19 Feb Darf ich da mal einhaken?
DIE ZEIT, Nr. 28/2014
Darf ich da mal einhaken?
Klettersteiggehen ist Trendsport in den Alpen. Drahtseile und Trittstifte helfen auch Ungeübten die Felswand hoch. Schlecht ist nur, wenn auf halber Höhe der Nervenkitzel in Angst umschlägt. Deshalb kann man jetzt in Ramsau am Dachstein einen Klettersteigschein machen.
Hätte er einen Namen, er hieße zweifellos Rocky. Bebend vor Hochmut, erscheint er auf dem simsschmalen Weg einer Bergflanke und fixiert uns wie ein Boxer vor dem Kampf. In seinen Augen funkelt Grimm, seine Muskeln zucken streitlustig. Es ist, als könne er gar nicht fassen, dass sich tatsächlich zwei Kletterer heraufgewagt haben in sein vertikales Reich. Eine Minute lang durchbohren wir uns mit Blicken. Dann setzt der junge Steinbock zum Sprung an und ist so plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war.
Dass Rockys Auftritt eine Warnung war, dämmert mir erst, als von einem Weg keine Rede mehr sein kann. Wir stecken jetzt inmitten einer Felswand. Das Gehen ist ein Stemmen, die Hände arbeiten so viel wie die Füße. Hin und wieder klacken kleine Steine an meinen Helm, deren Wucht ich bis in die Nackenmuskeln spüre. Hias heißt der Klettersteig, auf dem wir unterwegs sind. Er führt so turmsteil in die Höhe, dass ich an eine Kirmesattraktion denken muss: Jeder Blick nach unten jagt mir Schauer bis in die Fingerspitzen.
Aber ich wollte es ja so. Wollte es machen wie die Klettersteiggeher, vor denen in den Alpen kaum ein Berg mehr sicher ist: coole Typen mit geschmeidigen Bewegungen und klirrendem Metall an den Hüften. Es muss doch seinen Grund haben, dass in den Bergen gerade nichts angesagter ist als dieser Sport, der das Klettern auch Menschen erlaubt, die gar keine Kletterer sind. Menschen wie mir.
Alles scheint so einfach: Beine und Taille stecken in Gurten, die mit einem Klettersteigset verbunden sind – zwei Strängen, die jeweils in einem Karabinerhaken enden. Zur permanenten Sicherung werden sie etwa alle fünf Meter hinter die nächste Verankerung eines Drahtseils eingeklinkt, das die Route vorzeichnet wie ein Ariadnefaden. Dazu ragen an allen schwierigen Stellen Trittstifte aus dem Stein, als wären es die Finger eines gnädigen Felsengottes. Mehr als tausend solcher „Eisenwege“ durchädern bereits die Alpen.
Ich bin dort, wo das Netz am dichtesten ist: nahe Ramsau in der Steiermark. Das Dorf liegt gleich unter dem Dachstein, jenem herrisch aus sattgrünen Matten hervorbrechenden Kalksteinmassiv, durch das 18 Klettersteige aller Schwierigkeitsgrade verlaufen. 1843 schlug hier der böhmische Geograf Friedrich Simony als Erster Tritthilfen ins Gebirge. Darum hält sich Ramsau für die Wiege dieses Trends.
Über mir klebt Walter Walcher im Fels. Der 57-Jährige ist mein Bergführer und bewegt sich trotz Bauchansatz mit der Eleganz einer Echse durch die Wand. Seine hohe Stirn lässt ihn ein wenig aussehen wie die Naturburschenversion von Thomas Bernhard. Allerdings hat er viel bessere Laune. Meine dagegen ist kurz davor, in Panik umzuschlagen: Vor mir wartet meine erste Querung mit Überhang.
„Streck die Arme! Lehn dich zurück!“, ruft Walter. Das ist ein Witz, oder? Ich soll mich am Drahtseil rücklings von diesem Felsbalkon wegbiegen? Technisch mag das ja richtig sein, locker lassen spart Kraft. Seelisch aber könnte mich nichts größere Überwindung kosten. Eine nach hinten gekippte Leiter hochzusteigen wäre ein Klacks dagegen. Während meine Füße nervös nach den Trittstiften suchen, taumelt mein Blick zwangsläufig in die Tiefe. Ich begreife nun, warum das Wort Chaos im Altgriechischen Abgrund bedeutet: Alle Sehgewohnheiten wirbeln durcheinander, nichts ist mehr, was es war. Der Gebirgsbach hat sich in einen silbrig gleißenden Regenwurm verwandelt. Die Baumspitzen am Fuß der Wand sind nun grüne Lanzen. Und die Wanderer in der Schlucht leuchten zu mir herauf wie bunte Pfefferkörner. In meiner Magengrube rotiert ein Sensenrad. Viel zu fest umfasse ich das fingerdicke Seil. Kopf und Muskeln stehlen sich jetzt gegenseitig Kraft. Bloß keine Blockade! Wieder und wieder ziehe und drücke ich mich hoch bis zur nächsten Seilverankerung. Ich klettere nicht, ich flüchte. Doch mit der Zeit steigt das Vertrauen in die eigene Kraft.
Nach einer Stunde sind wir oben. Ohne Gipfelkreuz und ohne Brotzeit. Dafür mit einer tiefen Befriedigung, die keinen Zweifel daran lässt, dass das Glück eine Überwindungsprämie ist. Schweißverklebt genieße ich die Rückkehr meiner Atmung zur Normalität – am Steig verflachte sie, als arbeiteten die Lungen eines Kindes in meiner Brust. Wir wechseln auf einen Wanderweg, retour wird nicht gekraxelt. Wie berechtigt meine Beklemmung war, verrät mir Walter erst jetzt: „Beim Klettersteiggehen ist jeder Sturz ein Unfall. Wenn er passiert, schützt die Ausrüstung vor dem Tod. Aber das war es dann auch.“ Zwar gibt es im Klettersteiggeschirr eine Fallbremse, ein vernähtes Päckchen von Bändern, das bei genügend Zug kontrolliert aufreißt und den abrupten Stopp eines Falls an der Drahtseilverankerung mildert. Doch das funktioniert nur einmal, und auch dann ist es kein Spaß. Außerdem würde man im Sturz von schlimmstenfalls fünf Metern Felsen und Trittstifte passieren, die einen übel verletzen können. Wirbelsäulenschäden, Knochenbrüche oder Bänderrisse kommen darum ständig vor. Hätten mich also gerade Kraft oder Konzentration für nur eine Sekunde im Stich gelassen, ich wäre reif für den Hubschrauber gewesen.
Der hat in Ramsau ordentlich zu tun. Zwei- bis dreimal pro Woche fliegen während der Hochsaison Rettungsteams los, um Menschen in den Klettersteigen zu bergen. Die meisten von ihnen haben sich überschätzt und wissen vor Angst weder vor noch zurück. Darum haben die Ramsauer sich jetzt etwas einfallen lassen: einen Klettersteigschein. Gestern habe ich ihn mit Walter in moderaterem Gelände erworben. Das Zertifikat wird ohne Prüfung vergeben, aber doch nicht an jeden. Schwindelfrei zeigen sollte man sich schon. Im theoretischen Teil lernt man Kartenlesen, Klettertechnik und Wetterkunde. Gerade die ist wichtig. Denn bei den überfallartig aufziehenden Gewittern im Gebirge schlagen die Blitze vor allem in die Drahtseile ein und rasen dann als blaue Starkstromschlangen an ihnen hinunter. Schlecht für den, der sich daran festhält. „Mittlerweile kommt jeder zehnte unserer Sommergäste wegen der Klettersteige, doch viele verstehen von all diesen Dingen nichts. Da musste etwas her“, sagte Walter, als er mir die Urkunde überreichte und seinen Zirbenschnaps zum Anstoßen hob.
„Wandern is öd, gell, Mia?“
An der Silberkarhütte in 1.250 Metern Höhe endet unsere Tour. Hier begrüßt der Bergführer eine Schülerin, die wie ich seit gestern ihren Schein hat und jetzt loslegen möchte. Es ist Mia, ein zwölfjähriges Mädchen, das von einem Wachstumsschub förmlich in die Länge gezogen wurde. Zu Hause in Mannheim klettert sie in Hallen, jetzt will sie ihr Können in der freien Natur unter Beweis stellen.
Im Türrahmen der Hütte steht der Mann, der sich den Klettersteigschein ausgedacht hat: Herwig Erlbacher. Zur Krachledernen trägt er ein kragenloses weißes Hemd à la Rainer Langhans und eine runde Gelehrtenbrille – der Hüttenwirt und Vorsitzende des Tourismusverbands sieht aus, als fielen ihm als Nächstes Tai-Chi-Workshops auf seiner Hochalm ein. Ihm gehören der Hias und zwei weitere Klettersteige im Silberkar, einem östlichen Seitental des Dachsteinmassivs. Rund 15.000 Euro hat er sich jeden von ihnen kosten lassen – nicht nur aus Idealismus. Es ist kein Zufall, dass die Kletterer auf dem Rückweg an seinem Gasthaus vorbeikommen.
Der Erfolg des Klettersteiggehens liegt für Herwig auf der Hand: „Nur so kannst du dich in die Welt großer Kletterer einfühlen, ohne viel üben und komplizierte Knoten büffeln zu müssen.“ Die Klettersteige hätten geholfen, das Reiseziel Österreich von seinem verstaubten Image zu befreien. „Vor 20 Jahren kamen ja im Sommer fast nur Senioren zu uns. Dass sich das mittlerweile geändert hat, ist unbezahlbar“, sagt Herwig. Als Eingriff in die Natur mag er das bisschen Draht und Eisen nicht sehen. Und es stimmt ja: Die Klettersteige sind praktisch unsichtbar.
Während ich auf der Terrasse derbe Würste vertilge, kommt Walter mit seiner jungen Kundin zurück vom Siega-Klettersteig, der ein Stück weiter oben anfängt. Mias Augen sprühen von Begeisterung, als sie sich zu ihrer Mutter setzt. Unterdessen vergräbt am Nebentisch ein Junge trotzig das Kinn im Hals und verweigert seiner teleskopstockbewehrten Familie den Aufbruch. „Wandern is öd, gell, Mia?“, kommentiert Walter und grinst. Er weiß genau, dass Kinder mit stundenlangen Fußmärschen nichts anfangen können. Und schon gar nicht, nachdem sie erlebt haben, wie viel spannender ein Klettersteig ist.
Wer durch das Hauptdorf der Streusiedlung Ramsau spaziert, bemerkt wenig von der Verjüngung, die Herwig so freut. Auf Holzbänken lesen sich Paare in Kniebundhosen aus der Zeitung vor, auf dem Flohmarkt in einer Garage liegt Bergliteratur in Frakturschrift aus. Manche Gasthäuser werben unverhohlen mit Seniorentellern. Im rührend hemdsärmelig eingerichteten Museum erzählt ein altes Ehepaar, wie die Ramsauer Bauern früher lebten. Der Kontrast zum ungleich berühmteren Schladming jedenfalls könnte größer nicht sein. Die Gemeinde liegt ein paar Hundert Meter unterhalb des Ramsau-Plateaus. Dort schmückt man sich mit eiscremegelb getünchten Fassaden und marzipanrosa Fensterläden und ist stolz auf die größte Après-Ski-Hütte Europas.
Hans Prugger passt besser nach Ramsau. Ich treffe ihn abends in einer Wirtschaft, in der beinahe jede Frau Dirndl trägt, nicht nur die Kellnerinnen. Der Mann mit den bergseeblauen Augen und dem willensstarken Kinn hat fast jeden Klettersteig am Dachstein gebaut. Und war damit lange Zeit umstritten. Viele Puristen sahen in den „versicherten Bergen“ ein Einfallstor für Dilettanten in die Sphäre der Könner. Sie verteufelten die vorgezeichneten Kletterpartien als Effekthascherei, die das heroische Ringen zwischen Mensch und Berg zur Farce verkommen lasse. Immer wieder habe er Post mit Beschimpfungen bekommen, erzählt Hans. Auch heute wird noch gemurrt, wenngleich viel leiser als früher.
Dass Hans sich nicht irremachen ließ, glaubt man sofort. Der Mann strahlt Entschlossenheit aus. Als einer der Spitzenkletterer der Gegend hat er gerade zum zweiten Mal die monumentale Wand des Capitan in Kalifornien bestiegen – und das, obwohl er früher einmal einen 70 Meter tiefen Absturz ins Seil nur mit Glück überlebte. Warum aber holt so einer Hinz und Kunz in den Fels? Hans schaut auf seine riesigen, ramponierten Hände, deren Kraft man nach der Begrüßung lange spürt. „Weil die Wände nicht nur für die Eliten da sind“, sagt er schließlich. „Am Anfang hatte ich die Steige gebaut, um an manchen Stellen die Sicherheit für Sportkletterer zu erhöhen. Aber dann sind auch normale Leute gekommen und hatten Spaß. Da habe ich gemerkt, dass Klettersteige etwas Demokratisches sind. Das ist es, was mir an ihnen gefällt.“
An meinem letzten Tag beschließe ich, flügge zu werden, und knöpfe mir den fast komplett senkrechten Rosina-Klettersteig alleine vor. Er ist Hans Pruggers jüngstes Werk. Schon nach ein paar Metern ist die Angst wieder da. Aber sie wird im Zaum gehalten von allem, was ich gelernt habe. Mir leuchtet jetzt ein, dass ich mehr mit den Beinen schieben als mit den Armen ziehen muss, um Kraft zu sparen. Sogar das Zurücklehnen an den Überhängen gelingt. Wacher und konzentrierter als hier bin ich nie gewesen; die Welt besteht nur noch aus dem Relief der Felsen, dem Klacken der Karabiner, dem Brennen der Muskeln. Ich habe mich in eine gut geölte Maschine verwandelt, auf die Verlass ist. Walter wäre stolz auf mich.
Später beim Abstieg komme ich mir unverwundbar vor. Klettersteige machen süchtig, das ist jetzt klar. Mir gegenüber auf der Hias-Route erkenne ich Rocky oder jedenfalls einen nahen Verwandten. Wieder sehen wir uns an. Dann schlenkert der Steinbock zweimal mit seinem Geweih. Es sieht so aus, als wollte er mich grüßen.