20 Feb. Die Zukunft kann warten
DIE ZEIT, Nr. 17/2006
Die Zukunft kann warten
Die serbische Hauptstadt Belgrad feiert trotzig den Augenblick.
Wer erst einmal einen Kaffee trinken geht, macht nichts falsch in einer fremden Stadt. Und schon gar nicht in Belgrad. Denn hier gibt es den perfekten Ort dafür. Fürs Sitzen und Trinken und Schauen. Es ist das Hotel Moskva. Wie ein gigantisches Konfekt liegt es seit genau hundert Jahren am noblen Beginn der Flaniermeile Terazije. Es hat eine Porzellanfassade und ein grasgrünes Dach, kokette Türmchen und 132 Zimmer, deren Mobiliar so bürgerlich gestelzt wirkt, als stamme es aus einem Film von Loriot. Und es hat dieses bahnhofshallengroße Kaffeehaus im Erdgeschoss. Hier verneigen sich dienstfertige Ober in einem Tischchenmeer Hans-Moser-haft vor ihren Gästen und servieren Torten, die Diplomat und Esterházy heißen. Betagte Herren knistern mit ihren Zeitungen, und ein Pianist lässt die Melodie von Strangers In The Night wie einen melancholischen Schmetterling durch die Luft taumeln.
Im Moskva steige Peter Handke ab, wenn er die Stadt besuche, verrät die Hotelmanagerin. Sie ist das, was man eine stattliche Frau nennt. Tiefroter Lippenstift verleiht ihrem Mund die strenge Erotik einer Schauspielerin der dreißiger Jahre. „Herr Handke ist ein so wundervoll einfacher Mensch“, sagt sie über den Schriftsteller, der seit seinen umstrittenen politischen Einlassungen in Serbien höchste Achtung genießt. Vor kurzem erst war er im Land, um an der Beerdigung Slobodan Miloševićs teilzunehmen. Die Managerin fährt sich mit streichholzlangen Fingernägeln durchs blonde Haar. Für einen Augenblick meint man, sie erröte. Dann streichelt sie über eine der Rückenlehnen und versichert, dies hier sei der Lieblingsplatz des Dichters, wenn er im Café serbische Intellektuelle empfange und den Blick auf die Flaneure genieße.
Man muss nicht Peter Handke sein, um dem Blick durch die riesige Fensterfront etwas abzugewinnen. Er ist weit und schweift über eine Szenerie von beruhigender Vertrautheit. Schöne Frauen tragen Papiertüten mit glitzernden Emblemen. Sonnenbebrillte Männer rufen in ihre Mobiltelefone. Ab und zu steuert ein protziger Geländewagen umständlich in eine Parklücke. Schon bei der zweiten Tasse turska kafa ist man überzeugt, Belgrad habe nun endlich seine Flügel ausgebreitet und genieße den Aufwind einer neuen Zeit.
Zählt Serbiens Hauptstadt zu Mitteleuropa? Durch die Scheiben des Moskva sieht es so aus. Und gleich nebenan kann man die schmucke Knez Mihailova hinaufspazieren. In der Fußgängerzone reihen sich prächtige Bürgerhäuser, Kunstgalerien und Boutiquen aneinander. Kaum zu glauben, dass hier vor nur sieben Jahren junge Leute Bücher aus jenen Ländern verbrannten, die damals Bomben auf die Stadt warfen.
Im Nordwesten stößt die Knez Mihailova auf den Kalemegdan-Park. Er beherbergt die Überreste des historischen Stadtkerns und einer Türkenburg und stürzt auf der anderen Seite jäh in die Tiefe. Von dort erklimmen Straßenbahnen in einem engen Bogen den Festungsberg. Sie kreischen und rumpeln, und ihre rostigen Waggons schwanken wie Kutter auf hoher See. Wer die Ungetüme kommen sieht, ahnt, dass sie zu einem anderen Belgrad gehören. An der Haltestelle des Parkeingangs öffnen sie ächzend ihre Türen, und es ist, als zischten sie dem Fremden zu: Komm mit in unser Reich! Unwillkürlich steigt man ein.
Keine drei Haltestellen weiter zeigt sich, welcher Couleur dieses andere Belgrad ist. Es ist grau. Ein graues Monstrum mit Schmissen und Scharten und Brüchen. So also sieht eine Stadt aus, die 38-mal dem Erdboden gleichgemacht wurde. Architektonische Grausamkeiten des Realsozialismus ziehen vorüber und zerschossene Palastbauten, kariöse Stuckfassaden und Jugendstilfronten. Wie endlose Reihen verwilderter Spätheimkehrer säumen sie die Straßen. Man tröstet sich damit, dass sie irgendwann ihre abgasgeschwärzten Kutten abwerfen und zeigen werden, wie viel Schönheit darunter liegt. Doch ihre Zeit ist noch nicht gekommen.
Irgendwo steigt man aus und lässt sich mitreißen von der beinahe asiatischen Intensität der Menschenströme. Aus allen Richtungen branden sie über das Auf und Ab der Straßen. Trolleybusse rattern und poltern, Polizisten trillern, ein Aroma von Kohlefeuern würzt die Luft. Unmerklich beginnt man selbst zu hasten und hält erst wieder inne, wenn man vor jenen Verheerungen steht, die die verblüffend punktgenauen Bombardements der Nato im Frühjahr 1999 schlugen. Wie Phantasmagorien düsterer Comics gähnen mitten im Zentrum der Anderthalb-Millionen-Metropole ausgebrannte Höhlengebirge. Die Ruinen des Innenministeriums und des Generalstabsgebäudes sehen aus, als wäre hier gestern noch gearbeitet worden. Aus einem der geborstenen Fenster baumelt ein Telefonhörer.
Wer ein paar Dinar spendete, durfte das Bild des Diktators ohrfeigen
Je weiter man sich von der Innenstadt entfernt, desto augenscheinlicher werden jene, die der Krieg in die Stadt spülte: 140000 Flüchtlinge, von denen die meisten bis heute in Baracken hausen. Auf den Bürgersteigen und in den Seitenstraßen feilschen sie um ihre Existenz, umringen als Händler oder Kunden Waren, die auf Kühlerhauben und Decken ausliegen. Auf dem Bulevar Kralja Aleksandra steht ein Mann mit sanften Augen hinter einem einsamen ausgestopften Fasan. Er raucht Kette wie fast jeder hier. Billige Drina für weniger als 50 Cent. Verzweifelt wirkt er nicht. Eher schicksalsergeben. Er erzählt, dass er vor Ratko Mladics Schergen aus Bosnien floh – und das, obwohl er selbst Serbe ist. Ein paar Stände weiter kann man ein Porträt des Kriegsverbrechers kaufen, zwischen Pantoffeln, Nagellackfläschchen und Batterien.
Erinnerungen an die Demütigung Serbiens lauern überall in Belgrad. Auch dort, wo der Protest gegen das untergegangene Regime zu Hause war. Einer dieser Orte ist das Café Plato im ersten Stock der philosophischen Fakultät. Hier wurde die Revolution geplant, als im Jahr 2000 Hunderttausende gegen den Wahlfälscher Milošević demonstrierten. Auf den voll besetzten Tischen glimmen grüne Leselampen wie in einer Bibliothek, daneben liegen unzählige Zigarettenschachteln und Handys. An einem von ihnen sitzt Dragan. Ein schlaksiger Bursche mit hoher Stirn und Hornbrille. Den Zeigefinger seiner rechten Hand hat das Nikotin gelb gebeizt. Dragan sammelte damals Geld für die Bewegung. Auf seiner Blechbüchse prangte das kalte Misanthropengesicht von Milošević. Wer ein paar Dinare hineinwarf, durfte es ohrfeigen. Die meisten Belgrader seien Gegner des Diktators gewesen, sagt Dragan. Warum also die Nato-Bomben? Sie hätten doch Nationalisten und Milošević-Gegner nur zusammengeschweißt. Jetzt hofft der arbeitslose Informatiker darauf, dass die Europäische Union Serbien bald in ihre Arme schließt. Und wird dann alles gut? Dragan weiß es nicht. „Aber ich weiß, dass ich mich dann nicht fühlen werde wie ein verlorener Sohn“, sagt der ehemalige Rebell und verordnet sich einen grimmigen Blick.
Für die 25-jährige Mila wäre das schon zu viel Optimismus. „Guter Witz“, scheint sie sagen zu wollen, wenn man ihr mit Aufbruch und Europa kommt. Aber Mila lacht nur. Laut und lang und mit diesem vergnügten Keckern, das so klingt, als genüge es sich selbst. Sie steht an einer der vielen Theken des Klub Dob im Gebäude des ehemaligen sozialistischen Jugendverbands. In den Internet-Cafés klacken Finger über Tastaturen, in der obersten von vier riesigen Etagen dröhnt eine Rockband. Mila zupft sich den Strohhalm ihres Cocktails von den Lippen und sagt, wie sie es sieht: dass sich die Welt von Belgrad verabschiedet habe und Belgrad von der Welt. Dass es darum gehe, das Leben zu inhalieren, und zwar jetzt. „Das Hoffen auf eine Zukunft hat man uns abgewöhnt. Die kommt früh genug.“
Auf den Partyschiffen wird zu Turbo-Folk bis vormittags getanzt
Die hagere Schöne jobbt als Fotomodell und hat sich jetzt an der Universität eingeschrieben. Wie sie waren zwei Drittel ihrer Kommilitonen noch nie im Ausland, das ermittelte eine Umfrage der serbischen Studentenunion. Aber ebenso viele wollen ihr Land verlassen, weil sie keine Perspektiven sehen. Ohne festen Job, wohnen viele junge Leute lange bei ihren Eltern. Nicht wenige „behalten bis zur Mitte des vierten Lebensjahrzehnts die kurzen Hosen an“, schreibt der Soziologe Srećko Mihailović. Und Mila lacht wieder und fragt zurück: „Sieht so Aufbruchstimmung aus?“
Viele Belgrader teilen Milas Gegenwartshunger. Er treibt das Nachtleben an. Am schicksten zeigt es sich in den Bars der Strahinjica Bana Ulica. Sie könnten auch in Berlin oder Barcelona stehen und gingen dort für voll, laut und lebendig durch. Gegen die Partyschiffe aber sind sie nichts als brav. Fast 150 davon liegen an den Ufern von Save und Donau vor Anker. Manche fassen 4000 Menschen und ähneln von außen schwimmenden Parkhäusern. Andere wirken wie aus Sperrmüll zusammengenagelte Skihütten. Auf vielen der Boote spielen die berüchtigten Turbo-Folk-Bands ihre furiose Verballhornung der Balkanmusik. Sie war der Soundtrack zur Kleptokratie der Milošević-Jahre, in denen der graue Despot seine nationalistisch gesinnten Mafiafreunde protegierte. In den Texten wurde der Westen geschmäht und die jugoslawische Armee angefeuert. Das ist vorbei. Geblieben sind Gangsterattitüde und Porno-Ästhetik.
Auf der Acapulco kann man erleben, wie zwei Männer in hysterischen Hemden orientalisch kippelnde Technoklänge aus ihren Keyboards drücken. In ihrer Mitte singt eine dramatisch geformte Frau im Leopardenmini. Sie klingt, als würde sie im Amphetaminrausch einen Orgasmus vortäuschen. Frauen wie sie nennt man in Belgrad „Silikonsängerinnen“. Die meisten von ihnen sind mit Mafiabossen liiert. Die Königin des Turbo-Folks heißt Ceca. Sie ist die Witwe des Kriegsherrn Arkan. 2003 war sie wegen des Verdachts in Haft, an der Ermordung des ehemaligen Ministerpräsidenten Zoran Djindjić beteiligt gewesen zu sein. In ihrer protzigen Villa im Nobelviertel Dedinje fanden sich Waffen.
Im Schwarzen Panther auf der Halbinsel Ada Ciganlija spielt man nur Zigeunermusik. Wie auf allen Booten ist hier Stunden nach Mitternacht keiner mehr nüchtern. Frauen lassen auf den Tischen ihre Becken kreisen, und Männer mit goldenen Ringen an allen Fingern feuern sie an. Kurz vor Tagesanbruch reißt sich ein sturzbetrunkener Riese mit fleischig gewordenen Muskeln das Hemd vom Leib. Er schreit und hüpft und küsst alle Musiker der Roma-Band und dann wahllos die Gäste. Auf seinem Rücken prunkt eine radkappengroße Hakenkreuztätowierung. Vielleicht hat er sie einfach vergessen. Derweil nippen in einer Ecke zwei Amerikaner verstört an ihrem Bier. Sie sind die einzigen Touristen weit und breit.
Irgendwann torkeln die Partymenschen zu den Taxis, die vor den Booten auf sie warten. Es ist längst Vormittag, und in der Knez Mihailova stehen wieder die Postkartenverkäufer bei ihren Ständen. Manche ihrer Motive zeigen die Explosionen, die als Fernsehbilder um die Welt gingen. „Serbia by night“ steht unter den Feuerbällen. Doch die sortiere er jetzt aus, erzählt einer der Händler. Warum? Um die Touristen nicht zu erschrecken? Er überlegt ein wenig zu lange. „Ja, ja, genau“, sagt er dann beflissen, und in seinem gemütlichen Vollbartgesicht klafft ein Lachen. Man hat den Eindruck, er fände ein bisschen erschrecken eigentlich ganz in Ordnung.