24 Feb Vagabunden im Namen des Herrn
DIE ZEIT, Nr. 46/2003
Vagabunden im Namen des Herrn
Die deutschstämmigen Mennoniten in Mexiko lehren ihre Kinder noch heute, dass Turnen und Tanz Teufelszeug sind. Ein paar Reformer kämpfen nun dagegen an
Blaue Blumen am Wegrand? Keine Spur davon in der Halbwüste von Chihuahua. Alles, was entlang der Carretera 16 im größten Bundesstaat Mexikos ins Auge fällt, ist eine Landschaft von grausamer Schönheit. Endlose Steppen dörren im Sonnenglast, Kakteen recken ihre Kandelaberarme, vereinzelte Tierskelette säumen das sture Geradeaus der Straße. Und das Tiefblau des Himmels, so empfand es der Schriftsteller William S. Burroughs, hat „jene besondere Tönung, die so gut passt zu kreisenden Geiern, Blut und Sand“. Ein Land wie eine Filmkulisse. Typen wie Clint Eastwood kommen in den Sinn. Franco Nero oder Charles Bronson. Aber Heinz Georg Kramm alias Heino? Der deutsche Schnulzenbarde? Niemals. Doch genau der schallt plötzlich aus dem Autoradio. Singt vom Alpenglühen und von unvergesslichen Lippen und vom blau blühenden Enzian. Mitten in der Prärie von Chihuahua. Dort, wo nichts blühen will. Und schon gar kein Enzian.
Am Steuer des Wagens sitzt Abram Peters. Der ältere Herr trägt einen strengen Seitenscheitel und eine indigoblaue Latzhose. Über sein Gesicht huscht ein verlegenes Lächeln, als er das Radio leiser stellt. „Das ist das Programm für unsere Leute. Neuigkeiten und schöne Lieder. Wir lieben sehr, es zu horchen“, erklärt der Farmer in einem kehligen, rätselhaften Deutsch. Wir – das sind rund 35000 deutschstämmige Mennoniten, die in der nordmexikanischen Wüste leben. Sie haben ihre eigene Sprache, ihr eigenes Paradies und ihre eigene Hölle. Sie heißen Friessen und Klassen, Froese und Martens, und die Männer versinken in riesigen blauen Latzhosen, in denen sie ein wenig wie große Kinder wirken. Ihre Frauen und Töchter indessen sehen aus wie von Pieter Breughel gemalt: Sie gehen in düster wallenden Kleidern, ihre Schürzenschleifen sind im Rücken wie mit einer Wasserwaage gerichtet, und ihre Zöpfe verstecken sie unter biederen Häubchen.
„Die Weiber sollen durch Taten schön sein, nicht durch Schmuckwerk“, sagt Abram Peters’ Frau Katharina. Sie sitzt in ihrem Gehöft in Neuendorf, einer Mennoniten-Siedlung nahe der Provinzmetropole Cuauhtémoc. Draußen walten der Staub, die grelle Sonne und die rasiermesserscharfen Schattenrisse. Im Haus der Familie Peters ist alles still und rein und mild. Durch die Vorhänge fällt ein Lichtstrahl auf den Dielenboden der „Spazierstube“. So heißt der Raum, in den sich die Mennoniten zum Plaudern zurückziehen. Denn „spazieren“ bedeutet in ihrer Sprache auch „sich unterhalten“. Wenn man es genau nimmt. Tatsächlich aber steht „spazieren“ für alles, was nicht Arbeit ist oder der Schlaf des Gerechten. Und das ist nicht viel. „Man muss in Demut leben, sonst ist’s nicht recht“, sagt Katharina Peters, während sie ihre Hornbrille mit einem Schürzenende poliert, und fügt leise hinzu: „Darum möchte ich auch kein Radio horchen. Ich bin nicht neugierig auf die Welt.“
Mit der Welt hatten die Mennoniten seit je ihre Schwierigkeiten. Ihre Geschichte ist darum eine Geschichte der Flucht. Begonnen hat sie im 16. Jahrhundert, als der friesische Priester Menno Simons die Ausschweifungen des Katholizismus nicht mehr ertrug. 1536 stellte er sich an die Spitze der niederländischen Täufer. Für ihn und seine Mitstreiter war fortan das Neue Testament die einzige Autorität. Sie entrichteten keine Steuern, schworen keinen Eid, leisteten keinen Kriegsdienst. Dafür wurden Mennos Gefolgsleute erst gefoltert und verbrannt, später schikaniert und von ihren Höfen gejagt. Manche arrangierten sich, andere zwang ihre Prinzipientreue zum Exodus. So flohen die Anabaptisten aus Friesland über verschiedene deutsche Kleinstaaten in die Ukraine, bevor 1870 die nächsten Trecks in Kanada landeten. Aber auch dort ließ man die Eigenbrötler nicht lange in Ruhe: Als die Obrigkeit Ende des Ersten Weltkriegs in den selbstständigen Mennoniten-Schulen den Englisch-Unterricht durchsetzte, machten sich die Gottesfürchtigsten unter ihnen wieder auf den Weg – nach Mexiko.
Jedes anständige Paar bringt acht bis zwölf Kinder zur Welt
Im Frühjahr 1922 kletterten 7000 fromme Pioniere im Wüstenkaff San Antonio de los Arenales aus ihren Eisenbahnwaggons. Im Gepäck hatten sie Saatgut, Vieh, Hausrat und einen Freibrief des mexikanischen Präsidenten Alvaro Obregón. In ihm garantierte er den Mennoniten ein Leben nach ihrer Fasson. Und die nutzten ihre Chance: In nur wenigen Jahrzehnten verfünffachte sich ihre Zahl, verwandelte sich die elende Wildweststation in das prosperierende Cuauhtémoc. Gut 100000 Menschen leben heute hier – nahezu ausnahmslos Mexikaner. Ihre deutschen Gründer schauen nur zum Einkaufen vorbei. Sie wohnen in sechs Kolonien mit insgesamt 144 Gemeinden im Nordwesten der Cowboystadt. Einen Dorfkern sucht man in ihren Siedlungen vergebens. Schmucklos und mörtelgrau ruhen die Höfe auf großzügigen Parzellen. Allein die knallweiß gestrichenen Fensterrahmen stechen ins Auge. Dafür klingen die Namen heimelig: Grünthal und Hoffnungsfeld, Friedensruh, Rosenbach und Schönland heißen die Verbände. Mit der Kultur ihrer dunkelhäutigen Nachbarn verbindet die hoch gewachsenen blonden Bewohner wenig. Ein Bekannter habe vor Jahren ein Mestizenmädchen geheiratet, erzählt Abram Peters, und seine Miene verfinstert sich, als berichte er vom Untergang der Welt. „Sie wollte nicht zu ihm passen. So ist er nicht mehr froh geworden sein ganzes Leben.“
Ein Austausch zwischen Mennoniten und Mexikanern scheitert bereits an der Verständigung. Gerade die Hälfte der mennonitischen Männer spricht Spanisch, von ihren Frauen fast niemand. Aber auch wer die Weltflüchtigen auf Hochdeutsch anspricht, erntet selten mehr als ein scheues Lächeln. Ihre Sprache ist ein drolliges Plattdeutsch, das zwischen dem 16. und 17.Jahrhundert in West- und Ostpreußen entstand und seitdem unverändert geblieben ist. In dem fossilen Klanggebilde haben sich die Etappen der Wanderschaft hörbar eingelagert: Bei den einen klingt die Aussprache holländisch, bei anderen ostpreußisch, wiederum andere rollen das R im Gaumen wie die Angelsachsen.
Das Leben der meisten mexikanischen Mennoniten ist ein Spagat zwischen vorindustriellem Ethos und moderner Technik. In den Dörfern um Cuauhtémoc zockelten Bauern bereits in den dreißiger Jahren mit Traktoren über die Äcker. Dass sie damit in den Augen ihrer ultrareligiösen Glaubensbrüder das Tor zum Himmel für immer zuschlugen, nahmen sie in Kauf. Heute unterhalten die Mennoniten von Cuauhtémoc die größten Apfelplantagen Mexikos, und manche kleine Molkerei ist zu einer richtigen Käsefabrik geworden. Dennoch grassiert die Armut. Durch das Freihandelsabkommen Nafta von 1994 überschwemmt billiges Getreide aus dem Norden den Markt, ein Dürrejahr jagt das nächste, und weil jedes anständige Mennoniten-Paar acht, zehn oder zwölf Kinder auf die Welt bringt, wird das Land knapp. Viele Familien pendeln deswegen als Erntehelfer zwischen der heimischen Drangsal und den Feldern der kanadischen Provinz Manitoba, von wo sie einst kamen. Immer mehr von ihnen kehren nicht zurück.
„Je gelehrter, desto verkehrter“, lautet das Credo der Konservativen
Altväterliche wie Abram Peters haben sich an das einst als Teufelswerk verschriene Radio genauso gewöhnt wie an den Einsatz von Melkmaschinen. Doch es gibt auch Männer wie Cornelius Wiebe, den Dorfprediger von Steinfeld. Zeitungen rührt er nicht an, ein Auto kommt nicht infrage, seine Töchter dürfen Eisdielen nicht betreten. Sogar mit elektrischem Strom hadert er. Alles, was nicht wörtlich in der Bibel steht, ist falsch. Wiebe könnte einer der nächsten orthodoxen Mennoniten sein, die Mexiko verlassen. Wenn sie gehen, ziehen sie nicht nach Norden, sondern in südamerikanische Einöden, wo sie im Schweiße ihres Angesichts die Zeit zurückdrehen.
Jede neue Flucht der Mennoniten – ob nach Kanada oder nach Bolivien – wurzelt in der frommen Einfalt der Konservativen. „Je gelehrter, desto verkehrter“ – so geht ihr Sinnspruch. Und nirgendwo sind die Folgen dieser Parole erschreckender als in den Schulen. In einer davon unterrichtet Katharina Peters. Jene Frau, die zugibt, nicht neugierig auf die Welt zu sein und die keine andere Ausbildung besitzt als ihre Zöglinge: sechs Jahre mennonitische Dorfschule. In ihrem Klassenzimmer kratzen dreißig weizenblonde Kinder in Erwachsenenkleidung auf Schiefertafeln herum, rattern im Chor das Einmaleins, Bibelstellen und die Propheten herunter. Lernen heißt bei den Altkoloniern auswendig lernen. Keine Aufsätze, kein Malen, kein Sport steht auf dem Stundenplan. Nichts, was die Kreativität eines Kindes fördern könnte. Wenn sie mit zwölf Jahren die Schule verlassen, kennen sie die Bibel. Von Geografie, von Gedichten, von Geschichte wissen sie nichts. Auch nichts von ihrer eigenen.
„Ob es hier Analphabeten gibt?“ Gerhard Reimer lacht gequält. „Tausende gibt es. Die Kolonien sind voll davon.“ Der fast zwei Meter große Hüne mit dem kahlen Kopf und der imposanten Nase ist eine Kämpfernatur. In seinem Buch- und Schulartikelladen zieht er gegen einen störrischen Gegner zu Felde: die Dummheit. Energisch greift er eins seiner selbst verlegten Bücher aus einem Regal. Ein schmales Bändchen. Das Buch verkaufe sich blendend, sagt Reimer in sarkastischem Tonfall. Er wünscht, es wäre nicht so. Die Publikation erläutert die Schreibweisen der kaum mehr als drei Dutzend Mennoniten-Namen: Viele von Reimers Landsleuten sind noch nicht einmal zu einer eigenen Unterschrift fähig.
Es ist später Nachmittag in Gnadenthal. Radiomann Abram Siemens bereitet sich auf seine Sendung vor. Rund drei Viertel aller Mennoniten-Haushalte um Cuauhtémoc schalten täglich ein. Damit ist Siemens so etwas wie das inoffizielle Sprachrohr seiner Glaubensgenossen. Erbauliche Informationen wolle er senden, erklärt der ehemalige Lehrer salbungsvoll, keine Hiobsbotschaften. Dabei gebe es die in Hülle und Fülle. Etwa die Diabeteserkrankungen und die Augenleiden, die in den Dörfern um sich greifen und die eine Folge des Inzestes sind, die Alkoholprobleme der Konservativen, die Selbstmorde der Landflüchtigen. Doch die Altvordern wollen davon nichts hören. Das werbefinanzierte Programm ist darum so simpel wie Siemens’ Mission: Gassenhauer von Heino, Sentimentales von Heintje, Ostfriesenwitze und die immergleichen Ackerbautipps.
So sind selbst moderne Medien wie das Radio Standarten des Stillstands im Boden der konservativen Mennoniten. Und doch kommt Bewegung in ihre Gemeinden. Einen Anstoß gibt die Ferrocarril Chihuahua al Pacífico. Die atemberaubende Bergbahn dampft von der Provinzhauptstadt Chihuahua über Cuauhtémoc und die Sierra Madre dem Pazifik entgegen und ist der einzige Grund, warum Fremde die Kolonien streifen. Abram Peters ist noch nie mit ihr gefahren. Aber jetzt will der Bauer von der Strecke profitieren – als Führer der Bahntouristen. Zu den Dörfern, zu den Käsereien, zum kürzlich eröffneten Mennoniten-Museum. Dort kann man alten Hausrat sehen, alte Fuhrwerke, alte Möbel. Inmitten der liebevoll ausstaffierten Stuben entsteht der Eindruck, als präparierten die Mennoniten ihr antiquiertes Leben, weil sie ahnen, dass sie ihrer Zukunft endlich ohne Scheuklappen entgegensehen müssen. So wie Abram Peters. Dessen Geschäftsidee mag die mennonitische Welt nicht aus den Angeln heben. Doch immerhin kündet sie von Bewegung. Kann aber so viel Initiative Gott gefallen? Wo es doch im zweiten Brief des Paulus an Timotheus heißt: „Du aber bleibe bei dem, was du gelernt hast“? Abram Peters schweigt. Um seine Mundwinkel flackert nur wieder dieses verlegene Lächeln. Es gibt Fragen, auf die haben auch bibelfeste Mennoniten keine Antwort.