20 Feb Ihr Glücklichen!
DIE ZEIT, Nr. 33/2005
Ihr Glücklichen!
Jeden Sommer rufen osteuropäische Raver die freie Republik Kazantip aus. Vier Wochen lang herrschen auf der Krim dreihundert DJs. Schlappmachen hat der Präsident verboten
Das Glück, sagen Pragmatiker, beruhe einzig auf dem Entschluss, glücklich zu sein. Wenn sie Recht haben, kann nichts mehr schief gehen. Nicht für Nastja und Jurij. Ihr Aufzug ist eine Manifestation wilder Glücksentschlossenheit. Jurij kombiniert geblümte Bermudas mit eingeölten Bauchmuskeln und einem Wikingerhelm. Und Nastja sieht aus, als wäre sie einem pornografischen Comic entsprungen. Ihren fast nackten Körper umspielt ein Mantel aus roter Gaze, über ihrem Dekolleté blinkt ein faustgroßes Plastikherz, ihre Beine stöckeln auf halsbrecherischen Absätzen. Jurij und Nastja folgen dem Lockruf einer geheimnisvoll durch die Nacht wummernden Musik. Je näher sie ihr kommen, umso mehr Paradiesvögel sind unterwegs. Brigaden der Ekstase im Anmarsch auf ein Gebiet, das eine Krone aus grünen Laserstrahlen trägt. Wie ein ukrainisches Las Vegas gleißt es in der Steppenlandschaft im Nordwesten der Krim. Doch was sich dort auftut, ist mehr als irgendein Rummel. Es ist der hedonistischste Staat der Welt: die freie Republik Kazantip.
Das Territorium von Kazantip liegt an einem der schönsten Strände der Halbinsel. Elf Monate im Jahr ist es verwaist, doch zwischen Mitte Juli und Mitte August wird es zum Schauplatz der größten Techno-Party östlich von Berlin. Das Arkadien aller Freunde elektronischer Musik in Osteuropa hat sich die „Demonstration des Glücks“ auf seine orangerote Fahne geschrieben. Und damit sich das Hochgefühl auch sicher einstellt, überlassen die Festivalmacher nichts dem Zufall. Sie nennen ihr abgezirkeltes Partyareal eine Republik, sie haben eine Verfassung, einen Präsidenten und sechs verschiedene Minister; selbstverständlich gibt es auch einen für das Glück.
Jedes Jahr fliehen mehr Techno-Fans aus den rauchigen Clubs von Moskau und St. Petersburg, von Kiew und Charkow ans Schwarze Meer. Sie verabschieden sich vier Wochen lang vom falschen Leben und suchen in einem sechs Fußballfelder großen Fantasieland das richtige. Rund 300 DJs spielen hier Techno und House, Goa und Drum ’n’ Bass. Jeden Tag, rund um die Uhr. Mit ihren Rhythmen hämmern sie die Botschaft von Kazantip in die Synapsen ihrer Bürger: Spaß, Spaß, Spaß. Woodstock des Ostens nennen es die einen, Ibiza der Ukraine die anderen. Mehr als die Hälfte der im Ganzen knapp 50000 Besucher kommt aus Russland, ein Drittel aus der Ukraine, der Rest aus den baltischen Ländern. Aus Westeuropa reisen gerade ein paar Dutzend an.
Das könnte sich mit Sergej Litwinowskij ändern. Der 23-jährige Partypolitiker amtiert als Außenminister von Kazantip und sieht ein wenig so aus, als hätte sich Boris Jelzin als Che Guevara verkleidet. Der Wahlhamburger will mehr Techno-Freunde aus dem Westen anlocken. Für die Begrüßung von Neubürgern aus Deutschland und Österreich hat er darum in diesem Jahr eine Militärblaskapelle organisiert. Einen Tag vor der Eröffnung des Festivals tuteten am Flughafen von Simferopol Männer mit radkappengroßen Tellermützen den angestaubten Gaudi-Hit Mambo Nr. Five. Und ein Transparent jubelte in orangeroten Lettern: „Hurra, ihr Glücklichen!“ Es folgte eine Ansprache ohne diplomatischen Eiertanz. „Eure Ankunft ist eine Attacke gegen unsere Gegner, die uns verbieten wollen, glücklich zu sein“, eröffnete Sergej den Ankömmlingen und schloss mit der verheißungsvollen Warnung: „Ihr werdet euch verändern!“
Ein eiserner Vorhang schützt Kazantip vor der unvollkommenen Außenwelt
Doch die Verwandlung hat ihren Preis. Das Paradies auf Erden ist umgeben von einem rostigen Bauzaun mit spitzen Zacken. „Ein Eiserner Vorhang beschützt Kazantip vor der unvollkommenen Außenwelt. Hinter ihm lebt das Volk von Kazantip glücklich und ohne Probleme“, heißt es in der Verfassung. Die KPdSU hätte es nicht schöner formulieren können. Wer den Schutzwall überwinden will, braucht Geld: 40 Euro kostet das Dauervisum. Nastja und Jurij aus Dnepropetrowsk können sich das nicht leisten. Die Lösung ihres Problems ist ein altmodischer bananengelber Koffer mit Metallbeschlägen. Wer so ein Modell permanent bei sich trägt, ist visumbefreit und kann die Grenze umsonst passieren.
Der Weg ins Glück führt durch einen gewaltigen Torbogen. Er wirkt wie eine Schleusenkammer zwischen völlig verschiedenen Welten. Vor dem Eingang des hermetisch abgeschotteten Partygeländes liegen die staubigen Nester Popowka und Mirnyj. In den Dörfern reihen sich Nippesstände entlang unasphaltierter Straßen, und bescheidene Ferienhäuschen säumen den Strand. Vom Körperkult der Techno-Jünger ist hier nichts zu spüren. Männer tragen ihre Bäuche spazieren wie kostbare Wämser, und Frauen planschen mit ihren Kindern in den Wellen. Abends kehren sie zurück in roststreifige Plattenbausiedlungen oder singen melancholische Lieder auf den Terrassen der Strandbars. Für die Einwohner ist der Tourismus die einzige Einnahmequelle. Und wenn im Sommer die Raver einfallen, werden sogar Garagen und Vorgärten als Schlafplätze vermietet.
Aber zum Schlafen kommt ohnehin niemand in Kazantip. Man kommt wegen der rastlosen Welt, die sich jenseits des gut 20 Meter hohen Torbogens auftut. Wer die Grenzkontrollen hinter sich gelassen hat, steht auf einer monumentalen Freitreppe und blickt auf eine Stadt in einem futuristisch-megalomanen Schrebergartendesign. So muss es sein, wenn ein Aztekenkaiser auf einer Pyramide die Parade außerirdischer Freunde abnimmt: Ströme bizarr kostümierter Gestalten fluten unentwegt über eine künstliche Palmenallee. In der Mitte des Areals ragen die Felsen eines Stonehenge-Tempels in die Luft. Neun locker verteilte Dancefloors zucken in ihren bonbonbunten Lichtgewittern wie gestrandete Raumschiffe. Und überall johlt es aus Bretterbars und bastgedeckten Restaurants.
„Wir sind wie spielende Kinder“, säuselt Sergej, der Außenminister
Immer wieder sieht man in der Menge gelbe Koffer blinken. Warum ausgerechnet sie als „Sesam, öffne dich“ dienen, weiß so gut wie niemand. Aber Kolja. Kolja ist der TV-Minister von Kazantip und produziert Imagefilme für den Techno-Staat. Man könnte sie auch Propagandamaterial nennen. Und er ist cineastisch bewandert. Darum weiß Kolja, dass der Brauch auf einen russischen Kinderfilm aus den sechziger Jahren zurückgeht, in dem ein Herr traurigen Menschen Pillen aus einem gelben Behälter verabreicht und sie so glücklich macht. Es wird behauptet, dass der ukrainische Staatspräsident Wiktor Juschtschenko im Jahr 2002 Kazantip mit einem gelben Koffer besucht und sich dort die Seele aus dem Leib getanzt habe. Das Regime des Glückslands ist sich sicher: Ohne Juschtschenkos Erweckung in Kazantip hätte es die orange Revolution von Kiew im letzten Winter nie gegeben.
Die Idee der gelben Koffer entstand wie alles andere im Jahr 1992, als der Moskauer Selfmademan Nikita Marschunok entdeckte, dass die Partys am Rande eines von ihm veranstalteten Windsurfingwettbewerbs viel besser ankamen als der Sport selbst. Also gründete Nikita das zügellose Kazantip, erklärte sich selbst zum Präsidenten, ernannte Minister und erteilte allen Partygästen das Bürgerrecht. Schlappmachen ist im Spaßstaat gesetzeswidrig. „Menschliche Schwächen wie Schlaf, Müdigkeit und schlechte Laune sind verboten“, schrieb er in die Verfassung.
„Nikita hat verwirklicht, was der Kommunismus nie geschafft hat: Gleichheit, Freiheit, Glück“, sagt einer der Besucher und holt eine Flasche Wodka aus seinem gelben Koffer. Er hat sie auf das Gelände geschmuggelt. Hier könne er sich bestenfalls Bier leisten, sagt der prächtig tätowierte Student aus Smolensk und mischt den Schnaps mit einer Büchse Energy-Drink. Die Händler der Budenstadt vor den Republikgrenzen unterbieten die Barpreise von Kazantip um ein Vielfaches. Darum achtet ein Heer schwarz gewandeter Sicherheitsleute darauf, dass das Importverbot von Getränken nach Kazantip nicht umgangen wird. Wie man hört, ist mit den Türstehern aus Moskau nicht zu spaßen. Störenfriede müssten damit rechnen, dass man ihnen nach russischer Sitte ohne großes Aufheben die Knochen bricht. Um solche Übergriffe zu vermeiden, hat Nikita in seinem Reich Videokameras installieren lassen. Sie sollen nicht die Bürger, sondern die schwarzen Sheriffs zur Räson bringen.
Eine weise Entscheidung sei dies, findet Außenminister Sergej Litwinowskij. Sie habe zur inneren Sicherheit der Republik beigetragen. Er spricht davon, dass man sich in Kazantip spielerisch die Prinzipien der Demokratie aneigne. Die stecke ja in der Ukraine noch in ihren Anfängen. „Wir sind wie spielende Kinder“, säuselt Sergej. „Spielen sie nicht, lernen sie nicht.“
Was die demokratischen Spielregeln betrifft, scheint ausgerechnet der Präsident noch viel lernen zu müssen. Der wählt sich jährlich selbst und gibt bei Audienzen die Diva. Wer ihn sprechen will, muss bei Sergej erst ein Konzept einreichen. Dumme Fragen höre Nikita Marschunok nämlich gar nicht gern, sagt der Mann mit dem Revoluzzerkäppi. Und welchen Inhalts dumme Fragen sind, wird schnell klar: Gelddinge. Darum gibt es auch keinen Finanzminister. Dessen Aufgaben übernimmt der Republikgründer lieber selbst. Einstellige Millionenbeträge dürften seine Umsätze aber mühelos erreichen. Schließlich finanzieren sich alle „Oligarchen“ – so heißen in Kazantip die Betreiber der Bars, Restaurants und Tanzpavillons – allein durch den Verkauf von Speisen und Getränken und entrichten an das Staatsoberhaupt eine Gebühr von jeweils mehr als 4000 Euro. Von den saftigen Visaeinnahmen bekommen sie genauso wenig ab wie von dem Geld der zwei Sponsoren Coca-Cola und Philip Morris. Allerdings sei er Globalisierungsgegner, lacht Nikita. Er plane, seine Forderungen so lange zu erhöhen, bis die Konzerne pleite seien. Bei dem Scherz lässt der 42-jährige Präsident sein blütenweißes Reklamegebiss aufblitzen, und seine taubenblauen Augen leuchten wie Murmeln.
Aber wen interessieren Geld und Politik, wenn es gilt, das Glück bei den Hörnern zu packen? Es geht um Ekstase. Für die sorgt die Musik. Es ist kein Zufall, dass die Glücksministerin Lena Popowa ist. Das blonde Energiebündel aus St. Petersburg gehört zu den Stars der russischen DJ-Szene. Wie alle ihre Kollegen legt sie in Kazantip für freie Kost und Logis auf. Im regenbogenfarbenen Outfit steht sie am Mischpult auf der Kanzel des größten Dancefloors, einer Kreuzung aus Bolschojtheater und Kolosseum. Emsig bearbeitet sie Dutzende von Reglern, ihr Körper pulsiert im Rhythmus. Der hämmert so laut, dass man meint, Lena trommle einem den Takt mit ihren Fäusten auf den Brustkorb. „Die bass drum“, sagt sie später, „es ist die bass drum. Ihr Klang ist wie der Herzschlag der Mutter. Bum, bum, bum. Sie schenkt dir Sicherheit und Geborgenheit. Die bass drum macht dich glücklich.“ Lena ist eine postmoderne Schamanin, ihr Medium der Techno. Er ist der Sound jener Jugendszene, die nichts mehr erhofft. Die Beatniks, die Hippies, die Punks – ihr Spaß war immer ein Vorgeschmack auf die Zukunft. Techno aber verzichtet auf jeden Rechtfertigungsweihrauch. Alles, was Techno will, ist die Ekstase des Augenblicks.
Irgendwo tanzt Nastja. Sie bewegt sich, als hätte sie jemand auf wunderliche Weise zwischen Himmel und Erde aufgehängt. Ihr Blick: als seien alle Dinge, die sie sieht, freudige Überraschungen. Ihr Lächeln: ein Geschenk an jeden, den es trifft. Hat sie doch Pillen aus ihrem gelben Koffer genascht?
„Ach was“, sagt Nastja tags darauf am Strand. „Tanzen ist purer Sex.“ Nur dauere der in Kazantip nicht 20 Minuten, sondern einen ganzen Monat. Während sie spricht, wiegt sie ihre Hüften im Honiglicht der Abendsonne. Es ist die Zeit, in der die Musik noch friedlich klingt und man sich an einer der Strandbars den ersten Drink gönnt. Die Bastdächer knistern im Wind, grün-weiß rollen die Gischtkämme des Schwarzen Meers. Nach und nach erheben sich Mädchen, wie von Fäden gezogen, aus dem Pulk der Liegenden und beginnen zu tanzen. Überall im Sand verteilt, sieht man plötzlich bildhübsche Statuen aus Fleisch und Blut, die durch die Musik zum Leben erwachen und sich an ihren Kopulationstänzen berauschen.
„Früher ist es nicht bei solchen Tänzen geblieben“, mault Wiktor hinter dem Brettertresen der Goa Bar. Mit einer Flasche von Kazantips Kultgetränk Sambuca zeigt der Barkeeper auf das Kamasutra Center nebenan. Dort kann man zwei mal zwei Meter große Liebesnester stundenweise mieten. Die ukrainischen Behörden hatten auf sie bestanden, damit es die Partymenschen nicht mehr öffentlich miteinander treiben. Doch durch die Stoffwände dringt nur noch selten ein Stöhnen. „Hast du die Autos vor dem Gelände gesehen?“, fragt Wiktor. Es seien die neureichen Immigranten, mit denen Kazantip zimperlich werde. „Mögen unsere Wünsche in Erfüllung gehen, denn wir wünschen uns nichts Böses“ ist das zaghafte Motto von Kazantip 2005. Das sage doch alles, schimpft Wiktor. Noch im vorletzten Jahr habe Nikita Marschunok das „Leben ohne Schlüpfer“ ausgerufen. Und die Mädchen seien dem Leitspruch gefolgt. Ganz zu schweigen von den Zeiten, als splitternackte Raverinnen noch visumfrei feiern durften.
Doch es besteht Hoffnung auf neues unverhülltes Glück. In zwei Jahren will Nikita einen Bruderstaat in Vietnam gründen. Nicht nur Wiktor ist zuversichtlich, dass dann die Slips wieder fallen werden. „Mal ehrlich“, sagt er, streut ein paar Kaffeebohnen in den Anisschnaps und sieht seinem Präsidenten hinterher, der gerade mit einer Schönen über den Strand stolziert. „Es sind doch am Ende immer nur zwei Dinge, die Männer glücklich machen. Geld ist das andere.“