Mein lieber Schwan!
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Mein lieber Schwan!

DIE ZEIT, Nr. 11/2006

Mein lieber Schwan!

 

Neuschwanstein ist eine fantastische Architekturschnulze, die noch immer zu Tränen rührt. Vor allem die, die nach vier Stunden Warten abgewiesen werden.

Allmächtiger! Jetzt muss Wagner ins CD-Fach. Aber schnell. Der Ritt der Walküren. Jede andere Musik kann nur versagen in dieser Landschaft. Gerade noch waberten Nebelschwaden wie Hexenwerk vor dem Autofenster, und schwarzbraune Moorseen schimmerten geheimnisvoll zwischen Waldstücken. Doch plötzlich zerreißt die Morgensonne den Dunstschleier und gießt ihr Licht über die Voralpenhügel des Ostallgäus. Ein paar Kilometer rollen ihre sattgrünen Wellen in Richtung Süden, dann brechen sie sich jäh an der 2000 Meter hoch aufragenden Phalanx der Allgäuer und Tiroler Berge. Wie eine erstarrte Brandung aus Stein glühen ihre schneebestäubten Zacken im Sonnenglast. Das ist keine Landschaft mehr, das ist ein befahrbares Bühnenbild. Eine Kulisse, die nach nichts mehr verlangt als dem aufbrausenden Gedröhn von Richard Wagners Ouvertüren. Und gerade wenn man glaubt, eine Steigerung sei nicht möglich, taucht diese Gralsburg auf. Puderzuckerweiß erhebt sie sich wie eine Fieberfantasie über einem Felssockel. Doch der Palast ist keine Halluzination. Er ist die vielleicht berühmteste Architekturschnulze der Welt: König Ludwigs Schloss Neuschwanstein.

Hinter Füssen gerät das Pathos ins Stocken. Ein Autokorso stottert den vier rollfeldgroßen Parkplätzen von Hohenschwangau entgegen. Der Ort unter dem Schloss ist dem Namen nach ein Dorf. Doch in Wahrheit handelt es sich bei dem Flecken um einen auf urbayerisch getrimmten, von einem babylonischen Völkergewusel beseelten Kini-Basar. Eine Welt aus cuckoo clocks , German dolls und teddy bärs. Die lebensgroße Ludwig-Büste aus Alabaster ist für 290 Euro zu haben, der prachtvollste Bierhumpen mit seinem Konterfei kostet 45 Euro. Und natürlich verfügt jedes Souvenirgeschäft, das auf sich hält, auch über ganzjährig geöffnete X-mas shops. Der dämlichste Versuch, den Besuchern das Geld aus der Tasche zu ziehen, ist ein zwei Daumennagel großes Kupferstück. Es steckt in einem Sockel aus Imitatsamt unter einer spitzen Plastikhaube. Das Ding ist ein Teil des alten Schlossdachs, das in den achtziger Jahren ersetzt wurde. 69 Euro kostet der Nippes. Er liegt wie Blei in den Regalen.

Tourismus fand hier schon vor mehr als hundert Jahren statt. Damals war es die Sommerresidenz des bayerischen Hofes auf dem Neuschwanstein gegenüberliegenden Schloss Hohenschwangau, die Adels- und Industriellenfamilien, Professoren und Generäle anlockte. Man wanderte mit Zeichenblock, picknickte im Gras und schaute seufzend in die Berge. Vorbei. Seit die nationalsozialistische Reiseorganisation Kraft durch Freude Hohenschwangau als Erholungsort auserkoren hatte, regiert hier der Massentourismus. Heute pilgern die Urlauber auf einer 800 Meter langen Asphaltstraße durch einen Mischwald hinauf zu Schloss Neuschwanstein. Sie ist der Leidensweg übergewichtiger Amerikaner, die keinen Platz mehr in einer der Kutschen ergattern, die von Haflingern in erbärmlicher Sisyphusarbeit über 150 Höhenmeter gezerrt werden. 1,3 Millionen Neuschwanstein-Besucher überwinden diese Anfahrt pro Jahr. Im Tumult der Sommermonate steigt die Zahl der Tagesgäste auf bis zu 10000.

Nie sollten Besucherblicke Ludwigs Schloss besudeln

Dabei sollten Menschen im Schloss nie eine Rolle spielen. Das Refugium war allein für den schwermütigen König bestimmt. Und für Richard Wagner, den Ludwig II. verehrte wie niemanden sonst. Ein „würdiger Tempel für den göttlichen Freund“ schwebte dem Monarchen vor, eine Reminiszenz aus Lohengrin und Tannhäuser, die von Besucherblicken keinesfalls „besudelt“ werden dürfe. Zwischen 1869 und 1886 ließ er Neuschwanstein nach Entwürfen eines Bühnenmalers „im echten Styl der alten deutschen Ritterburgen“ für 6,2 Millionen Goldmark errichten.

Das Wolkenkuckucksheim war der Versuch, sich loszukaufen von einer Welt, deren „Ovationsgebrüll“ er hasste. Hier verwirklichte der Wittelsbacher seinen Traum von der Einheit mystischen Gralsritter- und absolutistischen Gottesgnadentums, das ihm die politische Wirklichkeit des bourgeoisen 19. Jahrhunderts verwehrte. Parzival und Frankreichs Sonnenkönig, Ludwig der XIV., sollten sich auf Neuschwanstein die Hände reichen. Mehr als mit seinen anderen Prunkbauten inszenierte Ludwig hier eine Scheinwelt, in der er Produzent, Regisseur und Hauptdarsteller in einem war. Und in der er sich mehr und mehr verirrte. Er unterzeichnete Briefe mit „Parzifal“, unterhielt sich mit historischen Persönlichkeiten, verkleidete sich als Lohengrin und steckte seine Lakaien in orientalische Gewänder. Seine Fluchtburg verließ er nurmehr nachts. Dann eilte er mit Schlitten oder Kutschen wie ein Gespenst im zuckenden Licht der Fackelreiter durch sein Königreich.

Ein Termin beim Schlossherrn der Gegenwart ist im Vergleich zu Ludwigs Leben schmerzhaft prosaisch. Man wartet in einem schmucklosen Zimmerchen mit Raufasertapete. Nur ein Blick aus dem Fenster zeigt, dass man sich im Verwaltungstrakt des Traumschlosses befindet. Man denkt, gleich käme eine Schwester der Bahnhofsmission herein und stellte Schnittchen mit Hagebuttentee auf den Resopaltisch. Aber es kommt Klaus Peter Scheck. Ein kahler Mann mit schmalen Lippen und stechenden Augen. Seit fast zwölf Jahren ist er der Leiter der Schlossverwaltung. Sein Vorgänger lud von Zeit zu Zeit Freunde ein, um mit ihnen Wagner-Schallplatten im Sängersaal zu hören. In hellen Mondnächten habe man dabei über der Pöllatschlucht seltsame Schattenrisse erkennen können, schwärmen die Teilnehmer noch heute. Sie hätten ausgesehen wie die Silhouette König Ludwigs. Wenn Herr Scheck so etwas hört, lugt er noch griesgrämiger durch seine altmodische Brille. Er und sein Schloss unterstehen dem bayerischen Finanzministerium.

Neureiche Russen wollen sich Privatführungen erschleichen

Mit der Leidenschaftsferne eines Bürokraten berichtet er von japanischen Reiseleitern, die ihre Gruppen wie Brigadegeneräle führen, von Chinesen, die alles begrapschen, und von neureichen Russen, die gegen Bestechung Privatführungen erschleichen wollen. Und er erzählt von 1990. „Da hat’s uns ’graut“, sagt der Münchner. Im Jahr der Wiedervereinigung zahlten DDR-Bürger keinen Eintritt. Das half, den Jahresrekord an Besuchern auf knapp anderthalb Millionen zu schrauben. Fast 100 Menschen zwängten sich seinerzeit in Räume, die weniger als die Hälfte fassen können.

Den Führungsalltag durchzuplanen wie ein Finanzbeamter sei deswegen schon aus Sicherheitsgründen geboten, sagt Klaus Peter Scheck. Der Ticket-Service unten im Dorf teilt die Touristengruppen ein und meldet sie per Computer im Schloss an. Im Sommer beginnen die Führungen oft bis zu vier Stunden nach dem Kauf der Eintrittskarte, die an einen festen Termin gebunden ist. Wer mehr als 15 Minuten zu spät kommt, muss auf den nächsten freien Platz warten. Das kann bis zum Abend dauern. Gnade findet niemand. Auch nicht jene Reisegruppenhäuptlinge aus Japan, die mit einer Stoppuhr anrücken. Immer wieder sähe man sie dann wie Kinder in Tränen ausbrechen, erzählt einer der 20 angestellten Führer.

Nachdem man eine von drei digitalen Menschensortiermaschinen im Schlosshof hinter sich gelassen hat, beginnt der Rundgang. Es ist ein gespenstischer Marsch. Als wären Stumme aus aller Herren Länder unterwegs, hört man nur das Geraschel von Kleidung und das Wispern der elektronischen Führer. Köpfe rucken synchron wie bei einer Tennisübertragung zu schweren Eichenmöbeln und bemalten Gobelinstoffen, zu monströsen Lüstern und bombastischen Kassettendecken. Der Tross bestaunt Ludwigs Himmelbett, das in seiner gotischen Manieriertheit aussieht wie ein ondulierter Beichtstuhl, trippelt durch das winzige Wohnzimmer, den goldenen Thronsaal, die Tropfsteinhöhle aus Pappmaché. Sie ist dem Tannhäuser entlehnt und wird zuckerstangenbunt beleuchtet. Alle Wände bevölkern fantastische Kreaturen aus deutschen Sagen und Wagner-Opern. Tristan reicht Isolde den Liebestrank, Lohengrin entsteigt seinem Schwanenboot, Parzival grübelt auf der Gralsburg. Es ist wie in einer Geisterbahn. Benommen von so viel Radikalromantik, mag man kaum glauben, dass der König für die Technik des heraufziehenden Industriezeitalters schwärmte. Neben seinem Schreibtisch steht ein mannshoher Fernsprecher. Und wenn Ludwig nach einem Boten läutete, um ihm einen seiner 258 schwülstigen Briefe an Richard Wagner zu überreichen, bediente er eine elektrische Klingel von Siemens.

Die Führung dauert nur 25 Minuten. Denn viel gibt es nicht zu sehen. Das Schloss ist unvollendet. Gerade einmal 175 Tage verbrachte Ludwig auf seiner Ritterburg, dann war er pleite. Seine jährlich mit vier Millionen Mark aufgefüllte Privatschatulle hielt seiner Bauwut nicht stand. Am Schluss waren seine Kredite beim bayerischen Staat auf 14 Millionen Mark angewachsen. Bei dessen Haushalt von damals 235 Millionen Mark dürfte diese Summe allerdings leicht zu tilgen gewesen sein. Nicht nur königstreue Verschwörungstheoretiker glauben darum, dass es weniger die Geldnot war, die das Kabinett zum Eingreifen veranlasste, sondern eher der Einfluss Richard Wagners und seiner umstürzlerischen Ideen auf den König. Immerhin befürwortete Ludwig die Abschaffung der Armee und ein frei gewähltes Parlament. 1886 erklärte ihn seine Hofkamarilla für „seelengestört“. Er wurde entmündigt und am 12. Juni nach Schloss Berg am Starnberger See gebracht. Einen Tag später starb er seinen geheimnisumwitterten Wassertod.

Herr Köpf sieht Seiner Majestät verblüffend ähnlich

„Bewahren Sie diese Räume als Heiligtum, lassen Sie sie nicht profanieren von Neugierigen, denn ich habe darin die bittersten Stunden meines Lebens durchlebt“, soll Ludwig bei seiner Verhaftung auf Neuschwanstein einem seiner Kammerdiener zugeflüstert haben. Vergeblich. Sechs Wochen nach seinem Tod öffneten die Wittelsbacher die Tore für Besucher. Der Wahnsinn ihres missratenen Sprosses sollte augenfällig werden. Doch das Volk war begeistert von der verstiegenen Architektur, deren Anziehungskraft Walt Disney Jahrzehnte später wie kein anderer begriff und sich zunutze machte. Seitdem zahlt Ludwig seine Schulden posthum mit Zins und Zinseszins zurück. Milliarden und Abermilliarden sind bis heute mit dem mad king verdient worden. Im vergangenen Juli begrüßte der bayerische Finanzminister auf Neuschwanstein den fünfzigmillionsten Besucher seit der Öffnung am 1. August 1886.

„Ich hab dem Ludwig so viel zu verdanken“, sagt auch Herbert Köpf. Wer ihn sieht, weiß, was er damit meint: sein Gesicht. Oder das, was es ihm erlaubt. Man findet Herrn Köpf in einem nach Sauerkraut und Mörtel riechenden Sozialbau in Füssen.

An einer von Ludwigbildern gerahmten Tür im zweiten Stock klingelt man – und es öffnet Seine Majestät, der König. Die Ähnlichkeit ist verblüffend. Der Kinnbart, die feierlich-traurigen Augen, die erhaben über der Stirn schwingende Haartolle: Der Mann wirkt wie aus einer Postkarte gestanzt. Und von Kopf bis Fuß sympathisch. Nicht wie Helmut Berger und sein irres Engelsgesicht in Viscontis Ludwig-Drama. Trotzdem nimmt man beinahe Haltung an, wenn man vor ihm steht. Seit Jahren gibt der Arbeitslose den Kini. In einer bayerischen Generalsuniform mit Hermelinmantel erscheint er bei Supermarkteröffnungen, Geburtstagsfeiern oder Treffen eines der insgesamt 65 Vereine der Königstreuen. Ehrenamtlich. Für die Auftritte Geld zu verlangen wäre ja fast Majestätsbeleidigung, meint Köpf. Dabei hätte ihn das Angebot eines japanischen Freizeitparks reich machen können. „Doch ich hab’s ausgeschlagen“, sagt der Doppelgänger und wischt sich ein schüchternes Lächeln von den Lippen. Es reut ihn nicht. Nur dass seine Einsätze selten geworden sind, tut ihm leid.

Schuld daran trägt die Konkurrenz. Die residiert in einem Festspielhaus am Westufer des Forggensees. Der Bau ähnelt nicht zufällig dem Wagnerschen Weihetempel auf dem Grünen Hügel von Bayreuth und hatte vor sechs Jahren mehr als 20 Millionen Euro gekostet. Hier findet seit einem Jahr die zweite Auflage eines König-Ludwig-Musicals statt. Das erste Spektakel um den Bühnen-Ludwig hatte sich wie sein Held Schulden in Millionenhöhe gemacht und musste die Zahl seiner Mitarbeiter auf rund 150 halbieren.

Die Stadt Füssen gehört zu den Betreibern des Musicals und setzt die Schauspieler in voller Montur auch für verkaufsfördernde Aktionen ein. Um mitzuhalten, hat sich Herbert Köpf verstärkt. Auf Wunsch erscheint er jetzt mit Sisi. Eine Bekannte hat sich im Internet ein weißes Kleid mit dem Original-Taillenumfang der magersüchtigen Kaiserin besorgt. „46 Zentimeter – das macht ihr so schnell keine nach“, sagt Köpf stolz. Sisi alias Petra Wurzinger blickt errötend zu Boden und erzählt von ihrem ersten Einsatz am vergangenen Neujahrstag. Da fuhr sie mit König Köpf im Auftrag der Wasserwacht in einem zum Schwan umgebauten Tretboot über den Lech. Der Schützenverein feuerte Böller ab, und die Menge jubelte. „Da war ich der Sisi ganz nah“, sagt Petra Wurzinger.

Ob Herbert Köpf im Fernen Osten glücklich geworden wäre? Wer die japanische Kundschaft der Galeria Lisl beim Shopping beobachtet, zweifelt daran. Die würdigt die König-Ludwig-Devotionalien im größten Souvenirtempel Hohenschwangaus kaum eines Blickes. Umso verzückter prüft sie teure Uhren, hochkarätigen Schmuck und edle Handtaschen. Die Luxusartikel werden hier ohne die hohen japanischen Importzölle feilgeboten. „Gestern waren sie in unserer Filiale in Rothenburg. Dort gibt es die gleichen Sachen“, sagt Naoko. Die zierliche Frau ist die einzige von sechs Verkäuferinnen aus Japan, die hier deutsch spricht. Man hake eben die Stationen ab, fügt sie schulterzuckend hinzu.

Scheinwerfer weben dem Schloss eine Robe aus silbernem Licht

Gegen sieben Uhr am Abend ist der letzte Bus mit ihren Landsleuten in Richtung München verschwunden. Jetzt fährt auch Naoko nach Hause. Es ist die Zeit, in der es plötzlich sonderbar still wird in Hohenschwangau. Der Mond schiebt sich wie eine gigantische Hostie über den Tegelberg, und die Scheinwerfer unter dem Schloss weben Neuschwanstein eine Robe aus silbernem Licht. In diesen Augenblicken kehrt es wieder zurück in seine ureigene Sphäre des Verwunschenen. Auf ihrer Heimfahrt verfolgt das Schloss Naoko noch lange. Wie ein Gemälde von Caspar David Friedrich füllt es ihren Rückspiegel aus. Naoko muss immer wieder hineinsehen. Im Autoradio bringen sie einen Song von Madonna. Es ist die falsche Musik.