Sieh mal, die Front!
17295
post-template-default,single,single-post,postid-17295,single-format-standard,bridge-core-3.3.1,qode-page-transition-enabled,ajax_fade,page_not_loaded,,qode-title-hidden,qode_grid_1200,qode-smooth-scroll-enabled,qode-theme-ver-30.8.3,qode-theme-bridge,disabled_footer_bottom,wpb-js-composer js-comp-ver-8.0,vc_responsive

Sieh mal, die Front!

DIE ZEIT, Nr. 5/2003

Sieh mal, die Front!

 

Es ist die Fahrt durch einen Albtraum – durch den Westen von Belfast, wo Protestanten und Katholiken sich bekämpfen. Der Schauplatz lässt sich bequem besichtigen, vom Taxi aus, für 20 Euro

Er habe nichts gegen Protestanten, sagt Norman und stellt sein drittes Glas Guinness auf den Tresen seiner Stammkneipe. Sogar ein paar seiner Freunde seien protestantisch. Noch nicht einmal beim gemeinsamen Trinken gebe es Probleme. Nur das Singen, das sei eine gefährliche Sache. Und nahezu unvermeidlich. »Entweder fangen wir zu singen an oder die anderen. Manchmal wartet man nur darauf, dass jemand anfängt.« Und dann sei er plötzlich da. Grell und unerbittlich. Dann zucke er auf einmal durch die Schänke wie ein Blitz: der Hass.

Der Hass ist so alt wie der Kampf zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland. So alt wie die 400 Jahre währende Hegemonie der Engländer, ihre Apartheitspolitik und der gnadenlose Teufelskreis aus Repression, Rebellion und Rache. Die aktuelle Phase der unablässig hin- und herwogenden Fehde zwischen den katholischen, proirischen Republikanern und den protestantischen Loyalisten wütet seit 1968 in der britischen Provinz. Auch der vor fast fünf Jahren als »Karfreitagsabkommen« zusammengeschusterte Friede hat die troubles nicht zur Ruhe kommen lassen. Im Gegenteil. Wo früher Schwerter klirrten und Musketen krachten, belauern und bekriegen sich heute terroristische Gangs mit Plastiksprengstoff und halbautomatischen Pistolen. In den vergangenen 30 Jahren starben mehr als 3500 Menschen bei solchen troubles in Nordirland. Und nirgendwo hat sich der Konflikt tiefer in die sozialen Grundfesten eingeätzt als im Belfaster Nordwesten. Hier zerfranst die konfessionelle Topografie, stoßen die relativ homogenen Siedlungsgebiete im Osten und Westen der nordirischen Hauptstadt wie Kontinentalplatten aufeinander. Von Straße zu Straße wechseln die Parteien, aber jedes Ghetto ist definiert, wird leidenschaftlich verteidigt. Ein sicheres Rezept für ein endloses Katastrophenszenario, in dem schon winzige Funkenschläge der Provokation tief sitzende Aversionen entzünden.

Die Katastrophe lässt sich mittlerweile bequem besichtigen. Für rund 20 Euro chauffieren Taxifahrer wie Norman Touristen anderthalb Stunden lang durch die Viertel um die katholische Falls und die protestantische Shankill Road – Frontberichterstattung inbegriffen. Die beiden mit einem Abstand von 400 Metern parallel verlaufenden Magistralen bilden die Nahtstelle zwischen den verfeindeten Lagern West-Belfasts. Paramilitärische Verbände und der gärende Volkszorn stehen sich hier jeweils unmittelbar gegen-über. Jetzt werden die Trouble Tours sogar von der nordirischen Zentrale für Fremdenverkehr beworben. In einer ihrer Broschüren spricht sie von »eindrucksvollen Erlebnissen, die sich Belfast-Besucher nicht entgehen lassen sollten«. Die ersten Terrortouristen waren backpackers aus Amerika und Australien in den späten neunziger Jahren.

Niemand traut sich in den Garten, auch nicht bei schönem Wetter

Nieselregen stäubt aus einem schmutzigen Himmel auf die buckligen Taxis, die sich am Westrand der City zusammengerottet haben. Von ihrem Parkplatz zum viktorianischen Pomp der Innenstadt sind es nur wenige Gehminuten, doch im Schatten schmuddeliger Industriemauern und Wettbüros wirkt das Ödland wie aus einer anderen Welt. Die schwarzen Gefährte gehören zur IRA-nahen Falls Road Taxi Association. Sie wurde in den siebziger Jahren gegründet, als man so lange öffentliche Busse entführte und als Barrikaden für Straßenkämpfe benutzte, bis deren Verkehr schließlich eingestellt wurde. Seitdem sind die einst in London und Liverpool zusammengekauften Taxis die wichtigsten Verkehrsmittel für die katholischen Stadtteile West-Belfasts. Gelenkt werden sie nicht selten von haftentlassenen IRA-Terroristen, die für viele andere Jobs nicht mehr infrage kommen. Und im weiter nördlich gelegenen Gebiet um die Shankill Road kurven die protestantischen Pendants einer probritischen Organisation. Auch sie verlassen ihr konfessionelles Revier so gut wie nie. »Zu gefährlich«, sagt Norman, der früher auch für die Falls Road Taxi Association durch die Katholikenviertel kreuzte, bis er sich mit ein paar Freunden selbstständig machte. Heute bietet Norman organisierte Touren in beide Teile an. Sightseeing mit Touristen ist vor allem in den Sommermonaten einträglicher als der reguläre Betrieb.

Normans Tour startet gleich hinter dem Treffpunkt seiner ehemaligen Kollegen, wo ein Autobahnzubringer die City wie ein Machetenhieb durchtrennt. Aus dem Schnitt rinnt die Falls Road als Strom niedriger Backsteinhäuser in Richtung Westen. Kleine Läden, Coffeeshops und Fish-and-Chips-Buden geben der Straße auf den ersten Blick den gedrungenen Charme eines alltäglichen working-class-Boulevards. Dass sie dies nicht ist, zeigt ihre Funktion als Freiluftgalerie. Die meisten Giebelwände zieren Malereien in den irischen Farben Grün, Weiß und Goldorange. Sie sind Fanale wütenden Stolzes: Keltische Symbole und gälische Parolen füttern das republikanische Ego, Bibelszenen kräftigen die katholische Seele, und Schwadronen von überlebensgroßen Kerlen mit Sturmkappen und Schnellfeuergewehren im Anschlag signalisieren Kampfbereitschaft. Man sieht historische Motive wie die gespenstischen Gestalten des Great Famine, der großen Hungersnot, die Mitte des 19. Jahrhunderts innerhalb von fünf Jahren ein Achtel der irischen Bevölkerung unter den Augen ihrer Besatzer dahinraffte. Und immer wieder leuchtet das Bildnis von Bobby Sands in den Straßenzügen auf. Seine Locken und sein mattes Ikonenlächeln lassen den Anführer des Hungerstreiks von 1981, während dessen zehn IRA-Gefangene ihr Leben ließen, wie einen modernen Christus aussehen. So konservieren die murals, die Tragödien vieler Generationen im Kollektivbewusstsein, als seien sie alle erst gestern geschehen.

Gegenüber einem Madonnengraffito ragt der Divis Flats Tower in die Höhe. Ein bis an die Zähne bewaffnetes, von einem Hubschrauberlandeplatz gekröntes Monster, das aus zahllosen Augen in das Viertel starrt. Auf dem Dach des Wohnturms haben Polizeieinheiten der Royal Ulster Constabulary Stellung bezogen und observieren das Leben zu ihren Füßen mit Präzisionskameras. »Wenn du dich hier öfter aufhältst, wissen sie, wohin du gehst, woher du kommst und mit wem du dich triffst. Sie kennen deine Schuhgröße, deine Augenfarbe, und sie wissen, wann du rasiert bist und wann nicht«, sagt Norman und kurbelt das Autofenster herunter. Mit gestrecktem Arm hält er seine Zigarettenschachtel ins Freie. »Und jetzt sehen sie auch, welche Marke ich rauche.« Norman lächelt nicht, als er dies sagt. Er meint es ernst. Die Frage, ob auch Bekannte von ihm auf dem gerade links liegenden Milltown Cemetery liegen, ignoriert der hagere Mann mit den roten Haaren und der etwas zu großen Nase. Statt einer Antwort wuchtet er laut den nächsten Gang ins Getriebe. Der Friedhof an der Falls Road ist ein sensibles Thema. Auf ihm sind ehemalige IRA-Mitglieder begraben und werden dort wie Märtyrer verehrt. »Killed in action« steht auf ihren Grabsteinen, »assassinated« oder »no surrender«. Nur wenige wurden älter als 30 Jahre.

Der dürre Bursche aus dem Reihenhaus in der Bombay Street heißt Paul und ist Normans Cousin. Als er ihn auf der Terrasse seines Gartens begrüßt, erinnert er für einen kurzen Moment an einen zerzausten Kanarienvogel: Paul trägt einen dottergelben Trainingsanzug, und über seiner Parzelle wölbt sich ein Drahtgeflecht wie eine riesige Voliere. Ähnlich wie viele andere Bewohner der Bombay Street hat er die Konstruktion an der Dachrinne befestigt, um sich und seine Frau vor Steinen, Flaschen und Brandbomben zu schützen. Er erzählt, dass vor allem am Wochenende, wenn die Jugendlichen Langeweile haben, Wurfgeschosse durch die Luft schwirren. »Aber wir sitzen sowieso nie im Garten. Niemand sitzt auf dieser Straßenseite im Garten. Auch bei schönem Wetter nicht. Wer will schon ständig auf eine Mauer starren?« Die Mauer, die sich gleich hinter Pauls Garten erhebt, ist Belfasts berühmteste peaceline. Sechs Meter hoch, mehr als einen Kilometer lang und errichtet aus einer Million Ziegelsteinen. Sie trennt die Bombay Street in der katholischen Hochburg Clonard von den Protestanten der angrenzenden Shankill Road. Anderthalb Dutzend dieser »Friedenslinien« durchziehen Belfast. Ein Konglomerat permanenter Barrikaden, die den Ort zur meistgeteilten und am zornigsten eingemauerten Stadt Europas machen. Ein Hindernis für Molotowcocktails sind sie nicht.

Manchmal genügt laute Musik, um von der IRA abgemahnt zu werden

Dass Gewalt nicht nur von der Gegenseite droht, demonstriert der Oberkörper von Paul. Als einer von 30 Prozent Arbeitslosen in den katholischen Frontvierteln West-Belfasts dient er seinem Vetter als Schauobjekt für manche Exkursion. Routiniert schiebt er seinen Pullover nach oben. Zum Vorschein kommen die Narben eines punishment beating – einer Aktion, die mit Prügelstrafe nur unzureichend zu übersetzen ist. Er sei beschuldigt worden, mit Marihuana zu handeln, da habe eine IRA-Splittergruppe zugeschlagen – mit einem nagelgespickten Baseballschläger. Manchmal genüge es, die Musik zu laut aufzudrehen, um von der IRA abgemahnt zu werden, sagt Paul.

Solche Selbstjustiz ist Alltag in West-Belfast. Vor allem das kneecapping, die Verkrüppelung durch einen gezielten Schuss in die Kniescheibe, ist in katholischen wie protestantischen Vierteln, wo Terrorgruppen de facto die Hoheitsrechte besitzen, eine beliebte Methode, um für Ordnung in den eigenen Quartieren zu sorgen. Das Royal Victoria Hospital an der Falls Road genießt mittlerweile den unfreiwilligen Ruhm, weltweit eines der besten Zentren für Gelenkchirurgie zu sein. Manchmal, wenn die Maßnahmen vorher angekündigt werden, bestellen sich die Delinquenten eine Ambulanz an den Vollstreckungsort. Sie wartet dann mit laufendem Motor in einer Seitenstraße auf den Abtransport zur Klinik.

Die Fahrt auf die andere Seite führt durch einen steinernen Albtraum. Abgeriegelt von zwei Stahlpforten, die in den Abendstunden wie Burgtore geschlossen werden, erstreckt sich eine urbane Mondlandschaft entlang der peaceline im Dreieck von Springfield Road, Lanark und Cupar Way. Vor verkohlten Bretterhaufen wuchert Gestrüpp, spielt der Wind in Bergen von Unrat. Die Szenerie ist eine einzige Manifestation der Hoffnungslosigkeit. Norman behält seine Zigarette im Mund, will nicht weitersprechen, fingert ziellos an den Armaturen herum. Obwohl kein Passant zu sehen ist, verdichtet sich hier im Niemandsland zwischen den Blöcken das Gefühl, ein voyeuristischer Eindringling zu sein.

Hinter der Schleuse zur Shankill Road verwandelt sich die Tristesse abrupt in schrille Wut. Während manche katholischen murals bereits ein wenig verblassen – ein Zeichen für das wachsende Selbstbewusstsein der Republikaner und den Einfluss ihrer Partei Sinn Féin –, reiht sich in den loyalistischen Revieren ein blutrünstiges Gemälde ans andere. Politisch in der Defensive, präsentieren sie sich mit ihren frisch gepinselten, futuristisch-grausigen Signalen der Kampfeslust als regelrechte Militärcamps. Und wer die Symbole und Flaggen zu lesen versteht, der weiß, dass hier rivalisierende protestantische Gruppen wie die Ulster Defence Association oder die Ulster Volunteer Force mit tödlichem Ernst ihre territorialen Claims abstecken. Mittlerweile sind ihre Gefechte der Hauptgrund dafür, dass es in der Shankill Road kaum eine Kneipe gibt, deren Eingang nicht wie Pauls Garten vergittert wäre. Nur Bekannte haben Zutritt. Um hineinzugelangen, müssen sie wie Raubtiere einen schlauchartigen Käfig passieren. Und als ob dies nicht reichte, übertragen innen Monitore alle Bewegungen, die Kameras draußen aufzeichnen. »Wenn es hier voll wird, dann immer nur im hinteren Teil«, sagt der Barbesitzer und zeigt auf seine Gäste. Mit dem Rücken zur Wand sitzen ein paar Männer vor schaumlosem Bier auf Holzbänken und verfolgen ein Pferderennen im Fernsehen. »Dort in der Ecke fühlt man sich einfach sicherer.«

Die Angst vor den eigenen Terrorkommandos, die sich durch Rauschgifthandel und Schutzgelderpressung finanzieren, ist auch in den Protestantenvierteln groß, wo jeder Zweite arbeitslos ist und Tausende ehemaliger Häftlinge die Straßen bevölkern. An der Identität des wirklichen Feindes besteht dennoch nicht der leiseste Zweifel: Es sind die immer zahlreicher werdenden »Papisten«. Unter dem Eindruck, von ihnen überschwemmt zu werden, vertreiben die Protestanten ihren Erbfeind aus ehemals gemischten Stadtteilen oder ziehen selbst in »sichere« protestantische Gebiete. So gibt es in Europa keine Stadt mit einer vergleichbar hohen internen Wanderungsrate. Und wie der nordirische Geograf Peter Shirlow unlängst erklärt hat, ist die Segregation in Belfast seit dem Karfreitagsabkommen sogar stetig gewachsen. Hinzu kommt, dass die Friedensübereinkunft derzeit so wenig Zustimmung erfährt wie niemals zuvor. Hatten beim Referendum 1998 mehr als 70 Prozent der Nordiren für eine politische Lösung des Konflikts gestimmt, so tun dies jetzt nur noch die Hälfte.

»Du kannst in Belfast wohnen, ohne jemals das Elend und die Gewalt zu Gesicht zu bekommen«, sagt Norman, während er sein Taxi auf einer abschüssigen Straße zurück in die Innenstadt lenkt. Von der Anhöhe aus kann man Samson und Goliath sehen, die beiden 60 Meter hohen gelben Kräne der Schiffswerft Harland und Wolff, wo 1911 die Titanic vom Stapel lief. In der Hafengegend zu ihren Füßen breitet sich ein neues Szeneviertel aus, vergnügen sich die Belfaster gleichsam ökumenisch in Pubs und Diskotheken. »Aber auch in der schönsten Bar erkennt jeder Nordire einen Katholiken oder Protestanten auf Anhieb«, sagt Norman. »Keine Ahnung, wie, aber es ist so. Hier musst du dich einfach entscheiden. Selbst wenn du ein Hindu bist. Sogar dann musst du wissen, ob du ein protestantischer oder ein katholischer Hindu sein willst.«

Kaum ein Konflikt ist so oft analysiert worden wie der nordirische

Da mag die Stadt mit immer neuen Hotels und Hochhäusern ihre Friedenszuversicht zementieren und sich Belfast für das Jahr 2008 als Kulturhauptstadt Europas bewerben – in vielen Stadtteilen vertiefen sich die Gräben, wächst alljährlich der Hass. Und immer wieder schwappt der Terror über seine Grenzen. So etwa im vergangenen Oktober, als Bombendrohungen der Splittergruppe Real IRA die gesamte Innenstadt lahmlegten.

Kaum ein Konflikt ist so umfangreich dokumentiert und analysiert wie die nordirischen troubles. Mehr als 10000 Bücher und Artikel sind über sie veröffentlicht worden. Und auch an Lösungsvorschlägen mangelt es nicht. Sie reichen von einem integrierten Schulsystem über die aktuelle, sich mühsam dahinschleppende Politik der kleinen Schritte bis zur Teilung der Provinz, die eine große Zahl Katholiken in die Republik Irland eingliedern würde. Doch nicht selten lautet das Resümee der Fachleute: »Das eigentliche Problem am Nordirlandkonflikt ist, dass es keine Lösung dafür gibt.« Norman sieht dies ähnlich. Das Singen wird für ihn wohl auch in Zukunft eine gefährliche Sache bleiben.