Mein Pool im Polarmeer
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Mein Pool im Polarmeer

DIE ZEIT, Nr. 5/2018

Mein Pool im Polarmeer

 

Draußen eine lebensfeindliche Welt, drinnen perlt der Champagner: Wolf Alexander Hanisch genießt den schrecklichen Zauber der Antarktis. Als Passagier der „Silver Cloud“ hat er nichts zu befürchten.

Irgendetwas stimmt nicht. Irgendetwas ist im Verzug an diesem Morgen, und ich habe mal wieder nichts mitbekommen. Fast zwei Tage lang rumorte es in meiner Schiffsunterkunft, als sei darin ein Geräuschemacher zugange. Es hämmerte und knisterte, quietschte, trommelte und ratterte. Und jetzt? Totenstille. Auch dieses wilde Schaukeln, das schon das Zähneputzen zum Abenteuer machte – weg.

Vorsichtig steige ich aus dem Bett. Ziehe die Vorhänge zur Seite. Und starre ungläubig hinaus: Nachdem draußen über vierzig Stunden lang bis zu sieben Meter hohe Wellen alles in Bewegung brachten, was sich bewegen kann, liegt das Meer jetzt da wie die reine Freundlichkeit und Güte. Unser Schiff ist im quecksilbrigen Gefunkel einer Bucht vor Anker gegangen. An Land werden Gletscher von lavaschwarzen Felsen durchstoßen, die an den Rückenpanzer einer Dornenechse erinnern, davor ragt ein einzelner Eisberg schwimmbadblau aus dem Wasser.

Bis nach Feuerland bin ich schon einmal gekommen. Im südargentinischen Ushuaia, von wo aus Schiffe zur Antarktis auslaufen, kaufte ich mir damals einen Kühlschrankmagneten vom Südpolkontinent. Aber ich hatte wenig Freude an dem Ding. Jedes Mal, wenn ich es in der Küche sah, dachte ich: Hochstapler! Das ist jetzt vorbei. Ich bin über das Weltende hinausgereist und heute in der Antarktis angelangt.

Gerade einmal zehn Tage kostet es mich, sie meiner Reisebiografie hinzuzufügen. So lange dauert die Kreuzfahrt von Ushuaia durch die Drake-Passage bis zum antarktischen Festland und zurück. Die berüchtigte Meerenge verschlingt insgesamt knapp vier Tage und gilt als das Ungemütlichste, was die christliche Seefahrt zu bieten hat. Die Spitze Südamerikas und die Ausläufer der Antarktis (die sogenannte Antarktische Halbinsel) bilden hier einen Engpass, der auf die Strömung wie eine Düse wirkt und das erzeugt, was Seebären den „Drake-Shake“ nennen. Nachdem wir Kap Hoorn hinter uns gelassen hatten, schafften es nur die Allerhärtesten von uns bis aufs Promenadendeck. Wenn ich mich überhaupt aus meiner Suite wagte, dann kaum weiter als bis in die nächste Bar. Dort trank ich Ingwertee und bestaunte das scharfe Gleiten der Albatrosse. Sie spielten mit dem Wind, als hätten sie ihn bestellt.

Es klopft an, und Sady tritt ein. Er trägt Frack und Fliege, seine Hände stecken in blütenweißen Handschuhen. Man kann gar nicht anders, als an den Auftritt eines Butlers in einem Volkstheater zu denken. Ich wiederum gebe den Herrn Baron – in einem Morgenmantel mit Wappen. Sady tut aber nicht nur so, er ist tatsächlich mein Diener. Das Frühstück serviert er mit umständlicher Grazie. Allein das millimetergenaue Ausrichten des Bestecks ist varietéreif. Klischee und Wirklichkeit liegen perfekt aufeinander. Als ich ihn später googele, bin ich fast enttäuscht. Auf einer kirgisischen Facebookseite begegne ich einem Bilderbuchhipster mit Pork-Pie-Hut und Rapper-Geste.

Silver Cloud heißt unser Boot und wurde gerade erst vom normalen Kreuzfahrtschiff zum Eisbrecher für Polregionen umgerüstet. Jetzt ist es eins von mehr als zwei Dutzend „Expeditionsschiffen“, die zur Antarktischen Halbinsel fahren. In Wahrheit aber handelt es sich um einen seetauglichen Tempel der Verwöhnung: Goldene Treppen winden sich durch eine Welt aus moosweichen Teppichen, Marmor und Wandnischen, in denen bronzene Tänzerinnen posieren. Aus versteckten Boxen seufzen Geigen, fast alle Kabinen sind elegante Suiten in Beige, Petrol und Perlgrau. Und das Verhältnis zwischen Passagier und Personal beträgt eins zu eins.

Der Preis für diesen Luxus ist happig, fällt aber für viele kaum ins Gewicht. Die Once-in-a-lifetime -Erfahrung Antarktis ist ohnehin elitär. Wie um zusätzlich dafür zu sorgen, dass sie es auch in Zukunft bleibt, haben sich die Anbieter selbst kostspielige Beschränkungen auferlegt. Zum Beispiel haben sie sich dazu verpflichtet, mit teurem Diesel statt dreckigem Schweröl zu fahren. Und höchstens 500 Passagiere pro Schiff mitzunehmen. Da obendrein nicht mehr als 100 gleichzeitig von Bord dürfen, teilt die Silver Cloud ihre 200 Gäste in vier Gruppen ein. Es gibt eine rote, eine grüne, eine braune und eine schwarze. Ich bin in der roten. Tief im Schiffsleib warten wir jetzt auf den ersten Landgang. Der führt mit Schlauchbooten auf ein Inselchen namens Aitcho, das zur Gruppe der Südlichen Shetlandinseln gehört. In unseren signalroten Thermoparkas trippeln wir vorfreudig-nervös auf der Stelle. So muss sich Neil Armstrong vor seinem Mondspaziergang gefühlt haben.

Draußen geht ein Wind wie eine Armada Sushimesser. Gebückt titschen wir über das Polarmeer und versuchen dabei so entschlossen zu gucken wie Amundsen, Scott und Shackleton auf den Heldenfotos in unseren Suiten. Sie lieferten sich Wettrennen zum Südpol, als die Antarktis noch Terra incognita war. Gleich nach der Landung hellen sich unsere Mienen auf. Wir stehen inmitten von Esels- und Zügelpinguinen, deren Gewusel an eine elektrisch animierte Spielzeuglandschaft denken lässt. Geschäftig schleppen sie Steine für ihre Nester heran, mopsen sich gegenseitig die schönsten Stücke, zanken sich um Möwenfedern. Und überall leuchten pinkfarbene Muster, als seien Graffitisprayer hier gewesen. Doch die Pinguine sprühen selbst: Es ist ihre von Krillkrebsen poppig gefärbte Notdurft, die sie fast einen Meter weit im Kreis um ihre Nester hinausstrahlen und so Mandalas aus Scheiße in den Schnee zeichnen. Kenner reden von Guano, aber das macht es nicht besser. Es ist, was es ist. Und riecht auch so.

„Umgerechnet auf den Menschen, frisst jeder Pinguin 600 Hamburger in acht Stunden. Da kommt was zusammen“, sagt Malcolm. Der Australier mit dem wirkungsbewussten Schelmengrinsen ist Ornithologe und gehört zum 23-köpfigen Expeditionsteam, das sich um die Passagiere kümmert. Immerzu schaut Malcolm, als freue er sich über etwas, was andere noch nicht wissen. Und er ist nicht der Einzige. Auch unsere Meeresbiologen, Geologen und Historiker gucken so.

Warum ein Botaniker mitreist, versteht keiner – mehr als ein bisschen Moos wächst hier nicht. Vielleicht ist er deswegen immer mit der Markierung der Wegstrecken beschäftigt. Keiner unserer Schritte wird nämlich dem Zufall überlassen. Am Nachmittag halten wir in Yankee Harbour, wo der Engländer mit dem Gartenzwergbart einen dösenden Seeelefanten bewacht, den er durch gekreuzte Stangen vor uns schützt. „Das muss so sein“, stöhnt Expeditionsleiterin Karan. „Für alles und jedes gibt es Vorschriften in der Antarktis, und es werden immer mehr.“ Sie muss es wissen. Karan war schon 150-mal hier.

Aug in Aug mit einem Buckelwal

Am Morgen weckt sie uns alle über Lautsprecher in einem vernünftelnden Ammenton – jeder soll kapieren, wann seine Schlauchbootgruppe dran ist. Wer will, kann einmal pro Reise stattdessen mit einer Kajaktruppe ausrücken. So wie ich heute. Nach dem Frühstück sitze ich in einem gelben Tandemboot, und die Sonne scheint über der stahlblau leuchtenden Bucht von Cierva Cove. Wie Entenkinder paddeln wir der Chefkajakerin Valery hinterher.

Während des Winters bildet sich an der Küste ein drei Meter dicker Eisring über dem Meer, der die Fläche der Antarktis verdoppelt. Im Sommer zersplittert er zu Treibeis, durch das wir heute schippern. Manche Eisstücke haben die Größe von Fußbällen, andere die von Wohnblocks. Ein Puzzle, das immer in Bewegung und nie fertig ist. Und ein Heer fantastischer Formen. Hinter mir im Kajak sitzt Bob, einer dieser weißhaarigen Amerikaner, die spielend jeden Hemingway-Ähnlichkeits-Wettbewerb gewönnen. Ständig rufen wir uns neue Assoziationen zu: Schwan, Schildkröte, Kaiserkrone, Formel-1-Auto, Märchenschloss, Pilz, Frauentorso, Düsenjet, Lenin mit ausgestrecktem Arm.

Plötzlich schießen ringsum Fontänen in die Luft. Buckelwale, 15 Meter lang und 30 Tonnen schwer. Die acht Tiere kommen uns so nah, dass es die Boote bei jedem ihrer Manöver anhebt. Einer der Riesen dreht sich zur Seite und schaut uns direkt in die Augen. Sein Gesicht sieht aus wie ein U-Boot-Bug mit aufgemaltem Grinsen. Bob und ich blicken uns an und möchten etwas sagen. Aber wir bringen keinen Ton heraus.

Kaum habe ich mich später aus dem Neopren gepellt, ertönt schon wieder Karans „Dear Ladies and Gentlemen“. Sie mahnt zum Abmarsch. Das recap, die tägliche Rekapitulation, steht an im Theaterrund der Explorer’s Lounge, wo die Experten den Tag resümieren. Meeresbiologin Robin erzählt so wunderbar von den Walen, dass ich ganz ergriffen bin. Trotzdem flackern unangenehme Erinnerungen an meine Schulzeit auf. Schuld ist ein Wichtigtuer aus Mailand, der sich pausenlos fingerschnippend meldet, um dann im Ton einer gestopften Trompete Unsinn zu fragen. Auf dem Schulhof hätte er sich eine Abreibung eingefangen.

Abends speist mein Quälgeist immer im La Terrazza auf Deck sieben, wo er mit Connaisseurschnute den Chianti gurgelt. Im La Dame bin ich vor ihm sicher. Poliertes Teak und rote Säulen schaffen hier einen Anflug von Belle Époque. Und das französische Sechs-Gänge-Menü ist ein Hochamt. Allein vor der Hummerschwanzsuppe möchte man auf die Knie sinken.

In allen vier Restaurants an Bord herrscht freie Sitzwahl. Fürs La Dame habe ich mich mit Flip und Margaret verabredet, zwei Boxring-Ärzten aus Las Vegas. Flip betreute 1997 den legendären Schwergewichtskampf zwischen Mike Tyson und Evander Holyfield, in dem Tyson seinem Kontrahenten ein Stück Ohr abbiss. Zum Grand-Marnier-Soufflé erklärt mir Flip, warum er den „bite fight“ damals zunächst weiterlaufen ließ.

Durchschnittstypen findet man kaum unter den Passagieren. Anderntags esse ich mit den Brüdern Kent und Lee aus Vancouver, die beide 747-Piloten sind. Nehme einen Drink mit einem italienischen Rallyefahrer. Treffe eine grünhaarige Schauspielerin aus London zum Tee. Oder fachsimple mit einem chinesischen Fifa-Funktionär über die Champions League. Es ist, als sei ich in einen Film geraten, dessen Drehbuch Tag für Tag eigens für mich geschrieben wird.

Irgendwann fällt mir auf, dass die Nebendarsteller längst zu meinen Helden geworden sind: Mario und Darryl, Henry und Vladimir, Francisco und all die anderen, fast ausnahmslos philippinischen Kellner in ihren rabenschwarzen Anzügen. Wie schaffen sie es nur, dass ich immer glaube, sie bewirteten mich als ihren Kumpel? Nie habe ich das Gefühl, über ihrer Freundlichkeit hänge die Schürze der Pflicht. Anbiedernde Gesichtsklimmzüge sind ihnen fremd, ihr Lächeln ist eine ansteckende, allein durch Gebrauch nachwachsende Kraft, die mich durch den Tag trägt wie der Wind die Albatrosse.

Ein paar der Angestellten dürfen jedes Mal mit zum Landgang. Auf Danco Island ist Marcelo aus Manila darunter, der strahlt, weil er hier zum ersten Mal im Schnee steht. Er riecht sogar daran. Für die Pinguine dagegen hat er kaum Augen. Uns aber versetzen die tapferen Kerle gleich wieder in Kicherstimmung. Sie pendeln zwischen Nestern und Meer und erklimmen dabei einen viel zu steilen Berg. Beim Schlidderkurs bergab wirken sie wie Ski-Anfänger, die versehentlich auf die schwarze Piste geraten sind.

Der Klimawandel ist in der Westantarktis besonders stark

Damit es nicht allzu lustig wird, steht auf dem Berggipfel Franz. Franz Bairlein ist Professor für Zoologie in Oldenburg und predigt im Windgeheul gegen den Klimawandel. In der Westantarktis zeige er sich so drastisch wie sonst nirgendwo, in fünf Jahrzehnten habe sich das Land um knapp drei Grad erwärmt. Darum regne es plötzlich in der sonst papiertrockenen Gegend, und die zarten Daunen der jungen Pinguine würden nass. „Sie sterben dann, weil sie sich erkälten.“ Und das sei nur einer der Gründe, warum die Zahl der Vögel klimabedingt sinke.

Abends variiert Franz das Thema in einem Vortrag, der ganz anders ist als die launigen Referate seiner Kollegen aus Neuseeland, Südafrika oder den USA. Franz macht die Explorers Lounge zum Hörsaal. Mit großem Genauigkeitseifer wirft er Diagramme an die Wand und vergisst auch nie eine Quellenangabe. Die überwiegend amerikanischen Zuhörer sind begeistert. Man hat den Eindruck, das angelsächsische Pointenfortissimo sei ihnen selbst nicht mehr geheuer.

Franz vertieft seine Erkenntnisse später in der Dolce-Vita-Bar. Ich vertiefe lieber mich selbst. Und zwar in den Jacuzzi auf dem obersten Deck. Natürlich mit Mütze. Der Kontrast zwischen innen und außen ist so überwältigend, dass ich fast vergesse zu atmen. Im Pool brodelt das Wasser, im Glas perlt der Champagner. Und draußen zieht im sepiafarbenen Licht der Dämmerung die lebensfeindliche Welt des Neumayer-Kanals vorbei: düster gezackte, nie betretene Inseln wie aus H. P. Lovecrafts Antarktis-Horror-Roman Berge des Wahnsinns.

Hier hat der Mensch so viel verloren wie auf dem Mars. Trotzdem ist er da. Warum, wollen wir an unserem südlichsten Ziel ins Auge fassen. Es ist die Paradise Bay, wo sich zwei von 40 Forschungsstationen der Antarktis befinden. Historikerin Hanne steht heute am Außenbordmotor und steuert am Skontorp-Gletscher vorbei. Aus seinen Kavernen glimmt blauviolettes Licht, als wohne dort jemand. Von der argentinischen Station Almirante Brown kann man das nicht behaupten. Die rostroten Häuser sind verrammelt, dafür schreien ihre Dächer die argentinischen Farben in die Kälte. Der Antarktis-Vertrag von 1959 schreibt fest, dass die Antarktis niemandem gehört. Trotzdem meldet über ein halbes Dutzend Staaten Gebietsansprüche an, es könnte ja sein, dass die Vereinbarung einmal fällt. Um dann mitreden zu dürfen, müssen die Länder hier forschen. „Aber um Forschung geht es ihnen nur sporadisch“, sagt Hanne. „Wer beispielsweise der fossilen Klimageschichte nachspürt, hat es tatsächlich eher auf Bodenschätze abgesehen. Zum Beispiel Öl. 200 Milliarden Barrel sollen unter dem Eis des Festlands liegen.“

Und wir? Wir sind gekommen, weil wir ahnten, dass es nichts Erhabeneres geben kann als die Antarktis. Und wir hatten recht. Vom ersten Tag an spüren wir ihre schreckliche Schönheit, genießen ihren furchteinflößenden Zauber, weil wir auf der Silver Cloud nichts zu befürchten haben.

Das Schauspiel auf dem Weg nach Cuverville Island gehört dazu: In der Gerlache-Straße beobachten wir Orcas bei der Pinguinjagd. Sie springen und tauchen, als hätten sie einen Plan. „Orcas stimmen sich ständig ab. Man nennt sie die Wölfe der Meere“, erklärt Robin. Malcolm lächelt mephistophelisch. Was, Malcolm? Er wartet, bis ein Zehnjähriger verschwindet, und erzählt dann, dass Orcas auch junge Buckelwale töten. „Sie trennen sie von den Eltern und setzen sich auf das Atemloch, bis sie ersticken. Gefressen wird nur die Zunge – eine Delikatesse für Orcas.“

Die Natur ist grausam. Aber nicht so grausam wie der Mensch. Das scheint uns Deception Island zuzuraunen. Die Vulkaninsel der Südshetlands besteht aus einem Trichter erloschener Lava, der an einer Stelle einstürzte und sich mit Wasser füllte. Durch diese Stelle fahren wir am nächsten Morgen. Nebelfetzen tanzen in der Luft, die Reißzähne dunkler Felsen ragen aus der Wasseroberfläche, als öffneten sich darunter Dämonenmäuler. Wir machen in der Whalers Bay fest – und stolpern herum zwischen Dampfkesseln, Maschinen, Holzbooten und Hütten. Alle sind sie verrostet und verfault und wirken wie eine Phantasmagorie vom Ende der Menschheit. Dabei ging hier nur eine Industrie in die Brüche. Als zur vorletzten Jahrhundertwende die Wale im Norden fast ausgerottet waren, geriet die Antarktis in den Blick der Walfänger. In den fünf Jahrzehnten darauf töteten sie fast 200.000 Tiere, um Tranöl als Brenn- und Schmierstoff zu gewinnen. Nur die fettreiche Hautschicht wurde verarbeitet, den Rest kippte man in die Bucht. Tausende Kadaver sammelten sich an, es stank entsetzlich. Also baute man eine Anlage, mit der auch Fleisch und Knochen verwertet werden konnten. Irgendwann brauchte keiner mehr Tranöl, es blieb nur eine Forschungsstation. Doch als Ende der sechziger Jahre der Vulkan zweimal ausbrach, wurde auch die verlassen.

An der letzten Station Halfmoon Island zeigt sich die Antarktis wieder unbefleckt. Das Schiff parkt so feierlich in einem Bühnenbild aus Klippen und Gletschern, dass ich den sechsten Pinguinbesuch zur Stippvisite verkürze. Lieber sitze ich in der Panoramabar und übe noch einmal das draufgängerische, granitene Amundsen-Gesicht. Immerhin geht es bald zurück in die Drake-Passage.

Doch dann fällt mir auf, dass ich diese Abenteurermaske gar nicht aufzusetzen brauche. Ich bin nämlich der Lebensmut selbst. Und das liegt weniger an der Majestät der Antarktis. Es liegt an der Wohlgesinntheit der Herren in Schwarz, die in mich eingesickert ist wie ein Elixier. Wenn die Erinnerung eine Schatzkiste ist, in der man von Zeit zu Zeit kramt, dann werde ich dieses Bewirtungsgenie so häufig daraus hervorholen wie die Eisberge, die Pinguine und die Buckelwale. Bitte, was, Mario? Einen Martini, so wie gestern? Gute Idee. Für Ingwertee ist noch Zeit genug.