20 Feb Über alle drei Berge
DIE ZEIT, Nr. 38/2011
Über alle drei Berge
Mit Schweiß, Speckbrötchen und Sportsgeist: In 24 Stunden auf die höchsten Gipfel von Schottland, England und Wales
Es gibt Wünsche, mit denen nicht zu spaßen ist. Jetzt zum Beispiel muss ein heißes Bad her. Unbedingt. Dann ein Steak, ein Bier und ein vernünftiges Bett. Immerhin haben wir gerade den höchsten Berg Großbritanniens bestiegen. Der strahlt mit seinen bauchigen Flanken zwar die Arglosigkeit eines adipösen Mönchs aus und ist nur 1344 Meter hoch. Doch weil der Pfad auf seinen Gipfel fast auf Meereshöhe startet, ginge der schottische Ben Nevis in den Alpen locker als Zweitausender durch. Schweißverklebt stehen wir nun wieder unten und beobachten die Letzte unserer Gruppe. Es ist Emily, die sich mit ihren Teleskopstöcken die Geröllzungen hinunterstochert wie eine Spinne in Funktionsklamotten. Als sie endlich auf dem Parkplatz steht, geht alles sehr schnell. Dean setzt sich ans Steuer seines Minibusses und hupt. Minuten später sind wir alle hinter ihm versammelt und rammen die Schiebetür ins Schloss. Keine Badewanne, kein Bier, kein Bett. Und statt Steak gibt es Studentenfutter. Denn jetzt geht es erst richtig los.
Dean und sein mürrisch dreinblickender Kollege werden uns zu zwei weiteren Bergen durch das halbe Land karren. An diesem Wochenende verwandeln wir uns nämlich in Three Peaker: Wir besteigen den höchsten Berg von Schottland, den höchsten von England und den höchsten von Wales – in 24 Stunden. Das ist zumindest das Ziel. „Three Peaks Challenge“ nennt sich dieses Rennen gegen Berg und Zeit, das in Großbritannien legendär ist. Man kann es wie wir als Tourpaket bei einer Agentur buchen, die den Transport und zwei Führer pro Berg organisiert. Viele Briten machen sich im Sommer aber auch in Eigenregie auf den Weg: insgesamt 40 Kilometer Fußmarsch über steile Auf- und Abstiege, dazwischen elf Stunden Fahrt.
Zum Abschied setzt die Abendsonne dem Granitschädel des Ben Nevis noch eine goldene Mütze auf. Dass dieser Brocken jährlich etwa zehn Menschenleben fordert, können wir kaum glauben. Wo sich sonst die Schlechtwetterfronten des Atlantiks austoben, gleißte heute der Himmel vor Gunst. Auf der einen Seite funkelten Seen und Meeresarme, auf der anderen staffelten sich die blau-grauen Kegel der schottischen Munros wie Wogen von fast durchsichtiger Zartheit. Wenn eine Landschaft elegant sein kann, dann diese. Ganz im Gegensatz zur Bergsteigerschar, die uns begegnete. Die war nichts als grell: Männer im Schottenrock und Gruppen im Clownkostüm – ein paar Burschen hatten sich sogar Frauenunterwäsche über die Outdoorkluft gestreift. „Wohltätigkeitswanderer“, erklärten unsere Bergführer den Mummenschanz. „Neun von zehn Three Peakern sammeln bei Bekannten Geld für die Tour und spenden es dann.“ Die Maskerade soll die Beweisfotos aufpeppen.
Im Bus ist es heiß. Und so eng wie in der Londoner U-Bahn zur Rushhour. Sechs Stunden Fahrt nach England liegen nun vor uns. Überall knistern die lollibunten Verpackungen von Energyriegeln, zischen Dosenverschlüsse von Fitnessdrinks. Es riecht nach Schweiß und Erschöpfung, und der Vauxhall entpuppt sich immer mehr als fahrende Folterkammer. Es ist, als führten wir einen Tanz auf. Er heißt „Wie kann ich sitzen?“ und endet nie. Alle fünf Minuten probieren wir neue Stellungen für Beine und Hintern aus. An Schlaf ist nicht zu denken. Draußen prangen die schottischen Highlands. Immer wieder tauchen Pubs auf, deren Butzenscheiben-Gemütlichkeit von Mal zu Mal verführerischer wirkt. Ab Glasgow kommt, was kommen muss: Der Sinn der Sache beginnt zu erodieren. Spaß sieht schließlich anders aus. Also, Leute: Warum tun wir uns das an?
„Weil Reiseabenteuer heute nur noch in alten Berichten vorkommen“, erklärt der schlaksige Chris und beißt ein Gähnen weg. „Wenn du wirklich etwas erleben willst, musst du deine Grenzen spüren. Darum geht es hier.“ Matt, Dave und die milchblonde Tess sehen das ähnlich. Kein Glücksgefühl ohne Leistung, sagen sie. Außerdem machen auch sie in Benefiz: Jeder hat 1.000 Euro für Asthmatiker und Krebskranke gesammelt. Sash hingegen, der indische Banker aus London, will bald den Kilimandscharo besteigen und sieht die Tour als Test. Am Ben Nevis war er kaum schneller als Emily. Auf dem nächsten Berg aber, da ist er sicher, werden seine Qualitäten schon zum Vorschein kommen: Immerhin sei er geübt im Wandern bei Dunkelheit – er habe im nächtlichen Hyde Park mit Stirnlampe trainiert.
Der Abstieg ist eine Qual
„Der Unterschied zwischen einem Berg und einem Hügel liegt in der Erscheinung, nicht in der Höhe“, deklamiert jemand aus einem Reiseführer: „Und was die betrifft, ist der Scafell Pike ein Berg Zoll für Zoll.“ Englands höchster Gipfel erhebt sich knapp 1.000 Meter über dem Lake District, den wir kurz nach Mitternacht erreichen. Als wir aussteigen, ist ihm unser Respekt schon sicher: Die Bergführer Simon und Vicky empfangen uns in millimeterdichtem Regengeprassel. Wie ein Glühwürmchengeschwader trotten wir mit unseren Stirnlampen steil bergan. Immer wieder schweben uns andere Lichter entgegen – im Sommer sind hier pro Nacht gut 700 Challenge-Teilnehmer unterwegs. Einmal durchwaten wir einen knietiefen Gebirgsfluss, der jeden Respekt vor Goretex vermissen lässt. Und der Rat zu Handschuhen in der Veranstaltercheckliste wirkt auch nicht mehr übertrieben. Die Temperaturen sind längst einstellig. Beste Voraussetzungen für Larmoyanz also – doch tatsächlich herrscht Euphorie. Ganz dem Augenblick ergeben, fokussiert mein Blick das ständig wechselnde Muster der Steine im Lichtkegel vor mir. Eine Marmorierung glänzt bunter und schöner als die andere in der Nässe. Die Liniengespinste sehen aus wie Zeichnungen von Fabelwesen, und unser rhythmisches Keuchen ähnelt dem Soundtrack eines psychedelischen Films. Sagenhaft. Ich will nur noch in Regennächten wandern!
Plötzlich fällt der Lichtfleck auf Gras, und morastige Löcher gieren nach unseren Bergstiefeln. Wir sind irgendwo unterhalb des Grats. Der Sturm von der nahen Irischen See erinnert jetzt an ein Kind, das sich so sehr in sein Heulen hineingesteigert hat, dass es durch nichts zu besänftigen ist. Dennoch sieht man vor Nebel keine zwei Meter weit. Dann wird klar, dass Simon und Vicky sich verlaufen haben. Eine Ewigkeit lang hantieren sie mit Kompass, GPS und Karte, und wir irrlichtern zwischen grabsteingruseligen Felsen herum. Doch die Stimmung könnte nicht besser sein. Es ist die Stunde von stiff upper lipp und englischem Sportsgeist – bloß nicht anmerken lassen, dass es brenzlig wird. Das muss das psychische Fundament des Britischen Empires gewesen sein, denke ich. Und male mir aus, welche Empörungschoräle jetzt wohl in einer deutschen Wandergruppe losbrächen.
Unser Gipfelbesuch ist nur ein Abklatschen. Und der Abstieg eine Quälerei. Immer sehnsüchtiger stelle ich mir vor, wie die Bacon Rolls wohl aussehen werden, die uns Dean unten versprochen hat. Gegen Ende wird es hell, und wir erkennen erst jetzt das majestätische Auf und Ab der Hügel des Lake Districts ringsum. Dann hören wir Deans Lachen. Er drückt uns bleiche Pappbrötchen mit Speckstreifen in die Hand, die er über einem Gaskocher geröstet hat. Ich bin sicher, niemals zuvor etwas so Wunderbares gegessen zu haben.
Auf dem Weg nach Wales ist mein Kopf vor Müdigkeit wie leer gefegt. Gegen das Licht binden wir uns gerollte T-Shirts um die Augen, sodass wir aussehen wie ein Bus voller Entführungsopfer. Aber es hilft nichts. Statt zu schlafen, beobachten Chris und ich das immerzu flüsternde Pärchen vor uns, das sich mit orangefarbenen Bröckchen Cheddarkäse füttert. Als wir auf der Autobahn sind, geraten wir in einen Stau. Schaffen wir es überhaupt in 24 Stunden? „Mach dir keine Sorgen“, sagt Dean und erklärt, dass er bei Staus die Uhr anhalte. Dann zwinkert er und schiebt sich eine Sonnenbrille auf die Nase.
Am Fuß des Snowdon braucht er die nicht mehr. Immer wieder zerrt der Sturm an unseren Jacken, reißt an den Kapuzen, lässt die Rucksackschnüre um sich peitschen. In den Alpen würde man jetzt eingeschüchtert am Kachelofen hocken. Wir aber besteigen mit Gesichtern wie zerdrückte Semmeln die 1.085 Meter hohe Pyramide des walisischen Paradebergs. Edmund Hillary und Tenzing Norgay übten hier 1953 für ihre Erstbesteigung des Everest – sie hatten herausgefunden, dass der Snowdon ein Modell des welthöchsten Bergs im Maßstab eins zu acht ist.
Mit uns scheint das ganze Commonwealth auf den gezackten Graten unterwegs zu sein. Manche Wanderer sind gekleidet, als gingen sie zum Strand. Prompt knattert ein wespenfarbener Rettungshubschrauber über dem Bergsee, in dem König Artus seine letzte Ruhe gefunden haben soll. Den Hubschrauber sieht man hier oft. Pro Monat fordert der Snowdon ein Leben, pro Woche wird ein Schwerverletzter zu Tal geflogen. Doch wir werden nur nass. Chris, Dave, Matt und ich sind die Ersten auf dem Gipfel. Nach 23 Stunden und zehn Minuten reichen wir uns festen Blicks und mit angewinkelten Ellenbogen die Hand. Britischer geht’s nicht. Zur Belohnung kommt sogar die Sonne durch, und die Grasberge glänzen wie ein Gemälde aus irgendeiner sehr grünen Periode, das erst noch trocknen muss. Auf dem Weg hinab schmerzen Muskeln und Gelenke bei jedem Schritt. Gut so. Bewusster als jetzt kann mir mein Körper doch gar nicht sein. Gibt es mich überhaupt, wenn nichts wehtut?
Als ich abends im Zimmer einer klammen Lodge an der Küste die Vorhänge zuziehe, bin ich seit 40 Stunden ohne Schlaf. Kurz zuvor habe ich noch in lauem Wasser gebadet, schaumloses Bier getrunken und ein verblüffend schlechtes Steak gegessen. Doch das hat keine Bedeutung mehr. Ich falle in mein Bett wie in einen Schrein voller Watte. Das muss das Glück jenseits der eigenen Grenzen sein, von dem im Bus die Rede war. Irgendwo auf den letzten Metern habe ich sie wohl überschritten.