Alt werden heute. Reine Kopfsache.
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Alt werden heute. Reine Kopfsache.

LEBENSART, 2021

Alt werden heute. Reine Kopfsache.

 

Wo spielt sich das Alter ab? Auf der Geburtsurkunde? Oder eher im Kopf? Wer die fortgeschrittenen Lebensjahre unserer Zeit unter die Lupe nimmt, kommt zu einer ziemlich klaren Antwort.

Das Schicksal meinte es anderes mit Roger Daltrey. »I hope I die before I get old«, sang der Frontmann von The Who 1965 in der Mod-Hymne »My Generation«. Heute ist er 77 Jahre alt und quicklebendig. Erst vor zwei Jahren hat er mit seiner legendären Band ein neues Album veröffentlicht. Und nicht nur der grau melierte Wuschelkopf aus London pfeift aufs Alter. Die Scorpions wollten 2013 nach fast einem halben Jahrhundert von der Bühne abtreten, um dann während ihrer Abschiedstournee festzustellen, dass ihnen der ganze Rockzirkus noch viel zu viel Spaß macht. Jetzt sind die Gründungsmitglieder Klaus Meine und Rudolf Schenker in ihren Siebzigern und denken so wenig ans Aufhören wie die Rolling Stones. Deren Bühnenberserker Mick Jagger wurde vor vier Jahren sogar zum achten Mal Vater – mit 73.

Auch ohne Rock ’n‘ Roll treibt das Alter immer buntere Blüten. Es gibt die mit 92 Jahren älteste Absolventin eines Marathonlaufs, den 80-jährigen Bezwinger des Mount Everest, die australische Großmutter, die in 17 Stunden den Ärmelkanal durchschwamm. Und es gibt die vielen notorischen Wirtschaftslenker in der achten oder neunten Dekade ihres Lebens wie den Oracle-Gründer Larry Ellison mit dem glatten, optimistischen Gesicht eines Surflehrers. Haben sie alle unsere Vorstellung vom Alter verändert? Irrt der 94-jährige, fast jährlich ein neues Buch veröffentlichende Martin Walser, wenn er behauptet: »Das Alter ist ein Zwergenstaat, regiert von jungen Riesen«?

Nicht so ganz. Amerikanische Forscher der Yale University analysierten unlängst den Sprachgebrauch der vergangenen zwei Jahrhunderte, indem sie in einer Datenbank mit 400 Millionen englischen Wörtern aus unterschiedlichen Quellen nach Synonymen fürs Alter suchten. Je weiter sie in die Gegenwart vorstießen, desto stärker nahmen die positiven Konnotationen wie Erfahrung oder Weisheit ab und negative Zuschreibungen wie Gebrechlichkeit, Krankheit oder Verfall zu. Ihr Resümee: Das Alter besitzt heute den schlechtesten Ruf seit 200 Jahren.

Jungbrunnen 21. Jahrhundert

Wer nun die alten Zeiten mit ihrer »Ehrfurcht vor schneeweißen Haaren« besingen möchte, geht allerdings einer trügerischen Idylle auf den Leim. Das Bild von der harmonischen Großfamilie voller Respekt vor der Lebensleistung der Großeltern entpuppt sich bei Licht besehen als Kitsch. Die wenigen, die es etwa um 1900 überhaupt schafften, älter als 50 zu werden, hausten oft in überbelegten Stadtwohnungen ohne jede Privatsphäre in einem rigiden Normenkorsett, das sie mitnichten bevorzugte. Und auf dem Land war es keineswegs besser. Um das Altenteil auf einem Bauernhof wurde bis auf den letzten Kohlkopf gestritten, und wenn die Alten nichts mehr zum Lebensunterhalt beizutragen hatten, waren sie ihren Kindern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Dass die Zahl selbstständiger Seniorenhaushalte heute dank Sozialversicherung und steigender Lebenserwartung zunimmt, kommt einer unbeschwerten Pflege der Familienbande viel eher entgegen.

Eine Welt, in der die Menschen älter, die finanziellen Freiheiten größer und die Möglichkeiten der Medizin zahlreicher werden, scheint sich auf Aristoteles zu besinnen, der im Alter eine »natürliche Krankheit« sah. Ihr bloß nicht anheimzufallen ist die Devise unserer Zeit. Und das gelingt sensationell gut, wie die Altersforschung zeigt. Nicht nur, dass wir in jeder Dekade zweieinhalb Jahre dazugewinnen, sich die Lebenserwartung pro Tag um vier bis fünf Stunden erhöht. Die Statistiken belegen auch: Wir werden viel älter, ohne dass sich die Zeit der Gebrechlichkeit verlängert. Das tatsächliche und das biologische Alter fallen zunehmend auseinander, jede neue Generation verjüngt sich um fünf bis acht Jahre. Diese Schere öffnet sich auch im Verhältnis von Lebens- und Arbeitszeit. Lebte man vor einem Jahrhundert 440.000 Stunden und arbeitete davon 150.000, sind wir mittlerweile bei 690.000 Stunden Lebenszeit angelangt, der gerade einmal 45.000 Stunden Arbeit gegenüberstehen. Auch das trägt dazu bei, dass ein heute 60-Jähriger so fit ist wie ein 40-Jähriger vor 100 Jahren. Paradox, aber wahr: Wir werden immer älter und gleichzeitig immer jünger.

Es ist deswegen an der Zeit, das vermeintliche Damoklesschwert des demografischen Wandels mit neuen Augen zu sehen. Zwar verändert sich die Zusammensetzung der Alterspyramide im kalendarischen Sinn. Gäbe es jedoch so etwas wie eine Vitalitätspyramide – sie sähe völlig anders aus. Demzufolge hinkt unser kulturelles Mindset dem Downaging hinterher, wie Altersforscher das Phänomen des Sich-jünger-Fühlens nennen. Und in der Tat sollten wir das Narrativ vom Alter schleunigst umschreiben. Immerhin charakterisieren die Betagten unsere Gesellschaft auf nie dagewesene Weise. Heute sind 21 Prozent älter als 65, im Jahr 2030 werden es 28 Prozent sein.

Best Ager. Mehr als nur nett formuliert.

Doch was bedeutet diese Entwicklung für den Altersbegriff genau? Ist der Best Ager vielleicht doch viel mehr als nur ein hübscher Euphemismus, mit dem sich Kreuzfahrten, Designerbrillen und Golfreisen verkaufen lassen? Durchaus, meint die Psychologin und Gerontologin Ursula Staudinger, seit 2020 Rektorin der Technischen Universität Dresden. »Die dritte Phase des Lebens verändert ihr Gesicht. Man kann nun die Jahre zwischen 60 und 80 einer mittleren Lebensspanne zuschlagen und nur die letzten, pflegebedürftigen Jahre als Alter bezeichnen. Oder man akzeptiert, dass Altern nicht nur negative Seiten besitzt. Dann gibt es das junge und aktive Alter und das stärker mit Krankheit und Pflege verbundene Alter, das jenseits der 85 oder 90 beginnt.«

In keinem biografischen Abschnitt sind die Unterschiede zwischen den Menschen so groß wie in jenem des Lebensabends. Es ist daher kein Wunder, dass der Begriff des Best Agers aufgedröselt wird in eine Vielzahl von Untergruppen. Die prominenteste Kategorie bilden die »Forever Youngsters«, die sich am kühnsten über ihr Geburtsdatum hinwegsetzen und eine Art zweite Pubertät feiern. Gesundheit ist für sie eine Sache der Eigenverantwortung, Medizin eine Dienstleistung, Fitness ihr höchstes Gut – ein Gut, das sie mit eiserner Disziplin verfolgen und damit sogar viele Jugendliche in den Schatten stellen. Mag sich die Sportlichkeit früherer Rentner im Tautreten erschöpft haben, heute muss es Paragliding sein. Vorausgesetzt allerdings, man verfügt über die Mittel, zu denen nicht nur Geld, sondern auch Bildung und ein stabil geknüpftes soziales Netz zählen. Vor allem die Kontakte sind es, die einen aktiven Lebensstil bis ins höhere Alter ermöglichen. Unteren Schichten droht dagegen beim Eintritt ins Rentenalter zuweilen das, was Altersforscher den »Pensionstod« nennen: Mit dem Band zum alten Leben reißt auch das zur Gesellschaft.

Egal, wie krass das Downaging interpretiert wird – es ist mehr als nur ein Spiel mit Etiketten. De facto funktioniert die Attitüde im Sinn einer sich selbst erfüllenden Prophezeihung: Wer sich jung fühlt, bleibt es tatsächlich länger. Aber auch andersherum macht sich dieser Effekt bemerkbar. Je pessimistischer wir aufs Alter blicken, desto psychisch labiler werden wir, desto schneller bauen wir geistig ab, desto mehr häufen sich Herzinfarkte und Schlaganfälle. Hans-Werner Wahl, Leiter der Abteilung für Psychologische Altersforschung an der Universität Heidelberg, erklärt dies damit, dass negative Altersbilder eine niedrigschwellige Stressreaktion in uns auslösen, die das Stresshormon Cortisol, den Blutdruck und die Herzfrequenz steigen lassen.

Wider die Anti-Haltung

Eine, wenn man so will, erwachsenere Gruppe der neuen Alten sind die »Silverpreneure«, die auch nach ihrem 67. Geburtstag beruflich Verantwortung tragen und wertvolle Erfahrungen weitergeben wollen. Und das nicht nur, weil die Zahl junger Erwerbstätiger dramatisch sinkt. Sondern vor allem, weil sie aus einem enormen Wissenspool schöpfen und somit Wertschätzung aus ihrem Engagement ziehen können.

Gerade Silverpreneure profitieren von der kristallinen Intelligenz, die eine Domäne – wenn nicht sogar ein Konkurrenzvorteil – des Alters ist. Während Arbeitsgedächtnis und Lernfähigkeit mit den Jahren generell abnehmen, stiften im Gegenzug Erfahrungen und Emotionen ganz neue kognitive Fähigkeiten. Vorausgesetzt, dass die Arbeit Spaß und nicht Stress bedeutet, sehen die Silverpreneure darum in der geistigen Herausforderung zu Recht einen Anti-Aging-Faktor.

Eine Frage drängt sich allerdings auf. Könnte es angesichts der schleichenden Umwidmung des Altersbegriffs nicht vielmehr geboten sein, eine Kultur des Pro-Agings zu kultivieren statt immer nur dem Anti-Aging das Wort zu reden? Ist mancher Jugendkult nicht in Wahrheit eine Trotzreaktion auf die Angst, die das traditionelle Schreckensbild des Alters immer noch verbreitet? Einiges spricht dafür. Und noch mehr, auch hier auf eine Eigenschaft zu setzen, die das Alter ganz besonders adelt: die Gelassenheit. Immerhin ist man nur dank ihr in der Lage, auch dann noch bei Laune zu bleiben, wenn das junge eines Tages doch vom alten Alter abgelöst wird.

Die gute Nachricht: Die heutige Seniorengeneration hat alles, was es dazu braucht. Denn die einst mit einem alternden Körper verbundenen Tabus – etwa in der Sexualität oder in der Mode – lösen sich auf. Die Modelkarriere der Mittsiebzigerin Eveline Hall, die der Designer Michael Michalsky mit 65 erstmals auf den Laufsteg schickte, wäre früher nicht möglich gewesen. Julia Twigg, Professorin für Altersforschung an der englischen University of Kent, macht dies am Einfluss der rebellischen Jugendkulturen des 20. Jahrhunderts fest. Ob die Studentenbewegung, der Feminismus oder der Punk: Die Milieus hätten soziale Normen aufgebrochen, und weil sie nun selbst in die Jahre kämen, trügen sie diese Freiheiten auch ins Alter.

Wann das Regiment des Alters beginnt, ist nach all dem so vage und so individuell verschieden wie nie zuvor. Und gerade deswegen scheint es besonders wichtig zu sein, prinzipiell ins Offene zu leben, an der Zukunft nicht weniger Freude zu haben, als an der Vergangenheit. Oder mit dem britisch-amerikanischen Anthropologen Ashley Montagu: »Ziel des Menschen könnte sein, möglichst jung zu sterben und das so spät wie möglich.« Vielleicht war es ja das, was Roger Daltrey von The Who damals meinte.