20 Feb Wie im Vergnügungspark
DIE ZEIT, Nr. 51/2005
Wie im Vergnügungspark
Im chilenischen Punta Arenas gibt es einen fantastischen Friedhof mit Mausoleen wie Opernhäuser und geschwätzigen Gräbern
Todessehnsucht strahlt Fausto nicht gerade aus. Eher die heitere Nonchalance eines betagten Salonlöwen. In seinem zerknitterten Gesicht blitzen wache Augen, das weiße Menjoubärtchen demonstriert gepflegte Virilität, über dem Gürtel wölbt sich ein Kugelbauch wie die Verkörperung ungezügelter Daseinsfreude. Und doch drängt sich der Eindruck auf, der Alte könne es kaum erwarten, endlich unter der Erde zu liegen. Wieder und wieder umkreist er ein parkplatzgroßes Areal und malt mit der Stiefelspitze Markierungen in den Kies. Dabei redet er, als gäbe es kein Morgen. Über seine letzte Ruhestätte. Hier vorn würden seine Kollegen einmal Buchsbäume pflanzen. Schön rund geschnitten. Vielleicht auch kantig. Oder in Raketenform, er müsse noch darüber nachdenken. Ringsherum plane er eine kniehohe Mauer mit Türmchen an den Ecken. Am Kopfende dann das Kreuz. Natürlich mannshoch. Gut, es werde nicht aus Marmor sein wie das Mausoleum der Familie Kusanoviƒ einen Steinwurf weiter. Seine Mittel seien bescheiden. Aber der weiße Granit aus Brasilien werde in der Sonne funkeln, dass es eine Art hat. Fausto gerät jedes Mal ins Schwärmen, wenn er die für ihn reservierte Grabstelle auf dem Friedhof von Punta Arenas besucht. „Seien Sie ehrlich“, resümiert er schließlich und lässt seinen Blick über einen Wald aus Kreuzen und Kuppeln, aus akribisch getrimmten Zypressenkegeln und Ehrenmalen schweifen: „Kann es etwas Schöneres geben, als hier zu enden?“
Wahrscheinlich nicht. Nicht in Punta Arenas. Denn in der selbst ernannten „südlichsten Metropole der Welt“ liegt der Hund begraben. Die 120000 Einwohner der chilenischen Stadt am letzten Zipfel Amerikas verbringen ihre Tage in einer Atmosphäre öligen Phlegmas. In den wenigen Straßenzügen des Zentrums wechseln Geschäfte für Schiffsausrüstungen mit spartanischen Bars und Imbissen, in deren Schaufenstern Meeresspinnen und kuheutergroße Tintenfische liegen. Graue viktorianische Fassaden bröckeln vor sich hin, aus der Zeit gefallene Modeläden präsentieren verstaubte Kleider. Jeder Zweite von ihnen scheint sich auf Faltenröcke spezialisiert zu haben, die aussehen, als stammten sie aus dem Fundus alter englischer Internatsfilme. Und wer einen Buchladen aufsucht, kann dort nicht nur vergilbte Bände von Pablo Neruda und Frederick Forsyth kaufen, sondern auch Bratpfannen und Drillbohrer.
Auf einem Höhenzug im Westen nisten Holzhäuser, die ihre Hausnummern auf Walwirbelknochen anzeigen. Über ihre Blechdächer faucht der unerbittliche patagonische Wind und zwingt die Bäume von Punta Arenas in eine Ostneigung. Auf dem Friedhof am anderen Ende der Stadt ist sie oft so bizarr, dass man meinen könnte, die Südbuchen verbeugten sich ehrfürchtig vor Feuerland, das jenseits der angrenzenden Magellanstraße beginnt. Dabei gäbe es für einen solchen Kotau gar keinen Grund. Denn gegenüber der Monotonie, die über weiten Teilen Feuerlands gähnt wie der Schlund eines müden Riesen, nimmt sich der Cementerio Municipal von Punta Arenas aus wie ein Vergnügungspark. Er zählt zu den zwölf Nationaldenkmälern Chiles und ist das Prachtvollste, was die Stadt als Vorposten der zivilisierten Welt zu bieten hat. Viele halten ihn für den schönsten Friedhof ganz Südamerikas.
Fausto wundert das nicht. In Punta Arenas sei ein anständiges Grab schon immer wichtiger gewesen als jedes Haus, sagt der pensionierte Friedhofsgärtner. Zweifel an seinen Worten schwinden, sobald man durch das Portal der Begräbnisstätte schreitet und Mausoleen wie die Miniaturversionen von Opernhäusern der Belle Époque Spalier stehen. Ihre Wucht gleichen sie durch Zierrat aus. Kupferne Engelsscharen trompeten auf den Dächern, bronzene Reliefs schmücken die Wände. Manche protzen vorlaut in grellweißem Marmor, andere schweigen düster in schwarzem Stein. Man sieht klassizistische Säulen und grünspanbewachsene Kuppeln.
Die Gravuren auf den ältesten Mausoleen und Grabsteinen erinnern an die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Menschen das maßlose Nichts Südpatagoniens zu besiedeln begannen. Viele Namen stammen aus Kroatien, manche aus Deutschland und der Schweiz, einige sind französischer, andere englischer und italienischer Herkunft. Auch Gemeinschaftsgräber wie das für die Mitarbeiter der „Deutschen Kranken Kasse“ sind zu sehen und merkwürdige Gedenksteine. Der martialischste unter ihnen ist ein unförmiger Brocken, der wie ein eben niedergegangener Meteorit in einer Parzelle liegt und eine Krause aus dicken Granaten trägt. In seinen tintenschwarzen Stein ist eine Widmung gemeißelt: „Admiral Graf Spee und heldenmütiger Besatzung seiner Schiffe Scharnhorst, Gneisenau, Dresden und Leipzig, siegreich in der Schlacht bei Santa Maria am 2. 11. 1914, gefallen für das ferne Vaterland in der Schlacht bei den Falklandinseln am 8. 12. 1914.“
Die Hand des „unbekannten Indianerleins“ ist blank gewetzt
Das bedeutsamste Grab ist leicht auszumachen. Es ist das im Genueser Patrizierstil errichtete Mausoleum von José Menéndez. Als der Spanier den Friedhof 1893 gründete, war Punta Arenas eine der wohlhabendsten Handelsstädte der Welt. Die steile Karriere des Orts ist vor allem auf ihn zurückzuführen. Als einer der Ersten setzte Menéndez Schafe auf dem Zwerggras der patagonischen Steppe aus und stieg schnell zum wichtigsten Wollhändler und Großgrundbesitzer der Gegend auf. Zum unangefochtenen „König von Patagonien“ wurde er jedoch erst, als seine Tochter Josefina Mauricio Braun ehelichte. Der Spross litauischer Juden floh mit seiner Familie vor Pogromen aus dem russischen Kurland und landete nach einer Odyssee um die halbe Welt 1874 in Punta Arenas. Einen Besseren für seine Tochter konnte sich José Menéndez kaum wünschen. Denn nachdem Mauricio Braun beim einflussreichen Unternehmer José Nogueira Karriere gemacht hatte, vermählte sich der Patriarch aus Portugal mit Mauricios schöner Schwester Sara. Nur wenige Jahre später war er tot – und die Familie Braun fast so reich wie der Magnat Menéndez.
Durch die Verflechtung der beiden Häuser wuchs ein gigantisches Imperium heran. Es reichte von Estanzias, Walfangflotten und Schlachthöfen über Bergwerke und Reedereien bis zu Importgesellschaften, Banken und der südlichsten Eisenbahn des Kontinents. Die Ländereien des Familienclans umfassten drei Millionen Hektar. Damit war das Gebiet von den Ausmaßen Belgiens der größte zusammenhängende Grundbesitz, den es jemals in Chile gab. Und der Lebensstil in Punta Arenas nahm aristokratische Züge an. In der ehemaligen britischen Strafkolonie veranstaltete man Banketts und Autorennen, Zirkusspiele und Geburtstagsfeiern zu Ehren des englischen Königshauses. Man ließ Zuchthengste aus Neuseeland und Schäfer von den Hebriden kommen. Aus Italien wurden Marmor, aus England Möbel und aus Frankreich Stoffe importiert. Die Familie Braun-Menéndez schaffte es sogar, die russische Primaballerina Anna Pawlowa zu einem Auftritt an die Magellanstraße zu locken. Doch 1914 endete der eitle Trubel: In diesem Jahr wurde der Panamakanal eröffnet, und die Hafenstadt geriet ins Abseits. Bis dahin hatte die Dynastie Braun-Menéndez die südlichste Zacke Amerikas im Stil mittelalterlicher Feudalherren verwaltet. Ihre Geschichte ist die Geschichte von Punta Arenas.
Zu dieser Geschichte gehört auch die Ausrottung der Ureinwohner. Nachdem Darwin sie als das „miserabelste Volk der Erde“ bezeichnet hatte, hielt man die Menschenjagd für wissenschaftlich legitimiert. Auf dem Friedhof erinnert die Bronzestatue des „Indiecito Desconocido“ an den Völkermord. Das „unbekannte Indianerlein“ gilt als wundertätig, und der Rummel um ihn gleicht einem patagonischen Altötting. Hunderte von Votivtafeln säumen die über und über von Rosenkränzen und Tüchern behangene Figur. Immer wieder kann man beobachten, wie alte Frauen vor ihr innehalten und geheimnisvoll zu murmeln beginnen. Geschäftsleute legen in der Mittagspause Blumen nieder und Verliebte verharren Arm in Arm vor dem ewig lächelnden Knaben, um dann andächtig seine blank gewetzte linke Hand zu berühren.
Das Mausoleum der Familie Braun am anderen Ende des Geländes ist für solche Intimitäten nicht zu haben. In Form einer Basilika thront es hinter einem schmiedeeisernen Zaun in einem unzugänglichen Garten. Sein perlweißer Zwiebelturm ist das letzte Aufbäumen des Prunks bevor gleich nebenan die einfachen Gräber beginnen. Als schmale Schächte sind sie in langen, durch Galerien begehbaren Mauern untergebracht. Neben dem pseudoslawischen Sakralbau der Brauns sehen die Betontrakte aus wie die Umkleidekabinen eines hässlichen Freibads. Die Verstorbenen, die hier bestattet sind, haben dem Tod wohl weniger Respekt gezollt als Fausto.
Diesen Mangel machen ihre Hinterbliebenen wett. Mit Fantasie. Denn an der Front der stereotypen Mauernischen befinden sich fernsehergroße Vitrinen, die so hingebungsvoll und detailversessen mit Fotos und Gegenständen geschmückt werden, dass ein Spaziergang über diesen Teil des Friedhofs zu einem fast voyeuristischen Vergnügen wird. Eine jahrmarktbunte Auslage reiht sich an die nächste, und alle scheinen sich an Geschwätzigkeit und Indiskretion überbieten zu wollen. Man schaut, staunt und taucht immer wieder von Neuem ein in fremde Leben.
Umflort von Wimpeln, schwören Fußballfans ihren Clubs ewige Treue
Zum Beispiel in das Leben von María Elgueta Torre. Jemand hat ihre Silhouette aus einem Foto geschnitten, auf ein Stück Pappe geklebt und in den Glaskasten gestellt – zusammen mit dem Modell eines Pianos und einem winzigen, von Goldtroddeln behangenen Theatervorhang. Sogar an einen bleistiftlangen Mikrofonständer aus Zahnstochern wurde gedacht. Dahinter breitet María ihre Arme aus. Wie die Netrebko steht sie da. Eins mit sich und ihrem Triumph. Wer sie so sieht, kann kaum glauben, was Fausto sagt: dass die Barsängerin zu Lebzeiten nur in Hafenspelunken auftrat und in Punta Arenas längst vergessen ist. Oder Sergio. Der Schnappschuss von Sergio A. Daller. Tätowierte Unterarme, Seehundschnauzer, in der Hand eine Bierbüchse – so grinst er aus seiner Vitrine. Neben ihm steht ein Spielzeugauto mit aufgestelltem Kühler. Ein Ford Mustang. Wie viel Zeit mag er unter einer solchen Motorhaube verbracht haben? Und war es ein Unfall, der ihn so früh aus dem Leben riss? Man weiß es nicht. Warum aber ein gewisser Adolfo Sotomayor García in seinem 60. Jahr nicht weiter durchhielt, scheint sein Foto zu verraten. Mit gelockerter Krawatte und rotem Kopf prostet er dem Betrachter zu. Es sieht aus, als wollte er ihm sagen: „Lebe aus dem Vollen, Junge! Morgen kann es zu spät sein!“ Und so geht es weiter im Kaleidoskop der Biografien: Umflort von Wimpeln, schwören Fußballfans ihren Clubs ewige Treue, Großmütterchen lächeln in brokatverkleideten Puppenstubenkulissen, ein von Plastikpudeln umringter Hundezüchter hält ein grotesk geföntes Exemplar wie einen Talisman in die Kamera. Und irgendwo macht man Bekanntschaft mit dieser Buchhändlerin. Sie trägt eine Rüschenbluse, einen Haarknoten und eine gewaltige Hornbrille. Ihr Blick geht durch Mark und Bein. So verbissen starrt sie aus ihrem angelaufenen Silberrahmen, dass man meint, sie riefe einem zu: „Sterben? Ich? Das wollen wir doch mal sehen!“
In der Nähe von Faustos Grabstelle liegt eine Familie mit einem türkischen Namen. Ihre Mitglieder sind lange tot, selbst Fausto weiß nicht, was sie einmal ans Ende der Welt verschlagen hatte. Nur dass sie zum katholischen Glauben konvertierten, das weiß er. Ihr Grab verwittert in melancholischer Würde. Ohne Foto und ohne einen dieser Plastikblumensträuße mit künstlichen Tautropfen. Auf dem Stein erkennt man eine Schrift. Sie ist schwer zu entziffern. Irgendwann aber schafft man es und liest eine Sentenz von wunderlicher Schönheit. „Der Tod ist ein schwarzes Kamel“, flüstert die dunkel bemooste Gravur. „Es kniet vor jedermanns Tor.“