Spur zum Glück
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Spur zum Glück

DIE ZEIT, Nr. 50/2012

Spur zum Glück

 

100 Kilometer mit Skatingski von Osttirol nach Venetien – und der Koffer reist hinterher. In Skandinavien hat Loipenwandern ohne Gepäck Tradition. In den Alpen ist der Service neu.

Hat jemand behauptet, es gäbe Glückshormone? Körpereigene Rauschmittel, die bei großer Anstrengung Schmerz und Verdruss verschwinden und Hochgefühle triumphieren lassen? Das muss ein Irrtum sein. Seit einer Stunde hämmert mein Herz, rast mein Puls, rinnt mein Schweiß. Aber Glück? Kein Deut. Dabei könnte ich diesen steilen Anstieg zu Fuß glatt genießen. Über mir schraffieren Fels und Schnee die Karnischen Alpen wie einen gigantischen Kupferstich, links und rechts zittert Sonnenlicht im Fichtenspalier. Doch es hilft nichts. Die Langlaufski an meinen Füßen wollen mir nicht gehorchen. Kaum breiter als Streichholzschachteln, ignorieren sie die Kraft meiner Beine und überfordern meinen Gleichgewichtssinn. Immer wieder rudere ich mit den Armen wie der Volksschauspieler Hans Moser, wenn er einen betrunkenen Kellner gibt. Was ja noch ginge. Aber wie soll ich so jemals 100 Kilometer schaffen?

Von Obertilliach im Osttiroler Lesachtal bis ins italienische Cortina d’Ampezzo führt die Transdolomiti-Strecke, die ich in drei Tagen auf Langlaufski bewältigen will. Von Ort zu Ort, von Hotel zu Hotel. Die Route gehört zu einem 1300 Kilometer umfassenden Loipengeflecht, das sich über Ost- und Südtirol, Friaul und Venetien erstreckt. Es nennt sich Dolomiti Nordicski und ist das größte Langlaufkarussell Europas. Neu daran ist, dass mein Gepäck separat reist: Wenn ich abends ins Hotel komme, steht mein Koffer schon im Zimmer.

Beim Skiverleih heute Morgen in Obertilliach hatte ich mich in einem Anfall von Anfängerchuzpe für Skatingmodelle entschieden. Immerhin hat die flotte Variante auf gewalzten Bahnen den Langlauf von seinem Kniebundhosenimage befreit. Und im Fernsehen wirkt sie doch so spielerisch! „Das packst du locker“, hat mein Guide Eugenio außerdem gesagt. Vor drei Jahrzehnten war er Mitglied der italienischen Langlauf-Nationalmannschaft und Vizeeuropameister. Als ich ihn traf, konnte ich das kaum glauben. Eugenio ist einen Meter sechzig groß und hat die Figur eines Kugelstoßers. Mit dem ersten Gleitschritt jedoch verwandelte er sich in eine Elfe. Jetzt schwebt er im azurblauen Dress vor mir her und verhöhnt die Gesetze der Schwerkraft.

Als sei die Diskrepanz zwischen Elfe und Hampelmann nicht demütigend genug, schreien mich jetzt auch noch bewaffnete Frauen aus der Bahn. Sie sprinten bergauf an mir vorbei, als sei der Tod hinter ihnen her. Gerade noch erkenne ich die schwarz-rot-goldenen Flaggen auf ihren Waden. Die Amazonen gehören zum deutschen Biathlon-Nationalteam, das in Obertilliach regelmäßig sein Trainingscamp aufschlägt. Und es ist nicht das einzige. Seit einigen Jahren gibt es dort ein Biathlonzentrum, das jetzt irgendwo unter uns in einer Mulde liegt und Spitzenmannschaften aus aller Welt anlockt. Dazu zählt auch der norwegische Ausnahme-Athlet Ole Einar Björndalen, der hier sogar gemeldet ist.

Noch vor ein paar Stunden stand ich mit südkoreanischen und australischen Biathleten im Supermarkt an der Kasse. In ihren wurstpellenengen Rennanzügen wirkten sie wie Außerirdische auf Erdenbesuch. Denn dem Haufendorf Obertilliach ist alles Grelle fremd. Es klebt an einem Berghang und hält tagsüber seine Holzfassaden der Sonne hin. Nachts leuchtet allerorten Neonlicht aus Kuhstallfenstern, vor denen Touristenfamilien wie vor Dioramen stehen. Mit grünlich angestrahlten Gesichtern heben sie ihre Kinder hoch und schauen den Kühen beim Verdauen zu. Mehr ist in Obertilliach nachts auch nicht los.

Als Eugenio und ich am Abend des ersten Tages Sillian erreichen, hat sich aus meiner Langlaufpein längst eine Art Leidensstolz entwickelt. Die letzten Kilometer fuhren wir mit dem Skibus, denn hinter Kartitsch brach die Loipe ab. Ganz so lückenlos dreht sich das Karussell dann doch nicht. Wie in Obertilliach sagen sich auch in Sillian Fuchs und Hase Gute Nacht. Aber Après-Ski und Langlauf passen ohnehin nicht zusammen. Speckknödel, zwei Bier, ein Bett – mehr braucht es heute Abend nicht.

Am nächsten Morgen fühle ich mich merkwürdig geschmeidig. Vom befürchteten Muskelkater keine Spur. Doch bevor es losgeht, ordnet Eugenio erst Gleichgewichtsübungen ohne Stöcke an. Wir fahren Kreise, balancieren storchenhaft auf einem Bein und werfen unsere Arme in die Luft, als verteilten wir Kusshände. Dabei sehen wir wohl aus wie Funkenmariechen. „Nä, wat schön!“, ruft prompt ein rheinisches Rentnerpaar.

Eugenios Übungen und Instruktionen wirken Wunder. Zweitakter-Symmetrisch heißt die weit und pathetisch ausschwingende Technik, mit der wir jetzt in Richtung Italien unterwegs sind – und die sich viel eleganter anfühlt, als sie heißt. Was auch daran liegt, dass es nun lange über den flachen Boden des Hochpustertals geht. Als wir die Grenze passieren, schließe ich zu Eugenio auf und habe sogar genug Luft, mich mit ihm zu unterhalten. Zum Beispiel darüber, wie der italienische Politiker und Nationalist Ettore Tolomei einst mit einem Notizblock durch diese Gegend streifte und alle deutschen Ortsnamen italianisierte, als betexte er einen Möbelkatalog. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Zerschlagung der Donaumonarchie war Südtirol Italien zugesprochen worden. Und Tolomei trat mit seinem Assimilierungsprogramm an, alles Deutsche aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Sogar Familiennamen und Grabinschriften wurden italienisch. Heute ist Südtirol längst eine autonome Region.

Und da ist es doch toll, dass man hier zwei Sprachen spricht, oder, Eugenio? Aber der macht nur ein grimmiges Gesicht. Dann erzählt er, wie schwierig es ist, für seine Langlaufschule in Toblach zweisprachige Skilehrer zu finden. Einen Grund dafür nennt er auch. „Früher gingst du durch ein Tor in die Schule, egal, ob dein Unterricht auf Deutsch oder Italienisch war. Mittlerweile ist alles strikt getrennt. Die Lehrpläne, die Ansprüche, sogar die Pausenklingeln sind verschieden.“ Eugenio lästert über die Südtiroler Politik bis Innichen. Ettore Tolomei machte daraus San Candido.

Die Beine werden schwerer, die Pausen häufiger

Vielleicht sind die verstörend lebensgroßen Kruzifixe entlang der Loipe schuld daran, dass ich mir im Ort die uralte Stiftskirche ansehen will. In ihr ist es düster wie in einem Höhlentempel. Lange betrachte ich die Kreuzigungsgruppe, in der Jesus auf dem Kopf Adams steht und gar nicht leidend schaut. Eher wie ein stolzer Sieger über den Tod. Ich nehme mir an ihm ein Beispiel. Denn ab Innichen führt die Loipe elend lang bergauf in die Sextener Dolomiten. Wieder ist es furchtbar anstrengend. Doch Eugenios Elfenschritte wirken hypnotisierend wie ein Pendel und bringen mich in einen stoischen Rhythmus. Gleitschritt rechts, Stockeinsatz, Gleitschritt links. Meine Gedanken fließen im Gleichmaß des Atems. Und meine Augen können sich endlich an der Landschaft sattsehen.

Die Alpen haben sich vor Millionen Jahren aufgefaltet. Das Gesteinstheater der Sextener Dolomiten wirkt jedoch so ungestüm, als sei es erst letzte Nacht aus dem Boden geschossen. Vor allem bei unserem Abstecher ins hochalpine Fischleintal ist es, als glitten wir durch ein megalomanes Bühnenbild. Je höher wir kommen, umgeben von exzentrischen Zacken, desto mehr verstehe ich, warum die Alpen in aller Welt als Chiffre für das Paradies gelten. Ohnmächtig vor Hunger, vertilge ich im Rifugio Fondo Valle Hochkalorisches, dann geht es wieder zurück. Und das heißt: bergab. Wie in einem Langlauf-Werbespot zischen wir durch die Lärchen- und Fichtenwälder. Nun bin ich es, der Langsamere aus der Bahn ruft und mit kleinen Wechselschritten in den Kurven für zusätzliches Tempo sorgt. Hans Moser war gestern. Heute bin ich Ole Einar Björndalen! Im Tal beginnt die Dämmerung das Licht zu schlucken. Bald darauf sind wir in Toblach.

Die letzte Etappe nach Cortina beginnt bei aufbruchsblauem Himmel und führt gleich wieder hin zu einem sinnlos glücklich machenden Gebirgspanorama. Zum Cristallo-Massiv mit seiner kalksteinernen Punkfrisur. Zur Rotwand, die man auch für eine kolossale Burg halten könnte. Oder zu den kapriziösen Felsstatuen der Drei Zinnen. Als ich sie sehe, erschrecke ich beinahe ein bisschen. Die gibt es also tatsächlich und nicht nur in Luis-Trenker-Filmen. Schon am frühen Nachmittag brennen sie im Sonnenlicht orangefarben wie Fackeln. Doch Eugenio und ich zahlen einen Preis für das Schauspiel: Der Schnee unter unseren Skiern erinnert immer mehr an wässriges Sorbet.

Die Beine werden schwerer, die Pausen häufiger. Irgendwann hält Eugenio wieder an und deutet mit dem Stock auf Bergflanken. Mühsam erkenne ich, was er meint. Es sind die Reste von Bunkern und Stellungsanlagen. Wir befinden uns mitten in einem Paradies, das im Ersten Weltkrieg zur Hölle wurde. Allein zwischen den Gipfeln des Monte Piana und des Monte Piano gleich vor uns verloren damals 14000 Soldaten ihr Leben. Den südlichen Hauptgipfel des Massivs hielten die Italiener, den nördlichen die Österreicher. Sie sind kaum mehr als einen Steinwurf voneinander entfernt.

Eugenio erzählt mir nichts Neues. Mein Großvater kämpfte hier als österreichischer Kaiserjäger gegen italienische Alpini – und bei denen, sagt Eugenio, habe sein Großvater gedient. Verblüfft sehen wir uns an: die Enkel derer, die damals aufeinander schossen. „Aber sie haben vielleicht auch zusammen gefeiert“, sagt Eugenio und streicht über sein akkurat rasiertes Bartkunstwerk. Dann erzählt er, wie sein Großvater als Bote zwischen den Fronten unterwegs war und gemeinsame Treffen organisierte. Und tatsächlich zechten Österreicher und Italiener manchmal in der Nacht gemeinsam – um am nächsten Tag wieder die Geschütze sprechen zu lassen.

Gedankenverloren skaten wir Cortina entgegen. Es geht jetzt leicht bergab, über Viadukte und durch Tunnel und vorbei an melancholisch verwitternden Bahnhäuschen. Die Loipe ist auf der Strecke der ehemaligen Dolomitenbahn gespurt. Unser Gleiten ist fast ein Schweben und führt durch ein heiteres Hochglanzbilderbuch aus Bergen, Wäldern und Schluchten. Längst bin ich überzeugt, dass die Sache mit den Glückshormonen doch stimmt.

Als wir später über den Corso Italia von Cortina schlendern, ist es, als riefe ein Regisseur gleich „Bitte!“ und David Niven schritte aus der Tür einer Boutique. Im Olympiaort von 1956 flanieren betagte Männer mit Borsalinos und weißen Schals neben Frauen im Pelz. Sogar die Kinder wirken in ihrer penetranten Eleganz wie für einen Set drapiert. Weiter weg von Obertilliach kann man nicht sein. Das Schöne daran: Den Kontrast haben wir uns selbst erlaufen. Auf der Terrasse einer Trattoria heben Eugenio und ich unsere Gläser voller Wein und Sonnengefunkel. Wir zwinkern uns zu. Und können uns nicht gegen die Vorstellung wehren, unsere Großväter beobachteten uns dabei.