13 Feb Der verrückte Mann sprang in den Brunnen
DIE ZEIT, Nr. 11/2023
Der verrückte Mann sprang in den Brunnen
Wer mit einem Taxifahrer und einem Wörterbuch durch Indien fährt, kann anschließend sogar ein paar Brocken Hindi. Die Frage ist nur, welche
Wer in Indien Land und Leute kennenlernen will, ist mit den Taxifahrern gut bedient. Sie bringen einen durchs Land. Und sie sind die Leute. Meine Exfrau und ich hatten in den frühen 2000er-Jahren für anderthalb Wochen einen Wagen samt Fahrer gemietet. Sunil war Ende 20 und chauffierte uns von Mumbai über die Ruinen von Hampi bis nach Goa. Als er uns mit einem schneewittchenweißen Tata abholte, hatte er die kurz angebundene Art indischer Butler. Im Gesicht die obligatorische Schnurrbartbürste, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, stand er in Habachtstellung abseits, während wir mit seinem Chef noch einmal die Route durchgingen. Warum der mitgekommen war, verstanden wir erst später.
Im Fond des Kleinwagens roch es nach Desinfektionsmitteln, in der Sonnenblende steckte ein Foto, das einen Hindupriester bei der Segnung unseres Autos zeigte. Das Ritual schien auch nötig gewesen zu sein – gegen Mumbais Verkehr ist der Urknall ein Räuspern. Sunil begegnete dem Chaos mit ingenieurhaftem Ernst, Dauerhupen und vollendeter Millimeterkunst: Eidechsenflink schoss er in jede noch so kleine Lücke, die andere für eine Zehntelsekunde übersahen. Wir fühlten uns ans Autoscooterfahren erinnert oder an das rasante Luftballett von Schwalben. Auch die scheinen ja jeden Moment zu kollidieren.
Unsere Herzen pumpten Adrenalin, doch Sunil fand sogar Zeit, nebenbei immer wieder auf einen Zettel zu schauen. Sein Chef hatte ihm darauf die wichtigsten Fragen auf Englisch notiert: »Wollen Sie hier ein Foto machen?«, »Brauchen Sie mich noch?«, »Fahren wir morgen weiter?« und dergleichen mehr. Da wurde uns klar, warum Sunil so schweigsam war. Er sprach kaum Englisch. Denn Englisch zählt in Indien zwar zu den Amtssprachen, ist aber nur in den höheren Schichten verbreitet. Wir dagegen konnten kein Marathi, das man als eine von 23 offiziellen Sprachen Indiens in Mumbai spricht. Hindi wäre der Kompromiss gewesen. Es gilt nicht nur im ethnischen Schmelztiegel der 20-Millionen-Stadt als Lingua franca. Aber da mussten wir ebenso passen.
Heute würde man sich in dieser Situation eine indische Prepaid-SIM-Karte besorgen und eine Sprachübersetzungs- App herunterladen. Oder zöge einen dieser Sofort-Übersetzer aus der Tasche, mit denen man aussieht wie ein Radioreporter beim Interview. Wir dagegen begannen nach ein paar Stunden notgedrungen, uns die wesentlichen Dinge pantomimisch vorzuturnen. Und zwar mit den indischen Gebärden, die uns Sunil beibrachte. Wollten wir etwas zu trinken kaufen, ließen wir den Daumen aus der Faust ragen und vollführten pumpende Bewegungen zum Mund. Mussten wir auf die Toilette, krümmte ich den Zeigefinger. Aber nur ich. Für Frauen wäre das grässlich unpassend, gab Sunil zu verstehen und grinste gequält.
Auch in der monsungrünen Hügellandschaft südlich von Mumbai fuhren wir Kolonne. Wir überholten Ochsenkarren und fürchteten uns vor bösartigen Uraltbussen, die uns entgegenrasten und qualmten, als wollten sie sich in Tintenfischmanier unsichtbar machen. Immer wieder blickten wir in Sunils gleichmütiges Gesicht und fragten uns: Schafft er’s, oder schafft er’s nicht? Das Kilometer-Erlebnis-Verhältnis war top. Unsere neu erlernte Gebärdensprache hingegen ließ wohl immer noch zu wünschen übrig. Bei einem Tankstopp kam Sunil mit einem Hindi-Sprachführer zurück. Das Präsent war pampelmusengelb und hatte einen ikonischen Brandfleck auf dem Cover.
Nach der Besichtigung einer kanonenstrotzenden Inselfestung vor Murud bezogen wir am Arabischen Meer einen viktorianischen, wie für ein Museum zu Agatha Christies Reisen gebauten Hotelpalast. Innen roch es nach Teak und staubigem Pelz, draußen wühlte uns salziger Wind in den Haaren. Ich setzte mich auf die Veranda und blätterte in dem englischen Sprachführer. »Bitte« und »Danke« wollte ich zuerst lernen und suchte lange. Dhanyavaad und kripayaa tauchten erst auf Seite 160 auf. Beide Wörter spielten in Indien keine Rolle, las ich, man mache hier um alltägliche Dinge wenig Worte. Wohl wahr: Gaben wir Sunil etwas von unseren Snacks ab, wackelte er nur indisch zustimmend mit dem Kopf. Erst fanden wir das unhöflich. Später bemerkten wir seinen sekundenkurz aufscheinenden weichen Blick in diesen Momenten. Und übersetzten uns den mit einem Dankeschön.
Verwandtschaftsbezeichnungen standen dafür ganz vorn in dem Lehrbuch. Da will es Indien genau wissen: Ist der Onkel nun der Bruder des Vaters oder der Mutter? Für beide Varianten gibt es ebenso eigene Vokabeln wie für die von »Tante« oder »Schwager«. Dazu die verrückt vielen Synonyme, die daher rühren, dass sich das Hindi einerseits dem Gelehrtenidiom Sanskrit und andererseits persisch- arabischen Einflüssen verdankt. »Haus« etwa heißt ebenso ghar wie mahaan oder bhawan; das Wort »Liebe« ebenso pyaar wie prem, mohabbat oder ischk. Es handelt sich dabei nicht um Nuancen, sondern um die exakt gleiche Bedeutung. Und da noch groß in die Grammatik einsteigen? Lass mal. Vielleicht reichten ja ein paar der Beispielsätze. Doch die waren ziemlich durchgeknallt. Was fängt man an mit »Der verrückte Mann sprang in den Brunnen«, »Er wird in einer Woche sterben« oder »Annie, meine Gute. Arrangiere uns ein pompöses Dinner!«?
Am nächsten Morgen trug Sunil wieder die Klamotten vom ersten Tag, aber seine Bügelfalten waren immer noch so scharf, dass man Angst hatte, sich an ihnen zu schneiden. Wir dagegen liefen längst zerknittert herum. Wie gelang ihm das Kunststück? Er schlief doch im Auto. Vielleicht gehörte das zu den Geheimnissen seines Lebens in Dharavi: Sein Chef hatte uns vor der Abfahrt erzählt, dass sich Sunil in Mumbais riesigem Slum einen einzigen Raum mit Frau, zwei Kindern, Eltern und Großeltern teilte. Jetzt jedenfalls, fanden wir, sei es an der Zeit, mal Privates anzusprechen. Ich formulierte das Hindiwort für »Familie «, deutete auf ihn und schaute fragend. Da nahm er mir den Band aus der Hand und suchte in der Vokabelliste. Er zeigte auf beevee für »Ehefrau« und auf prem vivah für »Liebesheirat«. Die ist im Land der arrangierten Verbindungen immer noch eine grelle Ausnahme. Prem vivah, prem vivah. Immer wieder sagte er das Wort und strahlte wie ein Kind, dem etwas Unerhörtes gelungen ist.
Zurück auf der Straße, näherte sich Sunil bald seinem Lieblingstempo: der Höchstgeschwindigkeit. Während er zu einer nur ihm bekannten Melodie aufs Lenkrad klopfte, tauchten immer mehr Wracks als Zeugen grausiger Unfälle auf. Kein Land der Welt hat annähernd so viele Verkehrstote wie Indien. Madiraa!, madiraa!, mara!, mara!, rief Sunil. Dazu machte er wackelnde Bewegungen mit dem Oberkörper. Ich schaute nach. Madiraa heißt »Schnaps«, mara »tot«. Seinen Hinweis main keval biyar peeta hoon konnte ich mit dem Sprachführer irgendwann auch entschlüsseln. Aber ich behielt ihn meiner damaligen Frau gegenüber für mich. Er bedeutet »Ich trinke ja nur Bier«.
In Ganpatipule drängten unzählige kleine Wellen ans Ufer, als hätten sie dort Termine. Der rein indische Badeort war jedoch das Gegenteil von geschäftig. Hier gingen alle im zuversichtlich langsamen Rhythmus von Schlafwandlern spazieren, ritten auf trägen Kamelen den Strand entlang oder planschten im Wasser, ohne auch nur ein einziges Kleidungsstück auszuziehen. Die schrille Angst vor jedem Anflug von Sexualität ist das Ergebnis britischkolonialer Sittenstrenge und sitzt noch heute tief.
Neben einem rachitischen Riesenrad ragte der Sri-Ganesh- Tempel in die Höhe, wo Sunils elefantenköpfiger Lieblingsgott Ganesh residierte. Jeden Morgen wimmelte es hier von Hindus, die dem »Beseitiger aller Hindernisse« Kokosnüsse, Reis und Süßigkeiten brachten und dessen Reittier, einer riesigen Ratte aus Bronze, Wünsche ins Ohr flüsterten. Auch Sunil stand brav eine Stunde an, um Gaben und Bitten loszuwerden. Ich für meinen Teil hätte mir die Beherrschung des Retroflex wünschen können – diese typisch indische Aussprache von Konsonanten, für die man die Zunge einrollen und an den Gaumen drücken muss. Immer wenn ich diesen knödeligen Sound zu produzieren versuchte, kam ich mir vor wie Peter Sellers in der Blake-Edwards-Komödie The Party. Der spielt darin einen tollpatschigen Film-Komparsen aus Indien, der jeden Satz mit gerollter Zunge verhindisiert. Die Erinnerung daran verhagelte mir den Retroflex total.
Abfallhaufen, malmende Kühe, hupende Autos, ein Geschlinge von Stromleitungen über den Straßen – das war Bijapur. Wir erreichten es in der Dunkelheit. Und die steht Indien immer. Die gelb-grün-roten Lichterketten, die Neonreklamen, die jäh aufschießenden Flammen der Garküchen und das Geflacker der Butterfettlampen in der sonst obsidianschwarzen Nacht ließen alles rätselhaft erscheinen.
Für Sunil, der Mumbai noch nie verlassen hatte, galt das aus einem anderen Grund: Bijapur liegt im Bundesstaat Karnataka, wo Kannada gesprochen wird. Das ist eine der drawidischen Sprachen des Südens, die sich von den indoarischen des Nordens wie Hindi abgrenzen. Was bedeutete: Hier sprach man kein Marathi und kaum Hindi. Metropolenmann Sunil geriet völlig aus dem Häuschen. Hindi! Hindi! Speak Hindi!, rief er. Manchmal polterte er auch, Jangli! und Gaowala!, was der Sprachführer mit »Dschungelmensch« und »Dorftrottel« übersetzte. Jetzt konnten wir sogar auf Hindi schimpfen.
Der Höhepunkt der Reise war ein kommunikatives Kinderspiel. Die Ruinenstadt Hampi ist das Angkor Wat Indiens und voller Händler, die uns in einem prima Englisch Sachen andrehen wollten. Mein bollywoodesk deklamiertes tschhor do! kutsch nahiin kharildungaa! – »Geben Sie’s auf! Ich kaufe nichts!« – stellte jede auf Englisch intonierte Händlerabwehr in den Schatten. Die Basare verteilten sich zwischen Palmenhainen, Granitbrocken und den Überresten des 1565 untergegangenen Vijayanagar: Das letzte hinduistische Königreich ist das größte Ruinenfeld Indiens mit Dutzenden von Tempelanlagen, die zu hauchzarten Kunstwerken gemeißelt sind. Wir bestaunten die dargestellten Szenen, als wären es riesige Märchenbücher. Und am frühen Abend saßen wir auf den Hügeln ringsum und ließen uns von der violett aufglimmenden Landschaft in den Bann schlagen. Hampi wirkte wie ein Traum, dessen Bedeutung nicht klar wird.
Am Tag der Weiterfahrt erschien Sunil mit einer dicken Backe. Für die letzte lange Etappe nach Goa, wo wir uns von ihm verabschieden und eine Woche später allein zurückfliegen würden, hatte er sich extra viel von seinem geliebten Ek sau biis gekauft. Der Name bedeutet »120« und bezeichnet eine Betelnuss- Mischung. Man klemmt sie sich in die Wange, in der sie die Wirkung eines geexten Liters Red Bull entfaltet. Einmal probierte ich sie und tat die ganze Nacht kein Auge zu. Auf dem Weg nach Westen bremste Sunil zuweilen auf Schritttempo ab, um einen roten Bogen Blättersaft auf den Asphalt zu spucken.
Zum Abschluss aßen wir in Palolem gemeinsam portugiesisch in einer Beachbar und spürten, wie unsere lassimüde Welt beim plötzlich überall erhältlichen Bier wieder ins europäische Lot gerückt wurde. Für Sunil aber fiel sie an Goas angesagtestem Strand völlig auseinander: Niemand hatte ihn auf die holländischen Oben-ohne-Touristinnen mit mayonnaiseweißer Haut und walkürenhaften Körpermaßen vorbereitet, die fünf Meter vor uns im Sand lagerten. Kein Hindisatz hätte den Kulturschock lindern können, Sunil schaute so entsetzt, als sei er in eine Orgie von Dämonen geraten.
Da er uns ans Herz gewachsen war, verabschiedete sich meine Exfrau später von ihm mit einer besonders innigen Umarmung. Die gab Sunils indischer Prüderie den Rest. Selbst der Tata wirkte sprachlos, als er zurück gen Mumbai schlich und kurz in jedem Schlagloch versank. Dhyaan se chalaen! »Fahr bloß vorsichtig!«, riefen wir Sunil noch winkend hinterher. Da ertönte endlich wieder das vertraute Gehupe. Es kam uns in diesem Moment vor wie die einzige Sprache, die in Indien wirklich jeder versteht.