Sprung in die Ewigkeit
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Sprung in die Ewigkeit

DIE ZEIT, Nr. 43/2022

Sprung in die Ewigkeit

 

An Kretas Küste hat Gina Mamidakis ihr Hotelgelände zu einem Skulpturenpark gemacht, in dem man wunderbar aus der Zeit kippt

Die Morgensonne fächert über die Berge und legt eine Spur aus silberhellen Schuppen in die Bucht. Ich schwimme an der Spur entlang und schubse mit jedem Zug Wasser ins Licht. Es zerspringt dann lidschlagkurz in 1000 Blitze. Ich schwimme, ja. Aber eigentlich produziere ich Schönheit. Oder darf ich schon Kunst dazu sagen?

Als ich umkehre, entdecke ich alabasterfarbene Bahnen, die wie versteifter Stoff oder gegerbte Tierhäute über den Uferfelsen liegen und bis ins Meer lappen. Ich kraule hin und merke: Es sind gewellte Formen aus Polyester, die sich im Takt der Brandung heben und senken, als atmeten sie. Unwillkürlich schmiege ich mich in eine hinein. Es gluckst und zischt und sprudelt in einem meditativen Rhythmus, ich fühle mich wie von der Ewigkeit gewiegt. Ich stelle mir die ersten Wirbeltiere vor, die vor 385 Millionen Jahren an Land gingen. Vielleicht verharrten sie ja auch erst einmal selbstvergessen in einem amphibischen Zwischenreich wie diesem hier.

Die Installation heißt Tender Shell Geophilia und ist eins von 54 Kunstwerken aus der Sammlung des Minos Beach Art Hotel in Agios Nikolaos. Es liegt im Nordosten Kretas und war in den sechziger Jahren das erste Luxusresort der Insel. Die Kunstsammlung beteht fast ausschließlich aus Skulpturen, die sich locker über eine Landzunge mit zweieinhalb Kilometern Küste erstrecken und sich den Platz mit schneeweißen Bungalows und Villen im Kahlstil griechischer Fischerdörfer teilen. Das Hotelgelände ist ein Skulpturenpark und der Skulpturenpark ein Hotelgelände.

Als ich meinen Flachbau betrete, ist klar: Wie die Architektur will auch das Interieur essentiell sein. Ocker und Grau, Schwarz und Weiß – die Farben sind so zurückhaltend wie selbstbewusst. Ansonsten ist das Zimmer ein Vexierspiel aus Moderne und Archaik: Der Zementboden wirkt wie gestampfter Lehm, das fein gemaserte Holz ist von zeitlosem Zeitgeist. Und der Bastsessel sieht so schnittig aus, als sei er für eine Art Ethno-Sportwagen entworfen. Doch der Raum ist düster. Er scheint mir zu signalisieren, dass er mich tagsüber gar nicht sehen will.

Ich frühstücke im offenen Hauptrestaurant, wo Industriestühle mit Holzbalken kontrastieren. Irgendwann verfängt sich mein Blick in Lynda Benglis‘ Drawing gegenüber. Die erratisch in die Höhe gewundenen Metallstangen lassen an eine Zeichnung denken, die jemand gedankenverloren in den Yves-Klein-blauen Himmel gekritzelt hat. In diesem Moment fällt mir auf, dass ich bereits überall Kunst wittere. Im Himmel. Im Johannisbrotbaum, der sich so neugierig den Tischen entgegenbeugt, als wolle er nachsehen, ob etwas fehlt. Oder im Auftritt der Kellnerinnen, die in ihren Tuniken schreiten wie Heldinnen aus einem Historiendrama.

Die Kunst regiert hier seit den achtziger Jahren. Nach dem Tod ihres Vaters übernahm Gina Mamidakis dessen Hotel und hielt darin das erste von drei Symposien mit 32 Künstlern ab; deren Werke bildeten den Grundstock für den bis heute wachsenden Skulpturenpark. Dann gründete sie die nach ihren Eltern benannte George and Aristea Mamidakis Foundation, die jährlich einen mit 10.000 Euro dotierten Kunstpreis vergibt. Das jeweilige Werk – dieses Jahr Tender Shell Geophilia von Ileana Arnaoutou und Ismeni King – wird dauerhaft auf dem Gelände des Minos Beach Art Hotel ausgestellt, obwohl Gina Mamidakis mittlerweile vier Hotels besitzt. Die Stiftung hat inzwischen auch ein Artists-in-Residence-Programm ins Leben gerufen: einmal im Jahr kommen für eine Woche Künstler, Designer, Komponisten, Schriftsteller und Kuratoren im Minos Beach zusammen.

Nachmittags spaziere ich über das kunstdurchwirkte Gelände. Es riecht nach Rosen und Jasmin, der schwingende Ton der Zikaden ist das einzige Geräusch. Alle 121 Zimmer sind ausgebucht. Dennoch herrscht eine poetische Ruhe, die sich am Pool zur Gravitas steigert. Gäste verstecken sich hinter ihren Lidern oder flüstern einander aus Romanen vor. Schwimmen sie, tun sie das im Tempo von Seerosen. An der Stirnseite des Pools versucht das quietschbunte Wandgemälde Summer Cinema Theatre I & II von Christos Petridis eine Art visuellen Aufstand gegen so viel Siestamodus. Doch Petridis’ knopfäugiges Babydeckendesign voller süßer Saurier bringt glücklicherweise niemanden aus der Fassung.

Fast alle anderen Werke weigern sich, nur dekorativ zu sein. Etwa die drei riesigen, mit Stacheldraht umwickelten Painful Pyramids von Magdalena Abakanowicz. Brutal rammen sie den Gedanken an Krieg und Diktatur ins türkisblaue Setting der Mirabello-Bucht, die ihnen wie geweiht zu Füßen liegt. Oder die Arbeit Lost Desires, mit der die Zypriotin Klitsa Antoniou ihrer geteilten Heimat gedenkt: Zementschwere, unbenutzbare Schaukeln erheben sich einer Mauer gleich vor dem grün und weiß bestuhlten Hotel-Kafeneon und gemahnen an eine von der türkischen Invasion traumatisierte Kindheit. Ich nehme einen Frappé und staune, wie gut sich die Stacheln der Welt mit dem Ferienfluidum vertragen.

Abends besuche ich eins der drei Terrassenrestaurants, die Taverne Terpsis, vor der die Berge nach und nach den rosa Ton einer Seemuschel annehmen. Als Amuse-Gueule gibt es eine Art Zwiebeleis, und der Oktopus kommt mit Schäumen, die man aus Schälchen löffelt. Im Kontrast zur kulinarischen Spitzenklöppelei stehen die kretischen Weine. In allen entdecke ich diesen herben Punch, der nicht nur an die genügsamen Retsinatage meiner Jugend erinnert, sondern auch an den Heroismus der kargen Landschaft ringsum.

Am nächsten Tag hat meine Wahrnehmung eine andere Temperatur. Die Kunstwerke sind keine nimmersatten Aufmerksamkeitserpresser mehr, ich begegne ihnen eher wie klugen Bekannten. Ich schaue, schwimme, snacke. Irgendwann gelange ich ans Ende der Anlage und sehe jenseits einer Mauer Müllmänner Bier trinken und Rentner Backgammon spielen. Die Einheimischen dürfen innerhalb des Hotelgeländes zwar speisen und flanieren, aber mir fiel bislang keiner auf. Also mal raus hier.

Bereits nach ein paar Schritten wird klar: Die 12000-Seelen-Stadt Agios Nikolaos ist verbaut wie Bochum – und doch die Heiterkeit selbst. Weißer Putz und blaues Meer sind ewige Chiffren des Touristenglücks. In Gassen, die vor Betriebsamkeit summen, kauft und verkauft man Olivenöl, Wein und Inselnippes und springt dann gemeinsam ins Meer, zu dem überall Badeleitern führen. Kommt das Gespräch auf Gina Mamidakis, hat jeder Einwohner eine Meinung. Etliche seien eifersüchtig, sagt ein Kellner. „Eine Frau, vier Hotels, immer neue Projekte – das bekommen viele patriarchalische Kreter nicht auf die Reihe.“

Abends warte ich auf sie im La Bouillabaisse, dem Fine Dining-Restaurant des Hotels. Es wirkt minimalistisch wie ein Glas Champagner. Als Gina Mamidakis erscheint, meint man, sie bräche durch die Wand. So würde ein Zwölfjähriger eine Rocksängerin malen: Blonde Mähne, schwarze Lederjacke, Tattoos, Nasenring. Jede andere 60-Jährige erweckte in diesem Aufzug den Verdacht, hier style sich jemand zu bizarrer Ewigvierzigjährigkeit. Aber nicht Gina. Immer wieder explodiert ihr Lachen, wenn sie erzählt. Vom andernorts geplanten Museum etwa oder der Land Art, die sie bald rund um eines ihrer Hotels installieren will. Es handelt sich um das brutalistische Minos Palace, das wie eine Bunkeranlage auf einem Hügel nebenan thront. Wie ist sie darauf gekommen, provokative Kunst und Hotellerie zusammenzubringen? „Mein Vater war ein streitbarer Mann, mit dem ich zahllose Kämpfe ausgefochten habe. Ich stelle mir vor, sein Geist sei immer noch hier. Und der braucht nun mal die Auseinandersetzung“, sagt sie und lacht, schnaubt den Rauch ihres Zigarillos in die Luft und bestellt die nächste Flasche. Man kauft Gina ab, dass sie nicht nur werbewirksam auf dem Hexenbesen der Kunst mitreiten will. Sie ist tatsächlich vernarrt in das Widerständige.

Als ich am nächsten Morgen mit leichten Meißelarbeiten an den Schläfen auschecke, schaue ich lange auf die zwei Zacken aus Baudraht über dem Empfang. Sie sehen aus wie ein riesiges Elektrokardiogramm. One Second heißt das Werk von Giorgos Gyparakis. Die Rezeptionistin interpretiert mir die Botschaft: „Das Leben ist nur ein Wimpernschlag. Spüre jeden Moment. Relax bei uns, aber schalte dein Gehirn nicht aus.” Wenn das so ist, habe ich alles richtig gemacht. Ich rolle meinen Koffer zum Taxi. Und nehme das Carpe Diem mit nach Hause.