Eine Brise Salz
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Eine Brise Salz

DIE ZEIT, Nr. 13/2005

Eine Brise Salz

 

Der Salar de Uyuni im Südwesten Boliviens versetzt selbst nüchterne Menschen in Taumel. Am größten Salzsee der Erde manipulieren Schamanen den Ausgang eines Fußballspiels, und Autoschmuggler bitten um geistlichen Beistand

Der Ball war tückisch, aber zu halten. Trotz der Windböe, die plötzlich der Flanke einen Drall verlieh und das Leder jäh auf den Kopf des Stürmers lenkte. Der Torwart ahnte zwar die Ecke, doch mehr als den aufgewirbelten Staub des Aufsetzers bekam er nicht zu fassen. Das Spiel war gelaufen, der Traum von der Titelverteidigung geplatzt. Das 1:3 in der Nachspielzeit konnten die Bayern nicht mehr aufholen. Doch die Mannschaft ist sich bis heute einig: Nicht der launische Wind oder die tief stehende Sonne war schuld an der Niederlage, nicht der holperige Boden oder das fortgeschrittene Alter des Schlussmanns. Es lag am Zauber des Gegners. Denn in dessen Entourage hielt man einen Hahn in Fesseln, den man vor dem Match auf den Namen des Torhüters getauft hatte. Dass die Nummer eins der Bayern bei jedem Gegentreffer eine seltsam unbewegliche Figur machte, konnte darum niemanden verwundern.

Dabei hatte der Schamane des Fußballclubs Bayern Munich aus dem bolivianischen Hochlanddorf Llica alles getan, um die eigenen Stärken zu mobilisieren und die Elf des Finalgegners Los Andes zu schwächen. In der Nacht vor dem Spiel rief Mero Mero den Tio del Sabajo, den Geist einer alten spanischen Kupfermine. Um ihn gewogen zu stimmen, verbrannte der Aymara-Indianer das Fett von Lamas und schwarzen Hühnern, ließ Kräuter und Teile von Eidechsen in Flammen aufgehen, kaute Koka, spuckte und trank Singani, einen hochprozentigen Tresterschnaps. Und noch in derselben Nacht brachen Mero Mero und die Mannschaft stocktrunken auf, um auf Geheiß des Tio an den Eckfahnen des Stadions Kokablätter zu vergraben. Der Einzige, der fehlte, war der Torwart. „Aus religiösen Gründen“, entschuldigt der sich heute und deutet auf ein Kruzifix an der Wand des Vereinsheims. Vis-à-vis steht ein Regal mit Pokalen, darüber grüßt der Papst von einem Foto.

Dietmar Krämer lächelt. Auf 4000 Meter Höhe dürfe man es mit dem Katechismus nicht so genau nehmen, kommentiert er das Treiben seines Teams und hebt beschwichtigend beide Hände. Der hoch gewachsene Mann mit den grau melierten Haaren ist nicht nur der Torhüter, Trainer, Präsident und Gründer des Provinzclubs mit dem berühmten Namen. Seit vielen Jahren ist der fußballverrückte Deutsche auch der Gemeindepfarrer des staubigen 1000-Einwohner-Kaffs Llica in der südwestbolivianischen Wildnis zwischen Chile und Argentinien.

Wer die Diözese von Padre Dietmar besucht, hat keinen Zweifel, dass er sich am Ende der Welt befindet. Eine magische Aura liegt über der Gegend, die auch nüchterne Menschen in Taumel versetzt. Wie ein gigantisches Geheimnis changiert auf Höhen bis zu 5000 Meter eine Marslandschaft in allen erdenklichen Brauntönen. Schichtvulkane ragen in den dunkelblauen Himmel, Geysirfelder fauchen, Lavabrocken liegen wie verendete Urtiere in den endlosen Ebenen. Eine gestirnhafte, mineralisierte Überwelt tut sich auf, eine Antithese der belebten Natur, in der alles zur Metapher gerinnt und die vor Unwirklichkeit geradezu zu bersten scheint.

Man meint verstehen zu können, dass es magischer Rituale bedarf, um die erbarmungslose Erhabenheit dieser Umgebung zu bannen. Und als sei dies alles nicht genug, schwimmt in ihrer Mitte der größte Salzsee des Planeten auf den Resten eines einstigen Binnenmeers. Vor Jahrtausenden trocknete es aus und hinterließ auf seinem Boden den Salar de Uyuni, in dessen Abmessungen ein Drittel des belgischen Staatsgebietes Platz fände. Weißer als Schnee gleißt seine Kruste aus Kochsalz in der stechenden Sonne des Altiplano. Während der Regenperiode jedoch steht das Wasser bis zu kniehoch auf dem Salar. Es verwandelt dann die Salzpfanne in einen gewaltigen Spiegel, reflektiert den Himmel bis an die Horizonte und lässt die Welt in ihrer Indifferenz verschwinden.

Padre Dietmar hebt seine breiten Torwarthände

Gebettet zwischen das Nichts der Salzwüste und einen Zaubergarten aus Staub und Geröll, leistet sich das bitterarme Llica ein Wohlstandsproblem: Es fehlt an Parkplätzen. Tag für Tag verstellen Hunderte von Fahrzeugen ohne Nummernschilder die Wege. Es sind chutos, geschmuggelte Gebrauchtwagen aus Chile. Gesteuert von vermummten und bis an die Zähne bewaffneten Bankräubergestalten, jagen sie kolonnenweise über den See, um später in La Paz, Sucre oder Potosí verkauft zu werden.

Weil Llicas Polizeistation verwaist ist, fahren die Schmuggler das Dorf als Etappenziel an. Dort füllten sie manchmal zu Dutzenden die Kirche, um göttlichen Beistand zu erbitten, erzählt Padre Dietmar. Und tatsächlich haben die Chauffeure Schutzengel bitter nötig. Erst kürzlich sind bei einem Feuergefecht mit bolivianischen Militärtruppen wieder zwei von ihnen zu Tode gekommen. Dabei ging es nicht um die Autos, die meist für einen Geldbetrag die Kontrollen passieren dürfen. Es ging um deren Fracht: Viele Wagen haben Kokainpaste für chilenische Labors an Bord. Auch halb Llica sei in die Drogengeschäfte verstrickt, sagt Padre Dietmar und hebt wieder mit öffnender Geste seine breiten Torwarthände. Die Begeisterung für Bayern Munich indes lindere den kriminellen Eifer des Nachwuchses. Dass seine Spieler dem Tio mehr Vertrauen schenkten als den katholischen Heiligen, ließe sich so verschmerzen.

Auch Touristen sind, ohne es zu ahnen, am Drogenschmuggel beteiligt. Denn die Kampfpreise der vielen kleinen Reisebüros, die im Hauptort Uyuni am Eingang des Salar Exkursionen in die Region offerieren, seien ohne solche Kurierdienste nicht möglich, sagen Kenner der Szene. Mittlerweile konkurrieren in dem Flecken rund 40 Agenturen um eine stetig wachsende Touristenschar. Etwa 70.000 Besucher kommen jährlich in den steingrauen, von einem schrillen und eisigen Wind gepeinigten Ort, der sich in den vergangenen Jahren zu einem der typischen Basislager des globalen Rucksacktourismus entwickelt hat. Mit Internet-Cafés und Pizzerien, mit Nippesläden und Tourveranstaltern. In der Trockenzeit landet seit kurzem sogar zweimal wöchentlich eine uralte DC3 aus dem 600 Kilometer entfernten La Paz auf einem Steinacker vor den Toren Uyunis. Auch sie sorgt dafür, dass Jahr für Jahr mehr Menschen ihre kargen Felder aufgeben, um im Expeditionstourismus ihr Glück zu suchen.

Mit asthmatischem Wiehern erwacht Fulgencios Geländewagen zum Leben. Es ist fünf Uhr morgens am Ortsrand von Uyuni. Während sich der Motor des alten Toyota warm rasselt, brodelt am Himmel noch das Hexengebräu der Sterne. Fulgencios Zeigefinger tippt in der Luft herum. Zwei Israelis zählt er, drei holländische Studentinnen und einen Australier. Mit hochgezogenen Goretex-Schultern sitzen sie in den weißen Schwaden ihres Atems. Minus zehn Grad. In den nächsten Tagen werde es noch viel kälter werden, informiert Fulgencio seine Kundschaft, und der Satz klingt nicht ironisch. Er klingt wie eine Drohung. Kurz darauf knacken die sechseckigen Wabenmuster des Salar unter den Reifen, prasselt Salz gegen die Heckscheibe.

Wie ein Jockey, das Lenkrad knapp vor der Brust, steuert der Indianer seine bibbernde Fuhre in den Sonnenaufgang. Der Tagesbeginn auf dem Salar ist der furiose Auftakt eines Ausflugs in einen Rausch aus Licht und Farbe und grenzenlosen Weiten. Als würde ein Film auf eine kolossale Leinwand projiziert, entfacht das Morgengrauen eine saphirblau wabernde Glut im Schwarz der Nacht, tränkt dann den Horizont mit sakralem Lila, lässt ihn später himbeerrot schimmern und gießt zum Schluss ein majestätisches Apricot über den Himmel, das so kräftig leuchtet, als könne man es riechen. Bis zum ersten Sonnenstrahl sagt niemand der Passagiere ein Wort. Die psychedelische Schönheit der Dämmerung über dem Salar de Uyuni macht sprachlos.

In der Hochsaison zwischen Juli und September überqueren täglich rund 30 Touristenjeeps den Salar. Vier Tage dauert eine Tour, auf der in spartanischen Wetterstationen, aufgegebenen Militärbaracken und stillgelegten Bergwerken übernachtet wird. Heizungen gibt es nicht, für einen Eindruck von Wärme sorgen mit Viehdung befeuerte Öfen. Ein guter Schlafsack ist unentbehrlich. Männer wie Fulgencio sind in dieser Zeit Fahrer, Reiseführer und Koch in einem. Ihre Küche ist ein Genuss für Asketen: Kartoffeln, Linsen, ein bisschen Hühnerfleisch und eine Pampe aus Roter Bete – mehr findet Fulgencios Truppe tagelang nicht in ihren Blechnäpfen. Aber es gibt Wichtigeres als das Essen. Zum Beispiel ein Auto, das durchhält. Denn die Wagen sind fast alle in einem verheerenden Zustand. Das Salz zersetzt ihre Karosserien, frisst sich in die Motoren, zermürbt den Gummi der Reifen. In jeder Pause kriecht Fulgencio mit einem Schraubenschlüssel unter sein Gefährt. Er weiß genau, dass eine Panne auf dem Salar de Uyuni lebensgefährlich sein kann. Nach Sonnenuntergang fällt das Thermometer wie im Zeitraffer. Nachts sind minus 25 Grad keine Seltenheit.

Beim Aufstieg klirrt das zerbrochene Lavagestein wie Porzellanscherben

Im Zentrum des Salar ragt die Isla Incahuasi wie eine mächtige Ritterburg in die Höhe. Je weiter man sich der Insel nähert, desto besser erkennt man, dass ihre gezackte Silhouette nicht von Zinnen, sondern von unzähligen Kakteen herrührt. Viele von ihnen sind zwölf Meter hoch und mehr als tausend Jahre alt. Beim Gang auf die Spitze des Eilands klirrt zerbrochenes Lavagestein unter den Füßen, als laufe man über Porzellanscherben. Und wer schließlich vom Gipfel über das Heer der Stachelpflanzen auf den wie gefrorene Milch hingestreckten See und die düster drohenden Steinkolosse der Anden schaut, der versteht, warum immer mehr Menschen zum Salar de Uyuni kommen. Sie kommen, weil hier die Ordnungslinien der Welt zerfasern und metaphysische Kräfte zu walten scheinen. Sie kommen, weil ihre Köpfe sich hier leeren und gleichzeitig mit bizarren Bildern füllen und weil das Faszinosum des Salar de Uyuni sie in einen Rausch versetzt wie eine Droge.

Alle Tourjeeps statten der Isla Incahuasi einen Besuch ab, bevor sie den See in Richtung Chile verlassen und sich, winzigen Käfern gleich, in einem Ozean aus Ocker, Dunkelbraun und Rostrot verlieren. Stunde um Stunde geht dann die Fahrt durch eine zerklüftete Science-Fiction-Landschaft, bis plötzlich farbig funkelnde Lagunen auftauchen, als hätten Riesinnen ihre Colliers auf zerknitterten Kamelhaardecken ausgebreitet. Die schönste von ihnen ist die 50 Quadratkilometer große Laguna Colorada, die Rote Lagune. Eingefasst von Bordüren aus schneeweißem Gips, leuchtet sie je nach Sonnenstand von einem zarten Babyrosa bis zu tiefem Blutrot. Algen kolorieren ihr Wasser und locken zuweilen Flamingos an, die dann zu Hunderten in den Fluten umherstaksen und nach Plankton fischen. Umgeben von Vulkanen und überwölbt von einer königsblauen Himmelskuppel, ist ihr Anblick von einer überwältigenden Schönheit. Und er ist so surreal, dass man beinahe an seinem Verstand zu zweifeln beginnt.

Hin und wieder ziehen schlammfarbene Dörfer am Autofenster vorbei. Sie sind so unauffällig, als wären sie von selbst aus der Erde gewachsen. In manchen von ihnen sieht man Schilder, die mit rührender Verzweiflung um die Gunst der Touristen buhlen. Dabei gibt es in keiner der Hütten auch nur eine Flasche Limonade zu kaufen. Fulgencio nimmt nicht den Fuß vom Gas, wenn er mit einer Schleppe aus Staub durch die Siedlungen braust. Und so ergötzen sich seine Kunden an einem geologischen Spektakel, als führen sie durch ein Landschaftsgemälde von Salvador Dalí; von der Härte der ihm innewohnenden Existenzen jedoch erfahren sie nichts. Nichts von der Plackerei des Quinoa-Anbaus, des einzigen Getreides, das in Höhen über 4000 Metern gedeiht, nichts von den früh vergreisenden Bergarbeitern, die die Kraft ihres Lebens im gelben Dampf der Schwefelminen verlieren, nichts von der Schufterei der Salzhacker, deren Augen inmitten der aggressiven Lichtflut des Salar de Uyuni zerstört werden.

Irineo Calizaya ist einer von ihnen. Einer jener Männer, die dem Salar de Uyuni mit Eispickeln jährlich insgesamt 25.000 Tonnen Salz entreißen. Irineo nennt es das „Gold der Armen“. Besonders kostbar sei es nicht, doch dafür unerschöpflich, sagt er und blinzelt durch die gesprungenen Gläser seiner fingerdicken Hornbrille. Experten schätzen, dass die sieben Meter dicke Schicht des Salar rund zehn Milliarden Tonnen Salz enthält. Gemahlen und gereinigt, landet die Ausbeute auf Esstischen in ganz Südamerika. Dass der Sonnenglast über dem Salar auf dem besten Weg ist, ihn erblinden zu lassen, will Irineo nicht wahrhaben. Trotz der vielen Kollegen, die den billigen Sonnenbrillen der fliegenden Händler vertrauen und ihre Hand nicht mehr vor Augen sehen können. Vielmehr ist Irineo stolz darauf, mit seinen umgerechnet 100 Euro im Monat mehr zu verdienen als die Ärmsten des Landes. Dafür übernachtet der Mann mit dem Ledergesicht in einem Iglu aus Salzblöcken auf dem See und fährt nur am Wochenende in sein Heimatdorf Colchani, wo man schon seit dem frühen 17. Jahrhundert vom Salz lebt. Dabei könnte alles längst ganz anders sein. Seit Jahren ist bekannt, dass im Salar de Uyuni drei Viertel des bisher bekannten Weltvorkommens des High-Tech-Stoffs Lithium lagern. Das benachbarte Chile fördert seine vergleichsweise geringen Vorkommen mit modernen Mitteln. Bolivianische Männer aber hacken Salz, bis das Licht ihrer Augen erlischt.

Morgen wird Irineo nicht zur Arbeit gehen. Aber nicht, weil morgen Samstag ist. Irineo wird morgen, anstatt zu arbeiten, nach Llica fahren, weil dort Los Andes spielt und weil sein Sohn wieder im Sturm stehen wird. Ganz so wie im letzten Jahr, als es auch gegen Bayern Munich ging und es ein Calizaya war, der das entscheidende Tor schoss. Er denke den ganzen Tag an nichts anderes, sagt Irineo versonnen und dreht wieder und wieder seine Hacke in der Hand.

Ob die vom eigenen Zeremonienmeister eingeräucherten Trikots wieder so viel Glück bringen werden wie im vergangenen Finale? Und was ist mit dem gefesselten Hahn? Mero Mero wird wohl ein Mittel gegen den Zauber gefunden haben, davon sei auszugehen. Aber immerhin habe der Schamane von Los Andes dieses Mal ein besonders aufwändiges Orakel versprochen. In den Lungen eines frisch geschlachteten Lamas will er die richtige Taktik lesen. Außerdem werde man reichlich den Ahnen opfern, sagt Irineo, und hinter seiner Brille blitzt Zuversicht auf. Mit ihrer Unterstützung werde sein Sohn schon ein Tor machen gegen diesen Pfarrer aus Deutschland. Und wenn es eine Windböe ist, die ihm dabei zur Hilfe kommen muss.