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Ab in die Schleife!

DIE ZEIT, Nr. 17/2014

Ab in die Schleife!

 

Der neu eröffnete Moselsteig ist so kurvenreich wie der Fluss. Wer hier wandert, lernt die Landschaft von ihrer wilden Seite kennen. Und ist abends dankbar dafür, dass die Weindörfer noch so herrlich altmodisch sind.

Als ich mich für die Bergstiefel entschied, wurde meine innere Stimme spöttisch. Du nimmst Treter, die schon den Himalaya gesehen haben? Junge, du fährst an die Mosel! Jetzt aber schweigt sie schon seit einer Stunde. Denn ich ramme meine Stiefel in den Fels, dass die Steinchen nur so spritzen. Trample über klirrenden Schiefer. Balanciere von Trittbügel zu Trittbügel auf meinem Weg durch die Furchen und Scharten eines steilen Anstiegs. Erst als die Todesangst erreicht ist, bleibe ich stehen. So heißt ein Abschnitt des steilsten Weinbergs von Europa. Der heißt Calmont und wuchtet seine knapp 400 Höhenmeter derart kühn in den Himmel, dass der Alpenverein, Sektion Koblenz, sogar Kletterhilfen ins Gestein geschlagen hat.

Ich halte mich an einer Metallleiter fest und lasse meinen Blick nach unten taumeln. Tatsächlich: Da liegt die Mosel, das Arkadien aller Freunde der gepflegten Kaffeefahrt. Wie mit dem Zirkel gezogen, dreht der Fluss eine seiner berühmten Schleifen im Sonnenglast. Den Wein kann man nur bewundern für seinen Todesmut: Er krallt sich in Hänge, die so steil sind, dass sie schon nach ein paar Metern aus dem Blick rutschen. Auch über dem Ufer breiten sich stahlstichfeine Rebenmuster aus. Sie umrahmen eine Klosterruine aus dem 12. Jahrhundert. Am Horizont, wo die Hügel im zart flirrenden Licht verpuffen, fährt ein Schubverband voller Steinkohle gegen die Strömung an.

Die Kletterpartie auf den Calmont ist Teil des Moselsteigs, eines eben eröffneten neuen Fernwanderwegs. Nach den Steigen an Rhein und Ahr soll auch er Wanderer in eine Gegend bringen, die nicht den Ruf hat, übertrieben sportlich zu sein. An Weinbergen, Wäldern und dem Ufer entlang führt er von der Mündung in Koblenz bis an den Grenzort Perl im Saarland. Auf den Abschnitten der Terrassen- und der Mittelmosel, die ich mir ausgesucht habe, folgt die Strecke meistens dem Auf und Ab der Hangkanten direkt über dem Fluss. In 24 Etappen von durchschnittlich 15 Kilometern Länge ist der Moselsteig eingeteilt. Ich verdopple den Einsatz: Drei Tage lang will ich jeweils 30 Kilometer weit flussaufwärts wandern – schon um dem betulichen Image der Mosel aufs Dach zu steigen.

Schweiß tropft von meiner Stirn, das Hemd klebt am Körper. Es ist kurz vor Ostern, aber sommerlich wie im August. Calidus mons, heißer Berg, nannten die Römer den Calmont. Seine Flanken fangen die Sonnenwärme ein wie ein gigantischer Hohlspiegel und speichern sie im Schiefergestein. Darum huschen hier Eidechsen und Nattern über den Weg, die sonst eher am Mittelmeer leben. Nie hätte ich gedacht, dass die Mosel so wild sein kann. Und gestern schon gar nicht. Da war ich in Cochem, wo sich unter dem Türmchentohuwabohu der Reichsburg alles ballte, was meine Freunde witzeln ließ, als ich ihnen von meinem Plan erzählte. In den Geschäften standen Weinhumpen und Nussknacker, auf der Promenade lockten die Kellner mit Erdbeerbowle zum Toast Hawaii, und den Marktbrunnen umringten festgeschraubte Drahtsessel wie auf einem Bahnsteig.

Doch weiter weg als das kann jetzt nichts sein. Hier oben bin ich allein. Es hat sich wohl noch nicht herumgesprochen, dass man hier wandern kann. Hinter dem Calmont packt mich die Euphorie. Und sie wächst mit jedem Schritt durch das schüchterne Grün des Frühlings, aus dem es leuchtet, als sei die Welt mit farbigem Puderzucker bestäubt. Aber es ist nicht das Blütenmeer aus Lila und Gelb, aus Weiß und Rosa allein, das mich beinahe singen lässt. Es ist das Offene, in das ich schreite wie ein Bremer Stadtmusikant. Wo ich schlafen werde? Mal schauen. In meinem Rucksack befindet sich alles, was ich die nächsten Tage brauche. Ich spüre sein Gewicht, aber das macht meine Beine nur leichter. Schade, dass meine Moselspötter mich jetzt nicht so sehen.

Als ich mittags in meiner ganzen Wanderburschenherrlichkeit in Neef ankomme, guckt immer noch keiner. Das Dorf wirkt wie evakuiert. Oder lauern die Moselaner hinter den Fenstern ihrer Bruchsteinhäuser? Bourgeoise Katzen hocken auf alten Weinpressen, aus Höfen glotzen winzige Trecker. Im Himmel faucht ein Flugzeug, sonst herrscht Totenstille. Mein Hals ist trocken, die Feldflasche schon seit Stunden leer. Aber kein offenes Geschäft weit und breit. Egal, etwas wird schon kommen. Es kommt aber nichts. Dann geht es in Schrägen wieder Hunderte von Metern einen Weinberg hinauf. Während ich nur noch ans Trinken denke, bemerke ich die Werbeschildchen, die an den Reben hängen. Darauf sind Winzer zu sehen, die mir wie zum Hohn fröhlich zuprosten. Herrgott, wie blöd kann man sein? Ich werde noch verdursten. An der Mosel!

Ganz oben in einem Wald ist es wenigstens schattig. Zweige knacken unter den Sohlen, es duftet nach Erde. Die Mosel hat sich verabschiedet. Dafür übernimmt es nun der Pfad, einen der am wenigsten begradigten Flüsse Deutschlands zu imitieren. Wie die aufreizenden Moselkurven, die es fast bis zur Verknotung bringen, schlängelt er sich Kehre um Kehre durchs grüne Licht. So kommt der Steig auf 365 Kilometer Länge, obwohl der entsprechende Moselabschnitt nur 240 Kilometer misst.

In der Nähe von Bullay reißt das Waldstück ab. Plötzlich blendet die Sonne und leuchtet eine gnadenlos romantische Landschaft aus. Canyonhaft eingekerbt, windet sich der Fluss unter mir. Links und rechts der Ufer formieren sich wieder Rebzeilen zu streng gestrichelten Ornamenten, durch die das Geflecht der Winzerwege mäandert. Viel schöner kann der Schulterschluss von Mensch und Natur kaum gelingen. Dann fällt mein Blick auf ein schiefergraues Geschachtel in der Ferne. Es ist Zell, mein nächster Übernachtungsort.

Als ich im Abendgold durch fast überhängende Rebstöcke ins Städtchen trippele, komme ich mir vor wie in einem alten Reklamefilm „So schön ist unser Deutschland“. Viele Häuser sind von spukschlosshafter, aber ehrwürdig bröckelnder Verzierungswut gezeichnet. Selbst Weintraubenreliefs befreit die Zerstörungsarbeit der Zeit von allzu klebrigem Kitsch. Patina haben auch die meisten Menschen in der Hauptstraße. Sie tragen keine schrillen Funktionsklamotten, sondern gedeckte Farben, als gehorchten sie damit einem Naturgesetz der grauen Jahre. Manche haben ihre Brillen auf die Stirn geschoben und studieren Flaschen, die Weingüter in herrlich altmodischen Tabernakeln ausstellen. Der Geruch von Bratensoße und dicken Bohnen liegt in der Luft, meine Großmutter taucht plötzlich in Gedanken vor mir auf. Vielleicht bin ich deswegen so fasziniert von einem Schuhladen. Sein Schaufenster bietet Modelle für die Trümmerfrauengeneration an und ist mit den Lurchi-Plakaten meiner Kindheit dekoriert.

Die Pfade des Moselsteigs sind etwas für Nostalgiker

Wie der Moselsteig, der den Fluss insgesamt 13-mal quert, verteilen sich auch viele Orte auf die südliche Hunsrücker und die nördliche Eifeler Seite. In Zell ist das genauso. Für die Suche nach einem Quartier gehe ich über die Brücke: Im Ortsteil Kaimt sollen die Preise günstiger sein. „Zimmer mit Du“ verheißt dort das Schild einer Privatunterkunft. Die Vermieterin, eine rüstige Witwe, bittet mich herein. „Von der Rente allein könnte ich kaum leben“, sagt sie in singendem Moselfränkisch. Auf ihrer Bluse steht „Zwitscherstube“ – die Straußwirtschaft ihres Sohnes. Sie zeigt mir drei kästchenhafte Räume, für deren Preis man anderswo kaum eine Mahlzeit bekäme. Die Kissen haben einen tiefen Knick, das Bad ist gelb-orange gefliest und liegt auf dem Gang. Kurz bevor die Frau die Tür wieder schließt, rülpst zum Abschied der Wannenabfluss. Ich überquere noch einmal die Brücke. Aber es könnte mir eigentlich egal sein. Kaum sitze ich nach zwei Vierteln Zeller Schwarze Katz auf der Bettkante, übermannt mich der Schlaf wie auf das Kommando eines Hypnotiseurs.

Es ist erstaunlich, was Höhe vermag: Kaum folge ich anderntags den gelb-weißen Markierungen des Moselsteigs in Richtung Traben-Trarbach, erfasst mich wieder diese merkwürdige Daseinsheiterkeit, und meine Gedanken fächern sich auf wie ein Pfauenrad. Spielzeugklein fahren Autos auf der Uferstraße, ein Stück weiter rollt die Moselbahn über einen Viaduktbogen. Die berüchtigten Campingplätze sehen von hier oben aus wie Käferkolonien. Manchmal kommt ein neuer Caravan angekrabbelt und kurvt neugierig über das Areal, während ihn die anderen aus ihren Parkbuchten zu mustern scheinen.

Gar nicht genug bekomme ich von den Dörfchen, die zwischen Wasser und Weinbergen klemmen. Man schaut ihnen vom Moselsteig aus fast senkrecht auf die mittelalterlichen Schieferdächer. Oft bleibe ich stehen, um mich an diesem Schindeltheater sattzusehen, diesem Wirrwarr aus Erkern, Firsten, Türmen und Kaminen. Immer stärker wird nun das Gefühl, auf dem Moselsteig in die Vergangenheit zu reisen.

Nach zwei Tagesmärschen von je neun Stunden betrete ich Traben-Trarbach ein wenig steif. Auf seiner Brücke fühle ich mich wie ein Bauernjunge bei seinem ersten Stadtbesuch: Pompöse Villen säumen die Uferpromenade der Trabener Seite. Die im Jugendstil und Neobarock errichteten Kästen stammen aus der Zeit, als sich die Doppelstadt zum nach Bordeaux wichtigsten Weinhandelsplatz Europas aufschwang.

Wie schön, dass man diese Epoche bewohnen kann: Das Hotel Bellevue von 1903 ist das einzige originalgetreu erhaltene Jugendstilhotel in Deutschland. Außen ragt ein Turm in Sektflaschenform empor, an den grünen Veranden sollen silberne Metallbolzen Schaumweinperlen symbolisieren. Verschwitzt betrete ich das Foyer und halte noch den zum Wanderstock umfunktionierten Ast in der Hand. Schnell versichere ich am Empfang, dass ich auch lange Hosen im Rucksack habe. Dann breitet sich wieder dieses Zeitkapselgefühl aus. Hier ist alles Belle Époque. Halb nackte Bronzefrauen stemmen Lampenkugeln, florale Farbmuster überranken die Fenster, überall ticken verschnörkelte Uhren. Ich beziehe eine junkerliche Suite mit Teakmöbeln, die nach Bruno Möhring benannt ist. Der Berliner Baumeister hat das Bellevue und sechs weitere Exemplare der Traben-Trarbacher Spektakelarchitektur errichtet. Herrschaftlicher als auf der Terrasse der ihm gewidmeten Suite hoch über der Mosel kann man seinen Riesling kaum trinken.

Beim Frühstück im Speisesaal dagegen geht es zu, als fände ein Casting für einen Loriot-Film statt. Die Herren tragen Cordanzüge mit Halstuch, die Damen Brosche und Dutt. Am Fenster flüstert ein hornbebrilltes Paar in schwarzen Rollis vor ihren Spiegeleiern ein Tischgebet. Dazu fiebert im Hintergrund eine Wagner-Ouvertüre. Und wie kommt es eigentlich, dass der Kellner mich nur dann nach meinen Wünschen fragt, wenn ich gerade einen Lachshappen im Mund habe und nur winkend antworten kann?

Wahrscheinlich bin ich längst ebenso sonderbar vom ständigen Alleinsein. Auch die letzte Wanderung nach Bernkastel-Kues verläuft einsam. Nur selten begegne ich polnischen Winzergehilfen im Tarnfleck, die umständlich an Weinstöcken herumknipsen. Sie kommen mit abenteuerlichen Monorackbahnen fast senkrecht heraufgeknattert. Auf den Schlitten pappen Aufkleber mit altväterlichen Werbesprüchen: „Wein vergoldet jeden Tag“ steht da oder „Glück und Wein – zwei, die sich lieben“.

Vielleicht wird es auch in der Hochsaison nicht viel voller als jetzt. Die Pfade des Moselsteigs sind nichts für Mountainbiker, für Nordic Walker, für Flaneure. Und wegen ihrer Schlängelei noch nicht einmal etwas für Kilometerfresser. Aber für Nostalgiker. Das ist auch deswegen so, weil hier kein Sonnenkollektor das mittelalterliche Dächergewoge entstellt und kein Windrad die Landschaft verhunzt wie ein paar Kilometer weiter in der Eifel und im Hunsrück.

Doch man kann auch anders an der Mosel. Auf der Höhe von Ürzig ragen plötzlich die halb fertigen Pfeiler der Hochmoselbrücke in die Luft wie das Werk von Dämonen. Höher als der Kölner Dom, soll die Autobahnbrücke über eine Länge von 1,7 Kilometern Eifel und Hunsrück verbinden – mitten durch eine 2000 Jahre alte Kulturlandschaft, die gerade hier so feierlich wirkt, dass man sich bekreuzigen möchte. Ich starre auf zerfleischte Erde, auf Kräne, auf die knochenbleichen Monsterstelen des im Kalten Krieg als Truppenaufmarschstraße geplanten Projekts. Wofür dieser Frevel? Für die zwanzig Minuten, die Lastwagen mit ihm einsparen?

Am Nachmittag geht es noch einmal richtig hoch hinauf. Ich bade in Landschaftswonne, schaue aber immer öfter gen Himmel. Den ganzen Tag schwebten da, wie hingepafft, nur ein paar Wölkchen. Doch kurz vor Bernkastel-Kues wird es finster, und die erste Blitzader zuckt durch das Wolkengeschäum. Im Gewitterregen erreiche ich mein Ziel und schlüpfe in die erstbeste Weinstube: ein volles, lautes, verwinkeltes Lokal, in dem man sich die Stirn an den Querbalken stößt. Auf die Wände sind Trinksprüche gemalt, die man im Butzenscheibenlicht kaum entziffern kann. Eine Frau mit Pusteblumenfrisur klopft aufmunternd auf den letzten freien Platz. Dass es mir von der Jacke tropft, stört sie nicht. Ächzend stecke ich die geschundenen Beine unter den Tisch und bekomme meinen Riesling. Mädchen mit rosigen Gesichtern tragen Deftiges auf, ein Mann mit Hosenträgern prostet mir zu. Wenn das die spießige Mosel ist, möchte ich Spießer sein. All ihre Vergilbtheit kommt mir jetzt vor wie ein Echtheitszertifikat. Auch die Enge der Gassen bedrängt nicht mehr, wenn man aus der Weite kommt. Ich bestelle noch einen Schoppen. Und erkläre die Mosel zum Geheimtipp.