Auf goldenen Pfaden
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Auf goldenen Pfaden

DIE ZEIT, Nr. 18/2013

Auf goldenen Pfaden

 

Neuseeland stellt 19 Great Rides für Fahrradfahrer vor. Die schönste Route führt durch den rauen Süden des Landes.

Es knirscht und prasselt und poltert und klackert. Ein spröder Lärm, der klingt wie eine kaputte Kaffeemühle und zugleich wie die herrliche Begleitmusik zu einem Cowboygefühl nahe der Kitschgrenze. Nur sitze ich nicht auf einem Pferd, sondern auf einem Mountainbike, dessen Reifen sich durch Schotter fressen. Der bedeckt einen schnurgeraden Weg, der irgendwo im Hitzegeflimmer einer alttestamentarischen Landschaft verschwimmt. Sie liegt am Südrand der neuseeländischen Alpen und gibt mir die Illusion, nicht Tourist, sondern Entdecker zu sein. Felskuppen ragen aus golden gebranntem Gras wie gigantische Fingerknöchel. Tote Bäume recken flehend ihre Äste dem ätherblauen Himmel entgegen. Für knapp vier Tage radle ich auf dem Otago Rail Trail ostwärts durch Central Otago, das Patagonien Neuseelands.

Meine Route gehört zu einem Netz von 19 „Great Rides“, das sich neuerdings über die Nord- und Südinsel spannt: Radstrecken zwischen 30 und 300 Kilometer Länge durch die schönsten Gegenden Neuseelands. Im September sollen die letzten Wege eröffnet werden. Sie führen über historische Pfade, am Meer entlang, durch Flusstäler oder folgen stillgelegten Bahntrassen. So wie der Otago Rail Trail auf der Südinsel. Er war der erste fertige Radweg und ist das Vorbild für das gesamte Great-Rides-Projekt. Zwischen seinen beiden Endpunkten liegen 152 Kilometer und ein besonderes Stück Neuseeland: trocken, schroff, noch einsamer als der Rest des Landes. Bevor hier vor 150 Jahren Abenteurer nach Gold suchten und mit ihren Funden den Bau der Eisenbahn erst ermöglichten, lebten in Central Otago gar keine Menschen.

Der Spätsommer haucht heiß über die Steppe, als ich im Wildweststädtchen Clyde aufbreche und zum ersten Mal eine Staubfahne in den Himmel schicke. Doch auf den ersten Kilometern leuchten auch vereinzelt Hügel in kräftigem Grün. Dass sie wirken wie frisch gekämmt, liegt an den Rebzeilen. Es sind die letzten vor der Antarktis; die ist von hier weniger weit entfernt als Berlin von Lissabon. So tief im Süden gedeiht Wein sonst nirgendwo auf der Welt. Das will ich mir näher ansehen – bei einem Abstecher zur Black Ridge Winery von Sue Edwards. Lustige Lachfalten zeichnen Sues Gesicht, ihre Füße stecken in lila Gummistiefeln.

Außer mir ist niemand da, doch die Besitzerin des südlichsten Weinguts der Erde öffnet gleich mehrere Flaschen zum Probieren. Ihre Pinot Noir, Gewürztraminer, Chardonnay und Cabernet Sauvignon schmecken so mineralisch wie der Boden, auf dem sie gedeihen. Es ist, als lägen Kiesel im Glas. Sue senkt ihre Nase tief in den Kelch. Die neue Vernarrtheit der Neuseeländer in den Wein amüsiert sie – aber sie freut sich auch darüber. „Es wurde Zeit. Immerhin wächst Wein hier unter ähnlichen Bedingungen wie im Burgund.“ Nur der Frost zur Lesezeit sei ein Problem. Darum lässt sie an kritischen Tagen Hubschrauber über den Weinfeldern aufsteigen. „Mit ihren Rotoren bringen sie die Luft zum Zirkulieren und verhindern, dass sie am Boden friert. Dann geht es bei uns zu wie einst am China Beach in Vietnam“, sagt Sue und lacht donnernd.

Macht die Weite Neuseelands gelassen?

Ein paar Stunden später liegt der Honigton der Abendsonne über dem Land. Das einstige Goldgräbernest Ophir wirkt auf den ersten Blick wie eine Kulisse. Manche Gebäude sind aus der Gründerzeit erhalten und im typischen Angeberstil von Pionierstädten gebaut. Das Postamt mit seinen Rundbögen und einige verträumte Holzhäuser sehen noch heute so aus, als könnte jederzeit Jack London aus der Tür treten. In meiner Pension hängen die ausgemergelten Gesichter der Goldgräber auf Fotos an den Wänden. Viel zu tun gibt es nicht in Ophir. Das winzige Städtchen ist feiertäglich leer auch ohne Feiertag. An der Hauptstraße stehen Karren, die Obst, Haushaltswaren und Kekse feilbieten. Verkäufer braucht es keine. Man nimmt sich, was man möchte, und wirft das Geld in eine Blechkasse. Jetzt wundert mich nicht mehr, warum der Mann im Fahrradverleih so verständnislos schaute, als ich um ein Schloss bat.

Kann es sein, dass Enge argwöhnisch macht, die Weite Neuseelands aber gelassen und großzügig? So kommt es mir jedenfalls vor, als ich am nächsten Morgen erneut durchs offene Land rolle. Immerhin ist die Südinsel so groß wie England, hat aber nur eine Million Einwohner. Die Sonne brennt, in den Satteltaschen gluckst das Trinkwasser, am Himmel paradieren Kumuluswolken. Ich erkenne Gesichter in ihnen, Tiere, Fabelwesen. Genauso ist es mit den verwitterten Felswänden, von denen jede so tut, als wolle sie ein neuseeländischer Mount Rushmore sein.

Gedichte, die die einsame Schönheit Otagos preisen

Durch die erodierten Schieferberge sprengte und hackte man vor mehr als hundert Jahren die Bahnlinie, auf der heute geradelt wird. Zwischen dem Pazifik und dem Ort Cromwell kurz vor den Bergen transportierte sie Passagiere, Obst und Werkzeug. 1990 rollte hier der letzte Zug – gegen die neuen Straßen und Autos hatte die Eisenbahn keine Chance mehr. Deren Geschichte erzählen Informationstafeln entlang des Wegs. So erfahre ich auch, warum hier so viele Königskerzen stehen: Goldgräber führten sie damals ein, weil sie ihre weichen Blätter als Klopapier schätzten.

Über die Gegenwart weiß Brian Turner Bescheid. Ich treffe den Dichter mit dem Wuschelkopf im bunten Stationside Café von Lauder, wo wir vor kohleschaufelgroßen Kuchenstücken sitzen. Die Gedichte des 69-Jährigen beschwören die einsame Schönheit von Central Otago und haben sie in ganz Neuseeland überhaupt erst bekannt gemacht. „Es ist eine Ironie des Schicksals, dass durch den Erfolg meiner Bücher Menschen aus dem Norden herziehen und mehr verändern, als der Gegend guttut“, sagt er in elegantem Englisch, nippt am Tee und betupft seinen Mund formvollendet mit der Serviette. Dann wird der bedächtige Poet für einen Moment zum wetternden Raubein und redet als Umweltschützer. Vor zwei Jahren hat er mit einer Bürgerbewegung einen Windpark in der Gegend verhindert. „Gerade die Energiekonzerne bedrohen uns – Leute, die ständig von Wachstum sprechen und vom Land nichts verstehen. Wachstum um des Wachstums willen, das ist die Ideologie der Krebszelle!“ Er ist ein wenig laut geworden. Aber gleich lächelt er wieder sanft und nimmt noch ein Schlückchen Tee.

„Mit dem Radweg hat sich das Blatt gewendet“

Zurück auf der Piste sind es nur wenige Pedaltritte, bis mich zwei Tunnel verschlucken. In ihnen ist es so finster, dass ich absteigen muss. Dann rattern die Reifen über ein Viadukt, hinter dem sich das Ida Valley öffnet. Bis zum Horizont liegen Felsbrocken herum, als hätte sie ein Riese mit der Pfeffermühle ausgestreut. Später mäandert der Rail Trail Seite an Seite mit einem metallisch-blauen Fluss. Kohlweißlinge sprühen auf, ein Schwarm neongrüner Vögel zuckt durch die Luft. Ich steige ab und lausche dem Monolog des dahinströmenden Wassers. Und bin Brian Turner dankbar, dass ich dabei nicht auf Turbinen schauen muss.

Dann taucht doch ein Windrad auf, ein altes Gerät allerdings, mit einem Gestell aus rot lackiertem Eisen. Es steht neben der Strecke auf dem Gelände der Hayes Engineering Works, einer Landmaschinenfabrik von 1885, die mit dem Modell vor langer Zeit einen Verkaufsschlager landete. Wer das stillgelegte Werk besichtigt, glaubt, es sei noch in Betrieb. In den Hallen herrscht ein Durcheinander von Schneidemaschinen, Flaschenzügen und Schleifrädern, es riecht nach Staub und Öl und Eisen. Auch das vollgestellte Wohnhaus der Familie Hayes steht Besuchern offen. Thank God for a Garden heißt das aufgeschlagene Liederbuch auf dem Klavier, in der Küche ist der Tisch gedeckt. Man traut sich kaum, in die Zimmer zu gehen, weil man glaubt, irgendjemand liege noch im Bett. Nur das Fahrrad fehlt, das die Gründergattin Hannah Hayes täglich im viktorianischen Reifrock bestieg, um damit als Handelsvertreterin die Farmer der Gegend zu besuchen.

Zu ihren Kunden zählten auch die Vorfahren von Stewart Duncan, die einst aus Schottland kamen und Farmer wurden, als die Goldminen versiegten. Der Herr über 8500 Schafe empfängt mich abends in Wedderburn mit schraubstockfestem Händedruck und breitem Lachen. Er hat eine mehrfach gebrochene Rugbynase und das Kinn eines Nussknackers – jeder Preisboxer sähe neben Stewart aus wie ein Gänseblümchen. 14.000 Radfahrer hat er vergangenes Jahr mit einem Sensor auf dem Rail Trail gezählt, der mitten durch sein Land führt. Darauf grasen auch 1000 Rinder und Rehe, deren Fleisch er nach Deutschland verkauft. Für die Fahrradtouristen hat er zusätzlich 14 kieselgraue Ferienhäuschen gebaut.

Radfahrer, die aussehen wie bunte Vögel

Mit einladender Geste deutet Stewart zu einem Pick-up. Auf der Ladefläche liegen ein toter Hirsch und mehrere Gewehre, zwei Hunde springen herbei. Kurz darauf rumpeln wir über die von unzähligen Schafsmäulern geschorenen Rasenteppiche, um die Wollknäuel von einer Weide auf die nächste zu treiben. Die Herden ändern dabei ständig ihre Gestalt wie die Wachsfüllung einer Lavalampe. Wenn Stewart seinen Hunden nicht gerade Kommandos zubrüllt, erzählt er davon, was der Trail für das Kaff Wedderburn bedeutet. „Nach dem Ende der Eisenbahn ging es hier den Bach runter. Erst wurde die Schule geschlossen, dann das Postamt, dann die Werkstatt. Der Pub stand als Nächstes auf der Liste. Aber mit dem Radweg hat sich das Blatt gewendet. Heute serviert der Pub in der Hochsaison hundert Essen am Tag.“ Ob er selbst auch Rad fahre? Stewart grinst nur von einem Ohr zum anderen. Und sieht mich dabei an, als hätte ich gefragt, ob es die Gewehrmunition auf dem Armaturenbrett auch in Rosa gibt.

Mit Wedderburn geht es bergauf, mit dem Radweg bergab: Weil Stewarts Farm den höchsten Punkt der Strecke markiert, ist der Trail von hier aus in beide Richtungen gemütlich zu befahren. Deshalb starten ältere Neuseeländer, die sich selbst gern „Graue Nomaden“ nennen, mit Vorliebe in Wedderburn. Die meisten von ihnen tragen ihrem Beinamen zum Trotz grelle Sportdresse. So leuchten sie, bunten Vögeln gleich, am Morgen des dritten Tages aus dem Dunst des Maniototo-Plateaus hervor. Dessen Weite beflügelt wie eine Droge: Im Schweinsgalopp poltere ich hinab in die Ebene. Bewässerte Wiesen in Erbsengrün fliegen vorbei, manchmal preschen Karnickel sekundenlang vor meinem Vorderrad dahin. Der Himmel bleibt heute bedeckt, irgendwo rinnt Regen wie Tinte aus einer bleigrauen Gewitterlinie. Dennoch kommt mir die schafsdurchtupfte Landschaft nun wie eine domestizierte Wildnis vor, die es gut mit mir meint.

Umgekehrt ist es ja genauso. So wie Wedderburn profitiert auch die größere Station Ranfurly von den Radlern. „Die Zeitungen druckten vor 20 Jahren nur noch Bilder von Steppengrasbüscheln, die der Wind über die Hauptstraße trieb“, sagt Edna McAtamney, die vor einem Gebäude mit goldenen Querstreifen und runden Ecken steht. Die ältere Dame mit den lebendigen Knopfaugen kommt nur noch zu Besuch hierher, ist aber nach wie vor die wichtigste Figur von Ranfurly. Denn die ehemalige Lokalpolitikerin hat dem einst darbenden Städtchen ein neues Image verpasst. „Rural Art Deco Town of New Zealand“ nennt sich der Ort seit 13 Jahren.

Man muss das wissen, sonst übersieht man Ranfurlys Stolz schnell. Erst beim zweiten Durchradeln fallen mir die Stromlinienformen, Stufenpyramiden und Zickzackmuster mancher Häuser auf. Nachdem hier in den 1930er Jahren Feuer wüteten, baute man im damals schicken Art-déco-Stil wieder auf. In der Krise sechs Dekaden später sammelte Edna Geld, ließ das Dutzend puristischer Flachbauten renovieren und begann mit dem Marketing, das seither jedes Jahr in einem Art-déco-Wochenende gipfelt. Dann trägt tout Ranfurly Clubjacketts, Charlestonkleider und Federboas.

Ednas liebstes Kind ist die ehemalige Centennial Milk Bar mit den edlen Streifen, die sie zu einem Art-déco-Museum gemacht hat. „Davon gibt es nur zwei auf der ganzen Welt“, ruft sie, und ihr Schmuck klirrt energisch. „Das andere steht in New York!“ Als wir die Ausstellung betreten, fühle ich mich wie in einem Trödelladen. Alles quillt über von alten Schreibmaschinen und Schaufensterpuppen, puddingrosa Sesseln und Limonadenflaschen aus den 1920er Jahren. Da haben wohl die Ranfurlyer die Zimmer ihrer Großeltern geplündert, mutmaße ich im Spaß. Edna reicht mir ein Glas Sherry. Dann schaut sie mich an. „Woher wissen Sie das?“

Am späten Nachmittag lodert die Sonne durch die Wolken und macht alles orange. Beim Weg hinaus aus Ranfurly ziehen Wellblechgaragen vorbei, windschiefe Strommasten säumen den Weg, dann geht es durch den nächsten Canyon. Als ich in Hyde meine letzte Bleibe erreiche, schiebt sich schon der Mond über die Hügel. Ich übernachte in einem ehemaligen Internat. Der kirchenhohe Speisesaal ist voller Grauer Nomaden. Ihre Gelächterkaskaden dröhnen durch den Raum, als seien aus Männern plötzlich wieder Teenager geworden. Manche Tische sind ganz grün von leeren Weinflaschen. Bill aus Auckland winkt mich zu sich und füllt mein Glas bis zum Rand mit Pinot Noir. Dazu gibt es Lamm – die klassische Otago-Kombination. Bill trägt eine Halskrause und erzählt mir, dass er wegen einer Krebsoperation nur mit einem Lungenflügel fahre. Dann ordert er die nächste Flasche.

Es liegt nicht am Restalkohol, dass ich mich auf meiner letzten Etappe fühle wie in Trance. Ich habe mich längst in einen Zustand hineingefahren, der alles federleicht macht. Das Treten der Pedale erzeugt eine eigentümliche, aus dem ewigen Gleichmaß sich steigernde Kraft. Obwohl es den Stationen nicht an Geschichte mangelt, löscht sie jeden Gedanken an Vergangenes oder Zukünftiges und lässt nur eine rauschhafte Gegenwart zu. Das Knastern der Kiesel. Das Johlen des Windes. Die gebleichten Grasmatten, in denen sich mal Schafe verlieren, mal Kühe grasen, mal Pferde bewegungslos herumstehen wie aus Teakholz gesägte Spielzeugfiguren.

Als ich mittags am Endpunkt in Middlemarch ankomme, will ich gar nicht glauben, dass nun Schluss sein soll. Der Ort hat etwas diffus Nostalgisches, das meine Wehmut verstärkt. Leere Straßen leuchten in grellem Edward-Hopper-Licht. Holzvillen träumen hinter Lattenzäunen, die Tom Sawyer gestrichen haben könnte. Bald wird mich der Taieri-Gorge-Train auf dem verbliebenen Stück der Bahnlinie in die Küstenstadt Dunedin bringen. Ich schaue mich um und spüre ein Ziehen in der Brust. Ich möchte zurück. Zu Sue und Brian, zu Stewart und Edna. Zu den Felsen, zu den Schafen. Hinein in den lärmenden Schotter unter einem Himmel, der keine Kondensstreifen kennt.