Bitte auf die Blumen treten!
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Bitte auf die Blumen treten!

DIE ZEIT, Nr. 30/2012

Bitte auf die Blumen treten!

 

Ein Wanderweg der raueren Art: Der Trilho dos Pescadores führt durch die Klippengebirge und stürmischen Buchten in Portugals Südwesten.

Hätte ich eine Schwimmbrille einpacken sollen? Sonnenöl? Eine schickere Badehose? Auf dem Hinflug fing ich plötzlich an, über meine Ausrüstung zu grübeln. Schuld daran war das Bordprogramm, das für Portugals Ferienregionen warb und die Costa Alentejana, mein Reiseziel, als lupenreines Badeparadies präsentierte. Ich dagegen saß im karierten Wanderhemd vor dem Monitor, und meine Füße steckten in Bergstiefeln. Irgendwann fragte ich mich, ob hier nicht ein Missverständnis vorlag.

Doch das war gestern. Heute stehe ich mit Rucksack und Teleskopstock im Wind der portugiesischen Südwestküste und fühle mich genau richtig. Zwar gibt es auch hier Sonnenschirme, Sandburgen und Luftmatratzen in Krokodilgestalt. Gerade habe ich das alles in Porto Covo gesehen. Aber es genügten wenige Schritte hinter die Bucht des Ferienorts, um zu begreifen, dass es darum gar nicht geht an der Costa Alentejana; um zu spüren, dass man dieser Landschaft mit Sonnenbaden und Strandvolleyball nicht gerecht werden kann. Hier stürzt sich Europa mit Todesverachtung in den Ozean und versteckt unter Felsabbrüchen lauter menschenleere Buchten. Ich schaue die Küstenlinie entlang nach Süden, bis dorthin, wo alles im feuchten blauen Licht des Meeres verschwimmt, und weiß: Da muss ich hin.

Zum Glück hat Rudolfo Müller mir den Weg geebnet. Aus dem Trampelpfad, der sich vor uns auf den Klippen in Richtung Süden schlängelt, hat er in den vergangenen Jahren eine offizielle Wanderroute gemacht. Sie heißt Trilho dos Pescadores, wurde im Mai eröffnet und führt rund 100 Kilometer weit von Porto Covo im Norden bis nach Arrifana im Süden. In den nächsten drei Tagen werden wir zu zweit darauf unterwegs sein. „Kaum ein Portugiese wollte mir glauben, dass unsere raue Atlantikküste viel mehr zum Wandern taugt als zum Baden“, sagt Rudolfo und richtet sich den von Silberfäden durchzogenen Pferdeschwanz. Der Schweizer mit portugiesischem Pass lebt seit fast 30 Jahren an der Küste des Alentejo und kennt jeden Schleichweg. Darum hat er neben dem „Fischerpfad“ auch den Caminho Histórico entwickelt, eine ungleich längere Route, die parallel im hügeligen Landesinnern durch Korkeichenhaine und Weizenfelder verläuft und erst am Cabo São Vicente am äußersten Südwestzipfels Europas endet. Beide Wege zusammen nennt Rudolfo die Rota Vicentina. Als er erzählt, wie er zwei Jahre lang die Strecken festlegte, Wegrechte klärte und Zugänge schuf, klingt er wie ein Vater, der vom Gedeihen seiner Kinder spricht.

Der vielleicht schönste Unterschied zum Gehen im Hinterland ist der salzige Atlantikwind, der unentwegt in den Haaren wühlt, alles Schwere wegzuwehen und gegen die Fährnisse der Welt zu wappnen scheint. Er hört auch nicht auf, als der Weg ein Stück landeinwärts in das von Blumen blinkende Auf und Nieder der Dünen führt. Weiße Zistrosen, knallrot flammender Klatschmohn und wilde Artischocken schaukeln in der Brise, violette Natternköpfe und gelb glimmender Alant. „Irgendetwas blüht hier immer“, sagt Rudolfo, der noch das unscheinbarste Kraut benennen kann. Als er sieht, dass ich versuche, den vielen dottergelben Blüten auszuweichen, die zu mir herauflächeln, schüttelt er den Kopf. „Mittagsblumen“, erklärt er. „Die breiten sich überall aus und ruinieren die Biodiversität. Da trittst du besser drauf.“

Stunde um Stunde begegnet uns kein Mensch. Am Nachmittag treffen wir zwei Männer vor gigantischen Felsbrocken, die wie Bauklötze eines Riesenkindes 20 Meter unter einer Klippe liegen. Auf einem der Steine sind radkappengroße Abdrücke auszumachen. „Elefantenspuren“, erklärt einer der Männer und überreicht seine Visitenkarte: ein Paläontologe. Die Spuren sind im Sand versteinert und jetzt, nach 125000 Jahren, aus den Wänden herausgebrochen. Der Trilho dos Pescadores steckt voller solcher Fossilien.

Die Elefantenfüße lassen mich an meine Waden denken. Die fühlen sich nach vielen Kilometern Gehen im Sand auch dick an. Umso schöner ist der Anblick von Vila Nova de Milfontes, das plötzlich hinter einer Felsnase auftaucht. Das Dorf funkelt in der Abendsonne, als sei es aus weißen Schachteln zusammengebaut. Mittendrin liegt die Pension Casa do Adro, in der wir übernachten werden. Im Türrahmen steht schon die Besitzerin mit breitem Begrüßungslächeln: Dona Idália. Müde und sonnendurchglüht trete ich ein – und fühle mich augenblicklich wie in einem Tempel zur Huldigung der Großmütter dieser Erde. Alte Uhren, goldgerahmte Kinderfotos, Puttenreliefs und Spitzendecken geben acht, dass die Welt ihren Sinn behält. Auf einem Tisch neben einer altmodischen Chaiselongue stehen Liköre und Schälchen mit Nüssen. Hier ankommen und sich wie ein Enkel fühlen sind eins. Dona Idália streicht über ihre geblümte Schürze und lächelt madonnenhaft. Seit 1785 gehört ihrer Familie das Haus.

Die Casa do Adro gehört zu den Casas Brancas, einem Netzwerk von 40 kleinen Unterkünften und 20 Restaurants entlang der Rota Vicentina. In den „Weißen Häusern“ haben Touristen noch nicht die Atmosphäre vertrieben, die sie suchen. Rudolfo, der engagierte Enthusiast, ist der Präsident des Verbunds. Er versucht den Pensionen ebenso aufzuhelfen wie dem Wandergedanken. Und er hat ja recht: Gemütlichere Stationen als die Häuser mit ihren jovialen Inhabern können sich Wanderer kaum wünschen. Manche Besitzer kümmern sich sogar um den Transport des Gepäcks von Casa zu Casa.

Von Milfontes nach Zambujeira sind es eigentlich zwei Etappen. Wir versuchen, die Strecke am folgenden Tag in einer zu schaffen. Die Landschaft macht es uns leicht – ein Szenenwechsel folgt auf den nächsten, die Zeit vergeht wie im Flug. Mal streifen wir durch hüfthohes Gras, das an die Serengeti erinnert, mal fühlen wir uns im sonnendurchsprenkelten Gestrüppschatten wie Amazonasforscher. Mal ragen orangefarben zerklüftete Felsen auf wie im Bryce Canyon, mal sinken unsere Stiefel in Sahara-artigen Sand. Irgendwann laufen wir sogar über das Spielfeld von Real Madrid. Der Trilho dos Pescadores führt am aggressiven Grün eines Rasenproduzenten vorbei, der auch das Estadio Santiago Bernabéu beliefert.

Das Meer gurgelt und faucht und brüllt

Am herrlichsten aber ist es auf den Klippen. Immer wieder lasse ich Rudolfo davonziehen und nehme mir Zeit, die Wellen anzustarren, die unermüdlich auf das Land eindreschen. Als wüssten sie, wie schön sie sind, scheinen sie auf ihrem höchsten Punkt kurz innezuhalten und zu einer Wand aus mintfarbenem Glas zu erstarren. Im nächsten Moment explodieren sie umso wütender und bedecken Strand und Steine mit einem Mantel aus zischendem Schaum.

Dort, wo die See am ungestümsten tost, rinnen immer wieder leiternsteile Nebenpfade von den Höhen des Trilho dos Pescadores zum Meeresbrausen. An deren Ende stehen manchmal Fischer, Typen wie Manuel, ein kleiner Mann mit sonnenverbranntem Gesicht. Seine sechs Meter lange Angel wirkt, als führe sie und nicht er das Kommando. Manuel erzählt, dass die Brandung hier Nahrung aus den Felsen reißt und Doraden, Silberbarsche oder Geisbrassen ins Gebrodel lockt. An guten Tagen fängt er zehn Kilo davon und verkauft sie an Restaurants. Er lästert über den Pfad: Mit den Wanderern sei das Angelverbot gekommen! Sofort beteuert Rudolfo in besonders weichem Portugiesisch, der Weg habe nichts mit dem mittwöchlichen Angelverbot zu tun. Überzeugen kann er Manuel nicht. „Wenn wir hier nicht angeln dürfen, reißen wir die Markierungen heraus“, droht er zum Abschied und lächelt mephistophelisch.

Im Glanz des Spätnachmittags kommen wir am Cabo Sardão an, das wie eine Faust ins Meer ragt. Rudolfo denkt immer noch an Manuel. „Ich kann die Angler gut verstehen“, sagt er. „Gerade für Rentner, die sich von ihren 150 Euro im Monat kein Fleisch leisten können, ist das Fischen wichtig.“ Die Altersarmut – sie habe die Selbstmordrate im Alentejo zu einer der höchsten Europas gemacht. Die pittoreske Patina der Dörfer im Hinterland und die darin herumschlurfenden, auf Kindergröße geschrumpften Greise erscheinen plötzlich in anderem Licht. Stumm vertilgen Rudolfo und ich die letzten von Dona Idálias Broten und beobachten dabei eine Möwe bei endlosen Angriffen auf das Nest einer Weißstorchenmutter. Sie haust auf einem Vorsprung des Kaps und verteidigt ihre Jungen mit verzweifelten Flügelschlägen.

Als wir in Zambujeira ankommen, ist es schon dunkel. Der Ferienort blickt auf eine Bucht herab wie auf die Bühne eines Amphitheaters. Auf der Promenade sitzen ein paar Engländer mit zerklüfteten Gesichtern beim Bier, ein Kellner lehnt in der Tür seiner Bar und liest Zeitung. Ich nehme in einer neongrell ausgeleuchteten Marisqueira Platz und lasse carne de porco à la alentejana kommen – Pata-negra-Schinken mit Venusmuscheln. Meer- und Landküche zu vereinen ist eine Tradition des Alentejo und geht auf die Phönizier zurück. Sie brachten damals Fisch vom Atlantik ins Hinterland und nahmen dafür Fleisch und Wein mit. Ich bestelle eine zweite Portion. Dann falle ich ins Bett der Pension nebenan.

Der dritte und letzte Tag unserer Wanderung ist eine Sache von wenigen Stunden. Hinter Praia de Odeceixe gibt es den Trilho dos Pescadores nur noch in versprengten Teilstücken. Wer weiter laufen will, muss auf den Caminho Histórico wechseln. „Die Küste wird hier immer höher und zerfurchter“, sagt Rudolfo. „Da müssten wir erst Brücken und neue Wege bauen.“ Er sollte es wirklich tun. Denn gegen Ende gibt das Klippencrescendo noch einmal alles. Wäre Richard Wagner Landschaftsarchitekt gewesen – so hätten seine Fantasien aussehen können. Aus der Brandung ragen Riffe hervor wie Gralsburgen, Dünen ahmen Gebirge nach, Wanderfalken zerschneiden die Luft. Dazu gurgelt und faucht und brüllt das Meer – und kommt mir dennoch mittlerweile vor wie ein alter Freund. Wie ein Lebewesen, das immer da ist und atmet wie ich.

Die letzte längere Zugabe des Pfads versandet in der Bucht von Arrifana, wo sich Surfer aus ganz Europa treffen. Mit ginsterblonden Mähnen schauen sie wie schläfrige Löwen aufs Meer. Hin und wieder stehen ein paar auf, um eine Welle zu jagen. Ich mache es ihnen nach, pelle mich aus meiner verschwitzten Wanderkluft und gehe ins Wasser. Seine Kälte raubt mir den Atem. Aber sie tut gut. Ich schwimme los und staune fast: Das geht hier also doch. Über dem wimmelnden Silber der Wogen erkenne ich in der Ferne den Leuchtturm des Cabo São Vicente. Von dort segelten die portugiesischen Karavellen im 15. Jahrhundert ins Ungewisse. Kurz bevor ich selbst abtreibe, kehre ich um.