Wolken die Show, und kurz darauf geht es auf dem See zu wie in einem brodelnden Kochtopf. Der Xocomil ist da. So heißt ein feuchter Fallwind, der vom Pazifik kommt, über dem Hochland abkühlt und am Nachmittag in den Kessel hinabfährt. Während Regen auf das Boot einpeitscht und brettharte Wellen uns den Hintern versohlen, ist es Zeit für eine von vielen Legenden, die Marlon auf Lager hat. Im Xocomil lebe der Geist eines Kriegers, der seine Geliebte verzweifelt suche, seit sie das Opfer der Fluten geworden sei, ruft er mir ins Ohr.

Als ich mich schon frage, ob er denn demnächst auch uns im See suchen wird, taucht der Anlegesteg auf. Klatschnass erklimmen wir das Häusergewürfel von San Juan, das amphitheaterhaft steil am Hang klebt. Irgendwo ganz oben stehen Victoria und Clemente im Türrahmen und bitten uns in einen Innenhof. Kinder krabbeln zwischen Hühnern, ein Großvater grüßt zahnlos. Die beiden führen eine Posada Maya, eine Privatunterkunft, mit einem einzigen Gästezimmer. Sie ist Teil eines Herbergsnetzwerks, das mit Viva Atitlán zusammenarbeitet. Stolz zeigen die beiden ein Buch mit Danksagungen ihrer Kundschaft. Ob die auch hier zu Abend aß? Victoria serviert handtellergroße Fische voller Gräten. Um sie zu vertilgen, braucht man die stoische Sorgfalt eines Chirurgen. Dass Touristen heikle Esser sein können, hat ihr wohl noch niemand gesagt.

Gefangen hat die Fische Bernardino. Auch den kann man besuchen, man muss nur früh genug aufstehen. Kurz nach dem Morgengrauen steige ich ins Kanu des immerzu lächelnden Präsidenten der Asociación Chazjil Chupup, einer Vereinigung von Fischern. Lautlos gleiten wir durch asphaltgraues Wasser. Bernardinos nackte Füße sehen so klobig aus, als habe sie jemand mit wenigen Meißelhieben aus Teakholz geschnitzt. Immer wieder seufzt er genüsslich und hebt gravitätisch die Hand, wenn uns einer seiner Kollegen entgegenpaddelt. Sie tragen Taucheranzüge und haben mit der Harpune Jagd auf die sofakissendicken Bass-Fische gemacht. Wir aber verzichten beim Angeln unserer Brujil-Fischchen sogar auf eine Rute. Nur mit Schnur und Haken holt Bernardino einen nach dem anderen so zuverlässig heraus, als ziehe er Schokoriegel aus einem Automaten. „Vor drei Jahren gab es hier praktisch nichts zu fangen“, erzählt er. „Der See war krank. Braun wie Milchkaffee sah er aus. Das lag an der Erde und den Bakterien, die durch schwere Regenfälle von den Kaffeeplantagen in den See gespült worden waren.“ Damals begannen die Fischer das bedrohte Tul-Schilf nachzusäen. „Tul filtert das Wasser“, sagt Bernardino. „Wir helfen der Natur dabei, sich selbst zu helfen.“ Er seufzt wieder und schaut über den See, als habe er Fernweh. Wie weit hat es ihn im Leben denn schon aus seinem Heimatdorf hinausgetragen? Bernardino zeigt auf den übernächsten Ort im Dunst: „Bis dorthin, nach San Marcos. Da haben mir aber ganz schön die Arme wehgetan von der Paddelei.“

Vater Sonne wird helfen

Der Atitlán-See ist das Trinkwasserreservoir für die 350.000 Einwohner der näheren Umgebung – das sind doppelt so viele Menschen wie noch vor zehn Jahren. Hier hat kaum ein Paar weniger als fünf Kinder, und das Auswandern steht nicht mehr hoch im Kurs. Die ständig wachsenden Dörfer sind darum vollgepackt mit hässlichen Rohbauten. Erst recht Santiago, der mit 45.000 Einwohnern größte Ort am See. Doch die leuchtende Trachtenpracht der Maya stellt das Betongrau leicht in den Schatten. Vor allem am Markttag, wenn Bewohner verschiedener Dörfer mit ihren jeweils eigenen Farbmustern die auf- und absteigenden Straßen bevölkern. Dann scheinen sich all die Wickelröcke, Hosen, Blusen und Westen zu einem Feuerwerk aus Safrangelb, Agavengrün und Cyanblau, aus Flamingorosa, Papageienrot und Fliederlila zu entzünden.

Mit wie viel Geschick die Kleidungsstücke entstehen, wird bei einem Besuch der Kooperative Ik el Luna vorgeführt. In deren Innenhof sitzen Frauen unter Bäumen im flackernden Lichtmosaik und weben. Manche Fäden haben sie an einem Stamm befestigt, andere an ihrer Hüfte. So können sie die Webarbeit je nach Bedarf straffen oder lockern, um das Schiffchen zwischen den Fäden durchzuschieben. „Die Technik gab es hier schon immer“, sagt Präsidentin Mercedes, in deren bernsteinfarbenem Mayagesicht roter Lippenstift glimmt. „Am Anfang schufen die Götter einen Webrahmen, in den sie nach und nach die Zeit, die Erde und die Sterne eingewoben haben.“ Dann erläutert Mercedes das Bedeutungstohuwabohu all der Muster, Farbkombinationen und Tierzeichen, die als animalische Alter Ego jedes Menschenleben bestimmen. Es dauert nicht lange, und ich komme mir in meinen Jeans vor wie ein Kretin. Sofort will ich alles kaufen und nach Hause schleppen und möchte nicht glauben, was ich längst weiß: dass dort die Dinge das Aroma der Fremde schnell verlieren.

Das beste Souvenir ist ohnehin die Erinnerung, und ein Besuch beim Mayahalbgott Maximón verspricht dafür starke Eindrücke zu liefern. Wer allerdings einen beliebigen Rikschafahrer nach dem Weg zu der mannsgroßen Gestalt mit menschlichen Zügen fragt, landet meist bei einer Attrappe für die Touristen-Abzocke. Wo der echte Maximón zu finden ist, weiß Miguel, der als Partner von Viva Atitlán in Santiago als Führer arbeitet. Lange folge ich dem kleinen Mann mit der Mädchenstimme durch einen Wald schulterbreiter Gassen. Irgendwann stehen wir auf einem Platz wie auf einer Lichtung. Irres Gebrüll dringt aus einem Schuppen. Was denn? Hier soll ein Gott wohnen?

Ich bücke mich, um unter den Türrahmen hindurchzukommen und denke: Gegen Maximóns Tempel ist jeder englische Pub ein Priesterseminar – hier regiert das wilde, zügellose Wesen des Alkohols. Stocktrunkene torkeln herum und stoßen sich dabei die Köpfe an den schwarzen Wildschweinen, die ausgestopft von der Decke baumeln. In der Mitte thront die Statue Maximóns. Er sieht aus wie ein wahnsinnig gewordener Marlboro-Mann. Auf seinem Kopf sind drei Cowboyhüte ineinandergestülpt, unzählige bunte Tücher und Krawatten hängen ihm um den Hals, im Mund steckt eine brennende Zigarette. Seine Holzbrust berge ein Herz aus schwarzfunkelndem Obsidian, verrät Miguel, da drischt man uns schon mit grölender Herzlichkeit auf die Schultern und nötigt uns Zigaretten und einen bis in die Kapillaren strahlenden Schnaps auf. Nikotin und Alkohol sind nämlich Maximóns Liebstes. Ständig schüttet man neue Drinks in seinen Mund, um sich das spirituelle Amalgam aus dem Apostel Simon, Judas, dem Mayaerdgott Mam und dem Konquistador Pedro de Alvarado gewogen zu machen. Eine Laienbrüderschaft kümmert sich um die Audienzen, die Maximón an wechselnden Orten abhält. Dabei reist auch immer ein lebensgroßer Christus im Glassarg mit, dessen Mittler Maximón eigentlich ist. Hin und wieder wird der Qualm aus den Kleidern des Heilands gewaschen und die Brühe als besonders effektives Weihwasser verkauft. Auch Maximóns Zigarettenasche findet Verwendung – in Salben und Tinkturen, die gegen alles helfen sollen.

Tinnitus? Davon hat der Schamane nie gehört. Aber Vater Sonne wird helfen

Es herrscht ein Kommen und Gehen, gerade sinkt wieder ein weinender Mann auf die Knie. Er fleht mit bebender Stimme und wischt seine Tränen an einer von Maximóns Krawatten ab. Die Inbrunst sprengt jedes Maß. Und langsam bekomme ich Angst, dass gleich jemand am Alkohol zugrunde gehen könnte. Auch der zarte Miguel beugt sich der Tradition und qualmt und kippt, was das Zeug hält. Gott sei Dank kommt irgendwann Marlon und zieht uns ins Freie.

Kein katholischer Priester konnte je die Maya für sich gewinnen, ohne deren Synkretismus zu akzeptieren. Die missionierenden Freikirchen in den Dörfern tun das nicht. Sie fordern im Gegenteil die totale Aufgabe der Mayakultur. Und doch sind die evangelikalen Sekten mit ihren nordamerikanischen Priestern grell erfolgreich. Immer wieder stößt man auf ihre Betonklotzkirchen mit den abweisenden Rauchglasscheiben, aus denen cholerisch deklamierende Predigten dringen, die Reichtum als Beweis für Gottes Gunst versprechen. Viele neue Hotels gehören evangelikalen Pastoren, und deren Missionsarbeit hat bereits dazu geführt, dass der Touristenhauptort Panachachel tagsüber fast trachtenfrei ist. Viva Atitlán dient auch dazu, einen Teil dieses verlorenen Terrains zurückzugewinnen.

Vielleicht sollten die Schamanen gegen die protestantische Invasion anzaubern? Ein paar Dutzend von ihnen bieten am See ihre Dienste an. Der berühmteste heißt Tata Pedro Cruz Garcia. Sein Ruf ist außerordentlich: Angeblich gibt es kein Problem, dem er nicht gewachsen ist. Das will ich genauer wissen. Am nächsten Mittag stehe ich vor seinem Haus in San Pedro. Als er mein Anliegen hört, stutzt er aber doch. „Tinnitus?“ Der Alte streicht über seinen Ziegenbart und schaut mich so an, wie ein Zoologe ein Tier betrachtet, das er zum ersten Mal unmittelbar vor sich hat. „Ja, Tinnitus. Ein lautes Pfeifen im Ohr. Sehr unangenehm.“ – „Tinnitus, Tinnitus“, wiederholt Tata Pedro bedächtig, „nie gehört. Aber interessant. Vater Sonne wird helfen. Warte hier.“ Dann verschwindet er mit der vogelhaften Flinkheit des rüstigen Alters in einem Nebenraum seiner Praxis. Als er, ganz in Weiß, wieder erscheint, sieht er aus wie Ho Chi Minh im Judoanzug. Er legt sich klackernde Jadeketten über die Brust, schlüpft in ein Paar Fransenmokassins und tritt mit mir auf die Straße. Ein Bediensteter schleppt einen gut 20 Kilo schweren Karton herbei und winkt dann einem Rikschafahrer. „Kann losgehen“, sagt der Schamane.

Wenig später stehen wir auf einer Dschungellichtung weit über dem See, der nun wie geschmolzenes Silber in der Sonne gleißt. Vor uns liegt einer von mehr als 100 Mayaopferplätzen der Gegend. Wir packen aus: gepresstes Kopalharz in fünf Formen, Zucker, Zigarren, Holzstäbchen, Parfüme in drei Farben, Tütchen mit Pflanzensamen, Batterien von blauen, roten, grünen, violetten, schwarzen, weißen, gelben und beigefarbenen Kerzen, eine Zweiliterflasche Schnaps. Was folgt, ist eine Zeremonie, bei der kein Hochamt mitkommt. Mal muss dies ins Feuer geworfen werden, mal jenes, mal lässt das hochprozentige Parfüm Stichflammen aufschießen, mal prasseln die Pflanzensamen in der Glut, vom Schamanen mit Vogellauten eingestreut. Ich rauche eine unterarmdicke Zigarre, werde mit einem Sprühnebel aus Schnaps eingeprustet, muss Beschwörungsformeln in der Mayasprache Tzutujil nachsprechen. Nach fast drei Stunden endet unser Sonnenkult. Und wie auf Kommando schüttet Regen herab. Ich fühle mich gut. Aber auch leicht verdattert, so als sei ich gerade aus der Nachmittagsvorstellung eines Kinos gekommen. Für Tata Pedro war das Ritual ein heftiger energetischer Aderlass. Auf dem Rückweg schläft er in der Rikscha ein.

Abends hat sich der Xocomil verzogen. Schon wieder präsentiert sich der See in einer anderen Farbe. Er ist jetzt flaschengrün. In einer Bucht hinter Santiago stehen drei Waschfrauen bis zur Hüfte im Wasser, als seien sie dem Gemälde eines mesoamerikanischen Pieter Bruegel entsprungen. Und als wüssten sie um ihre Aura, waschen sie nach alter Sitte: mit weißer Asche, Zitronensaft und einer Zwiebelart, die reinigenden Schaum produziert. Dazu singen sie im gaumenschnalzenden Ton des Tzutujil. Zikaden sirren. Vögel trällern einen Notenschlüssel nach dem anderen. Sonst aber höre ich nichts. Ob Tata Pedros Zauber tatsächlich wirkt? Auf jeden Fall sollte er bei den Pflückern von San Lucas Tolimán auf einen Kaffee vorbeischauen. Schaden kann es nicht.