Stiermund, schwül und rätselhaft
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Stiermund, schwül und rätselhaft

DIE ZEIT, Nr. 5/2003

Stiermund, schwül und rätselhaft

 

Bocas del Toro ist ein verwunschener Archipel vor der Küste Panamas. Seine Bewohner träumen von Gold, schönen Frauen und Rum. Alles, was sie haben, sind Bananen. Rucksackreisende suchen hier nach der verlorenen Zeit

Amado ist ein Sonderling, so viel steht fest. Oft spricht er von Segelschiffen, die bald über die karibische See kämen, um ihn zu holen. Von Männern mit breiten Hüten und von rauschenden Fiestas. Von viel Gold und schönen Frauen und nie versiegenden Rumfässern. Manche sagen, Amado sei verrückt. Dass er seinen Verstand vergraben habe, Schaufel für Schaufel, Jahr für Jahr, im Sand der Insel Cayo de Agua im äußersten Nordwesten Panamas. Schuld an Amados Zustand sei das Testament seines Onkels, in dem stand, dass dort unter einem Baum Gold vergraben liege. Aber wie viele Bäume gibt es auf einer Insel vor der Moskitoküste? Amado grub unter fast allen. Unter allein stehenden, unter seltsam verwachsenen, unter besonders hohen. Gefunden hat er nichts. Jetzt ist Amado ein alter Mann und sehr sonderbar. Die Geister der Piraten haben den Schatz verschwinden lassen, sagt er. Aber eines Tages kämen sie, um ihn zu entlohnen. Nur so könne es sein. Amado ist ganz sicher.

Amados Schicksal ist bizarr, aber nicht abwegig auf den Inseln von Bocas del Toro. Der Archipel aus fast 70 Atollen vor der gleichnamigen Region im Nordwesten Panamas passte vor 500 Jahren nicht ins Kalkül der spanischen Konquistadoren. Sein Entdecker Kolumbus kehrte ihm darum bald wieder den Rücken. Dafür kamen die Piraten. Im 17. Jahrhundert landeten regelmäßig Freibeuter auf den weltentrückten Inseln, um ungestört ihre Schiffe zu reparieren, Kokosnüsse als Trinkproviant zu laden, Meeresschildkröten und Leguane zu jagen. Die Männer des legendären englischen Piraten Henry Morgan sollen auf Dutzenden der Eilande ihre Beute vergraben haben, so will es die Legende. Glauben schenken ihr die Bocatoreños kaum noch. Aber irgendwann einmal haben die meisten von ihnen nach den sagenhaften Schätzen gesucht – auch wenn sie früher resignierten als der arme Amado.

Nackte Körper, grüne Bananen

Bocas del Toro heißt auch die Provinzhauptstadt auf der größten der sechs bewohnten Inseln, die etwa so groß ist wie Norderney. Das karibische Farbengewitter aus Türkis, Smaragdgrün und Kobaltblau umrahmt den 5000-Einwohner-Ort wie ein Mosaik aus Edelsteinen. Wer ihn betritt, wähnt sich inmitten eines Romans von Joseph Conrad. Vor pastell getünchten Holzhäusern wippen alte Männer in Schaukelstühlen, baumeln Hängematten auf den Veranden, hängt das Tentakelgewirr frisch gefangener Oktopusse zwischen Wäschestücken von den Balkonen. Entlang der Hauptstraße und der abzweigenden Schotterwege quengeln die Rhythmen der Salsamusik, wienern Kinder die Schuhe der wenigen, die nicht barfuß laufen. Frauen stehen in kleinen Gruppen und wedeln sich mit Fächern Luft in ihre schwarzen Gesichter, durch die immer wieder der grellweiße Blitz ihrer Zahnreihen zuckt. Nur einen Steinwurf vom Gebäude der Provinzregierung entfernt, zischen Männer durch die Gitterstäbe des Gefängnisses den Passanten zu. Die Delinquenten betteln um eine Zigarette, einen Schluck Rum oder einen Plausch. Und über allem schwebt die träge Schwüle der Tropen. Auch sie nährt den Eindruck, dass vielleicht Sonnenaufgang und Sonnenuntergang eine Rolle spielen im Leben der Menschen an diesem Ende der Welt, kaum aber Stunden oder gar Minuten. Die Zeit scheint anderswo zu vergehen, nicht auf Bocas del Toro.

„Stanford, wer heißt schon Stanford?“ Stanford Guillermo hadert mit dem ersten seiner beiden Vornamen. „Komischer Gringoname“, brummt der schwarze Zweizentnermann auf Spanisch und zertrümmert einen der Hummer, die er jeden Abend im Restaurant seiner Schwester Maria vertilgt. Neulich hat Stanford erfahren, dass eine amerikanische Eliteuniversität so heißt wie er. Seitdem sieht er die Sache gelassener. „Dann ist das ein intelligenter Name, oder?“ Stanford grinst und saugt mit schlürfendem Geräusch das Fleisch aus der unterarmlangen Langustenschere. Aus einer Holzschüssel fingert er eine Hand voll Patacones, gebratene grüne Bananenscheiben, und stopft sie sich in den Mund. Maria lächelt zufrieden. Im Schattengeflacker der Kokospalmen serviert sie vor einer Bretterbude am Strand kreolische Küche. Das Lokal hat sie nach ihrer Familie benannt: Restaurante McFarlane.

Maria und Stanford Guillermo McFarlane sind nicht die Einzigen in Bocas del Toro, deren Vor- und Nachnamen rätselhaft klingen. Auch die Namen ihrer Freunde amalgamieren zu merkwürdigen Kombinationen, die eher an Preisboxer oder Mafiabosse erinnern als an Burschen mit zerschlissenen Hosen, nackten Oberkörpern und ausgedörrten Baseballkappen. Namen wie aus einer Short Story von Hemingway. Rocky Omar Smith zum Beispiel oder Gallardo Livingston. Tapio Brown oder Juan Chen Junior. Collin Ortega oder Bobby Chichile Domínguez. Ihre Muttersprache klingt nicht weniger verwegen. Denn auf Bocas del Toro parliert man zwar ebenso selbstverständlich in Panamas Amtssprache Spanisch wie in Englisch; vor allem aber spricht man Guari Guari, eine Mischung aus beiden mit Guaymí, dem Dialekt der indianischen Ureinwohner von Bocas del Toro.

Das polyglotte Chaos hat seine Geschichte. Der größte Teil der rund 10000 Menschen auf dem Archipel sind Afroantillianer von den Westindischen Inseln. Abkömmlinge von Leibeigenen längst verschwundener britischer Siedler und die Nachfahren der ersten Bananenarbeiter, die Ende des 19. Jahrhunderts einfielen, um sich auf den Plantagen amerikanischer Pflanzer zu verdingen. Vor allem 1914 wuchs das Heer des Proletariats: Der Panamakanal wurde eröffnet, und viele seiner plötzlich arbeitslos gewordenen Arbeiter strandeten an den Küsten der Inselkette. Mit ihnen kamen nicht nur die schwarzen Männer und Frauen ehemaliger karibischer Sklaveninseln. Auch Latinos, Chinesen und Kreolen ließen sich nieder und vermischten sich mit Guaymí-, Bokota- und Terriben-Indianern. Ganz Panama ist eine wirre Legierung aus Rassen und Kulturen. Doch nirgendwo auf der Landbrücke zwischen Pazifik und Karibik haben sich die Ethnien zu einem schrilleren Neben- und Durcheinander formiert als in Bocas del Toro.

„Bocatization“ nennt Benson Karras das Gefühl, das ihn vor Jahren in der Stadt befallen hat. „Ein paar Tage hier geben dir ein Jahr deines Lebens zurück“, sagt der Amerikaner, der von früh bis spät nichts als ein Paar Bermudas trägt und ein unermüdliches Grinsen. Er ist einer jener amerikanischen Landsleute, die sich behind God’s back niedergelassen haben und immer mehr Rucksackreisende aus aller Welt anlocken. Sein Beispiel macht Schule: In den vergangenen Jahren sind die Grundstückspreise auf den Inseln in ungeahnte Höhen geschossen. Und mit ihnen die Anzahl der Entrepreneurs in kurzen Hosen, die arglosen Zeitgenossen Immobilien und Bauplätze abkaufen, um sie dann für das Vielfache ihres Preises an die Aussteiger zu verhökern. In Bensons Kneipe Barco Hundido sieht man an manchen Abenden mehr Nordamerikaner und Europäer als Einheimische.

Schnaps mit ein bisschen Milch

Das Wasser ist glatt und schwarz und trägt einen Schleier aus fahlem Silber, als Gallardo die Isla Bastimentos verlässt. Der Vollmond prangt am Himmel wie ein Amulett, und die Wellen schmatzen leise am Bug. Der Bootsmann steuert seine Barkasse vor Tagesanbruch durch das Archipel, um an vereinzelten Pfahlhütten die „Bananeros“ einzusammeln. Überall auf dem Meer blinken die Lichter weiterer großer und kleiner Boote mit Hunderten von Bananenarbeitern an Bord. Ihr Ziel heißt Almirante, ein staubiges Nest auf dem Festland, wo sie die Früchte ernten, verpacken und auf Schiffe verladen.

Eine Stunde später tauchen Gallardo und seine Männer in die mangrovengesäumten Hafenanlagen ein. Die Eisenarme der Lastenkräne spreizen sich über ihren Köpfen, davor dümpeln Bananenfrachter in der violett schimmernden Lagune. Mit leeren Bäuchen warten sie wie eine Versammlung von Seekühen auf ihre Fütterung. Während die Arbeiter aus den Booten klettern, tragen die Gipfel der Cordillera de Talamanca bereits ihre hellgrünen Dschungelkappen, von der Morgensonne entflammt. Mit den Umrissen eines dicken Kaiziken thront in ihrer Mitte der Vulkan Barú. Von seiner rund dreieinhalbtausend Meter hohen Spitze kann man gleichzeitig die Wellenkämme des Pazifiks und der karibischen See sehen.

In Almirante enden die Schienen eines Güterzugs, der sich von der costaricanischen Grenze durch endlose Bananenfelder windet und die Arbeiter zu ihren Plantagen und Fincas bringt. Gleise durchädern den Ort, und überall stehen ausrangierte, von Dschungelpflanzen überwucherte Waggons und Lokomotiven zwischen bunten Holzhäusern und streunenden Hunden. Auf einigen Wracks liegt Wäsche zum Trocknen aus. In ihnen wohnt ein Teil der Bananeros, die aus allen Gegenden Panamas kommen, um für Chiquita Brands International zu arbeiten. Der Bananenmulti ist der weitaus größte Arbeitgeber der Provinz. Fast jeder ihrer knapp 100000 Einwohner ist von ihm abhängig. Eine drei viertel Million Tonnen Bananen produziert Chiquita jährlich in Bocas del Toro und verschifft sie ab Almirante in rund 40 Länder.

Auch Gallardo war Bananero, bis er das Boot seines Vaters erbte und mit ihm seinen Job als Fährmann. „Das Beste, was mir passieren konnte“, sagt Gallardo. Warum, zeigen seine Arme. Von der Schulter abwärts sind sie mit Dutzenden aufgeworfener Flecken übersäht. Jahrelang lief Gallardo mit einer rostigen Pumpe auf dem Rücken durch die kilometerlangen Plantagengänge und besprühte die Stauden mit Pestiziden und chemischen Düngemitteln. Hauterkrankungen und Unfruchtbarkeit gehören bis heute zu den häufigsten Folgeschäden dieser Arbeit, die manche sogar erblinden lässt. Auf der knallgelben Internet-Seite des Chiquita-Konzerns ist von alldem nichts zu lesen. Dafür aber von angeblich mustergültigen Arbeitsbedingungen.

Andere Bananeros schleppen Tag für Tag die rund 50 Kilo schweren Bananenstauden zu den Förderbändern. Von dort zerren ihre Kollegen die Last mit Seilzügen und bellenden Kommandos an den Rand des Labyrinths aus Trampelpfaden und Bewässerungsgräben. Bezahlt wird im Stückakkord. Doch mehr als zehn Dollar am Tag bringt die Knochenarbeit selten ein. Und die Zeiten sind härter geworden. Seit 1993 gelten die protektionistischen Importbeschränkungen der EU gegen die „Dollar-Bananen“ aus Lateinamerika. Seitdem haben in Panama mehr als 3000 Bananeros ihren Job verloren, die meisten von ihnen in Bocas del Toro. Und ein Ende der Misere ist nicht in Sicht.

Wie ein Ozeandampfer überragt das Hotel Bahía die meisten Häuser in Bocas del Toro. Das satte Blaugrün seiner Fassade lässt den Holzbau sogar nachts weit über das Meer leuchten. Unter seiner schiffsdeckgroßen Veranda liegt das Büro von Stanford, der hier als Nachtwächter arbeitet. Wie jeden Abend, wenn er seine Schicht beginnt, wirft sich Stanford mit Patriarchengeste in seinen Sessel hinter einem riesigen alten Schreibtisch. Und wie jeden Abend öffnet er eine Halbliterflasche Seco, Panamas milden Nationalschnaps aus Zuckerrohr, und mischt ihn mit einigen Spritzern Milch. An der Decke kreist ein Ventilator in der Schwüle, einer greisen Flugechse gleich. Rechts von ihm steht ein großer grauer Stahlkasten. Daneben klafft ein offenes Schalterfenster in der Wand und trägt mit Salzluft und Salsa verquirlte Gesprächsfetzen in den Raum. „Da draußen standen vor 100 Jahren jeden Abend meine Urgroßeltern“, sagt Stanford und schnippt den Flaschenverschluss durch die Schalteröffnung ins Freie. „Und wo ich jetzt sitze, saßen die Gringos. Männer mit Schuhen und Krawatten und vielen Dollar.“ Stanford deutet mit seinem Glas auf den stählernen Kasten: „Das war der Tresor, aus dem die United Fruit Company ihre Arbeiter bezahlt hat. Und das ganze Haus war ihre Zentrale.“

Die nordamerikanische United Fruit Company riss Bocas del Toro zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts aus seinem Dämmerschlaf und katapultierte es fast über Nacht auf die Landkarte des Welthandels. Auf der Hauptinsel pflanzte der Pionier erstmals Bananenplantagen in großem Stil; heute ist er längst ein Teil von Chiquita. Für ihn arbeiteten auch Stanfords Vorfahren aus Jamaika. Sie kamen zu der Zeit, als die prächtigen Holzvillen entstanden, die aussehen, als seien sie aus den amerikanischen Südstaaten direkt in die Tropen verpflanzt worden. Einer Zeit, in der Bocas del Toro vibrierte vor Goldgräberstimmung und Abenteurerkapitalismus. Fünf Konsulate gab es damals, eine Radiostation, drei Tageszeitungen und Panamas erste Lotterie.

Auf vergilbten Fotografien in Stanfords Portierloge sieht man Don Hermann Grabowsky, einen deutschen Geschäftsmann, mit stolzgeschwellter Brust vor seinem Kaufhaus posieren. Ein Stück weiter bot der Chinese Kong Tai orientalische Artikel aller Art, und in der Ortsmitte flankierten barfüßige schwarze Pagen in grotesken Fantasieuniformen das Portal von Walter’s Hotel. Und an jeder Ecke verkauften Apotheken Medikamente gegen Tropenkrankheiten für die vielen Händler aus Nordamerika, Europa und sogar dem Libanon. Doch schon in den zwanziger Jahren versanken die Inseln wieder in tropischer Lethargie: Ein Virus befiel die Plantagen, und man verlegte die Bananenzucht und ihre Verwaltung auf das Festland.

Tummelplatz der Delfine

Vor wenigen Jahren gab es außer dem Hotel Bahía keine Unterkunft in Bocas del Toro. Heute machen ihm ein Dutzend Quartiere und immer mehr Kneipen Konkurrenz. Denn auch die Mittelklasse von Panama-Stadt hat Bocas del Toro als Ausflugsziel entdeckt und die Bocatoreños den Tourismus als neue Einnahmequelle. Viele arbeitslose Bananeros bestreiten heute ihr Leben als Wassertaxifahrer. Mit ihren Booten bringen sie die Besucher zu Buchten und Korallenbänken von unwirklicher Schönheit.

Zu den Tummelplätzen der Delfine, zu den Laichgründen der Meeresschildkröten oder zu den feuerroten Giftfröschen der Isla Bastimentos, die nirgendwo sonst auf dem Planeten zu Hause sind. Und sogar ausländische Kamerateams waren unlängst auf den Inseln, um in perfekter Robinson-Crusoe-Atmosphäre Varianten der Big Brother-Fernsehserie aufzuzeichnen. Dass das lässige Phlegma des Archipels bald der Tourismusindustrie zum Opfer fallen könnte, befürchtet Nachtwächter Stanford dennoch nicht. Dafür sorgen schon die vielen Regentage, die regelmäßigen Wirbelstürme oder die Erdbeben. Erst vor elf Jahren hat der letzte Ausbruch viele Häuser zum Einsturz gebracht. Was aber, wenn eines Tages die Besucher ganz wegbleiben? Stanford überlegt kurz. Plötzlich beginnt er zu lächeln. Mit seinen Armen macht er eine schaufelnde Bewegung, eine Geste, als würde er ein Sandloch ausheben. Stanford deutet nach draußen. Durch das Schalterfenster sieht man Amado das Gepäck eines Rucksacktouristen in das Foyer schleppen. Niemand hört, was er ihm erzählt. Aber jeder ahnt es.