Wir beten an
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Wir beten an

DIE ZEIT, Nr. 5/2016

Wir beten an

 

Man muss nicht gläubig sein, um Kirchen himmlisch zu finden. Im Heiligen Jahr stellen unsere Autoren ihre Favoriten vor: Von Landshut bis Quito

Die Marienkirche in Krakau

Hier leidet Jesus so expressiv, dass es tröstet

Wer niedergeschlagen ist, lässt den Kopf hängen und sieht kaum mehr von der Welt als die eigenen Fußspitzen. Mir ging es so bei einer Recherchereise in Krakau. Es war die Zeit, in der meine Frau eine der schlimmsten Diagnosen erhalten hatte, die Ärzte stellen können. Ich stolperte wie in Trance durch die Stadt und landete irgendwann in einem Seitenschiff der Marienkirche. Warum ich gerade hier den Blick wieder hob, weiß ich nicht. Es war, als würde er von einer fremden Macht gelenkt.

Über mir prangte ein Steinkruzifix des Bildhauers Veit Stoß aus dem 15. Jahrhundert. Es zeigte einen expressiv leidenden, bis an die Grenze des Erträglichen gemarterten Christus. Der entsetzte Blick, die gekrümmten Finger; das Blut, das von seinen durchschlagenen Händen über die Arme bis in die Achseln rann: Alles an ihm war Schmerz, Elend, Unglück. Ich begann sofort zu weinen. Aus Erleichterung. Denn endlich kapierte mal einer, was Sache war. Hier hing kein strahlender Held, sondern ein Gott, der am eigenen Leib erfahren hatte, wie grausam das Leben sein kann. Der mein Leid teilte und linderte, indem er nichts beschönigte, wie das lächelnde Buddha-Figuren tun, islamische Dekors oder Bekannte, die beim Trösten in Wahrheit nur froh sind, selbst noch nicht an der Reihe zu sein.

Das Christentum hatte ich bis dahin für einen düsteren Spielverderber gehalten. Doch in diesem Moment erschien es mir in neuem Licht. Ich erkannte in ihm die Verherrlichung des Schwachen statt des Starken. Den Appell, Schmerz zu akzeptieren, weil er zum Leben dazugehört. Und ich spürte seinen wohltuenden Gegensatz zu einer Erfolgsmenschenwelt, die das Gesunde vergötzt und so hilflos ist, wenn es eng wird.

Dass die Marienkirche auch eine hedonistische Seite hat, offenbarte sich mir erst ein Jahr später, als ich noch einmal nach Krakau reiste. Nun bemerkte ich die gestreiften Säulen und Bögen in Pistaziengrün und Eiscremegelb, die blauen, von goldenen Sternen durchfunkelten Kuppeln, die hippiegrellen Blumenmotive und die Wandgemälde, die in ihren Farbexzessen an Krautrock-Plattencover erinnern. Es herrschte ein fiebriges Gewimmel von Reizen – ganz so, als solle hier etwas gefeiert werden. Einen Grund dazu hatte ich: den Sieg meiner Frau über ihre Krankheit.