Après-Ski bis zwei Uhr nachts
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Après-Ski bis zwei Uhr nachts

DIE ZEIT, Nr. 5/2011

Après-Ski bis zwei Uhr nachts

 

In Klíny wird man selbst beim Wedeln von Karel Gott begleitet.

Was ist denn jetzt? Eben wäre es selbst dem größten Kitschfreund noch zu possierlich zugegangen. Im Hügelgewoge des sächsischen Erzgebirges posierten Rathäuser wie aus Lebkuchen, und die Dorfläden verkauften Nussknacker und Klöppeldecken. Dann ging es steil bergab auf die tschechische Seite des Gebirgsstocks. Und nun sieht es aus, als hätte ich von einer Volksmusiksendung des MDR in ein schwarz-weißes Sozialdrama gezappt.

Hinter den Zugfenstern breitet sich das Gewühl des nordböhmischen Braunkohlereviers aus. Fabrikschlote qualmen in den nassen Dämmerhimmel, auf den Straßen warten Frauen in pobackenkurzen Röcken. Der Blick auf die anderen Fahrgäste macht die Sache nicht besser. Ein Alter schraubt seinen Flachmann auf, neben ihm schläft ein Glatzkopf mit Bomberjacke. Fassbinder wäre begeistert. Aber ein Skiurlauber?

Ich bin unterwegs nach Klíny im tschechischen Erzgebirge. Dort verkauft man den Tages-Skipass für weniger als zwölf Euro – und hält damit den Rekord als Europas billigstes Skigebiet. Mir schwant, warum, als ich das Straßendorf mit einem Kleinbus erreiche, der hinter der Kleinstadt Litvínov in die Berge startet.

Die einzige Haltestelle von Klíny liegt mitten im Nichts. Ich steige aus, der Fahrer tritt wieder aufs Gas, es ist stockfinster. In der Ferne schlagen Hunde an. Schneegriesel piken im Gesicht. Doch irgendwo glimmt eine Leuchtschrift. Chata Emeran, lese ich. So heißt die Skihütte, wo ich eins von 22 Zimmern gebucht habe. Sie thront über dem Kopfende des längsten von Klínys vier Schleppliften.

Vom Fenster aus schaut man auf eine flutlichtblau leuchtende Abfahrt. Eine Pistenraupe bringt sie mit wütenden Ruckbewegungen wieder in Fasson. Irgendwann trollt sich das Gefährt, und ich schalte den schuhkartongroßen Fernseher an. Den Rest des Abends verbringe ich mit einem John Travolta in Frauenkleidern, der Tschechisch spricht.

Als ich morgens aufwache, hört eine Klospülung nicht auf zu rauschen. Dann merke ich, dass es gar kein Klo ist, sondern der Regen. Die Höchststrafe für jeden Skifahrer. Das kommt davon, wenn es billig sein soll und Wintersport unterhalb von 1000 Metern stattzufinden hat. Wolken wabern um dunkle Bergrücken. Dennoch rutschen die ersten Skifahrer herum. Aus den Lautsprechern, die an jedem zweiten Liftpfeiler hängen, plärrt die Achtziger-Jahre-Hymne Big in Japan. Karel Gott läuft später auch.

In der Gaststube, wo das Frühstück serviert wird, hängen Klínys Träume an der Wand: Fotos weltberühmter Gipfel vom Himalaya bis zu den Anden. Darunter hockt die Wirklichkeit. Zwei an ihren Zigaretten saugende Arbeiter in Latzhosen und eine halstätowierte Frau samt Tochter sind die einzigen Gäste. Die Bedienung ist bildhübsch, doch sie macht nichts draus. Ihre Füße stecken in Tennissocken und Gummilatschen.

Jetzt aber auf die Bretter! Ich bekomme sie im wimmelbunten Skiverleih von Mario. Der Schlaks mit dem Bartwuchs eines Arabers kann keinen Satz ohne Lausbubengrinsen sagen. Und Mario sagt viel. Ich habe die Stiefel noch nicht an, da weiß ich schon, dass hier vor 20 Jahren jeder Baum tot war, bevor die Wende neue Pflanzungen und Filter für die Kraftwerke brachte. Dass nebenan eine alte Flakstation stand, bis sie der reichste Mann Klínys zur Skihütte umbauen ließ. Dass die größte Fabrik im benachbarten Litvínov früher Hermann-Göring-Werke hieß und Benzin aus Braunkohle herstellte. Oder dass die berühmteste Tochter der Stadt das Topmodel Eva Herzigová ist. Doch als ich wissen will, ob sich ein Besuch dort lohne, macht Mario eine wegwerfende Geste.

Egal. Ich bin zum Skifahren hier. Und da gilt in Klíny: Wer schlecht fährt, hat es gut. Ich aber stehe nach 30 Sekunden wieder an einem der beiden Lifte, die heute in Betrieb sind. Wenigstens habe ich die Piste fast für mich allein. „An Weihnachten warteten die Leute noch 20 Minuten auf eine Fahrt“, sagt Liftmann Kryštof. Mit seiner wallenden Mähne und seinen sanften Augen würde er das Casting für die Jesusrolle eines Passionsspiels gewinnen. Als ich zum x-ten Mal auf sein Häuschen zusteuere, erbarmt er sich meiner. Sitzt plötzlich auf einem Schneemobil und zeigt auf den Soziussitz. Unter Gebrüll erwacht das Gefährt zum Leben, und der Jesus von Klíny bringt mich durch den Wald zu einer schwarzen Piste. Sie ist gesperrt, weil den Schneekanonen Wasser fehlt. Zweimal fahre ich ab und weiß nicht, was besser ist: die Abfahrt oder das Hochbrausen mit Kryštof. Aber ich weiß, dass der Tellerlift für mich jetzt nicht mehr infrage kommt.

In zwei Jahren wird der auch hier aus der Mode sein. Denn der reiche Mann von Klíny, von dem Mario heute früh erzählte, plant einen richtigen Sessellift. Josef Dlouhý heißt er. Mittags treffe ich ihn im Blockhaus der Skischule. Grau melierter Kurzhaarschnitt, penibel getrimmter Schnauzer, teure Skiklamotten – so sitzt der Multimillionär in einer Stube, deren Holzorgie an eine Sauna erinnert. Es riecht nach Kaffee und nassen Pullis, eine Katze hüpft auf die Fensterbank. Josef Dlouhý wirkt ein bisschen wie ein Politiker auf Wahlkampfbesuch. Er erzählt, wie er in der wilden Nachwendezeit mit Braunkohle Handel trieb, seine Firma für Millionen verkaufte und vor fünf Jahren begann, sein Heimatdorf zum Skigebiet auszubauen. „Geld können Sie damit nicht verdienen“, sagt er zum Abschied. Dann bückt er sich und klaubt ein weggeworfenes Bonbonpapier aus dem Schnee.

Fürs Lustigsein nach Liftschluss hat Josef die Ski Bar Tom and Jerry gebaut: ein gläsernes Rondell voller Eispickel, Sombreros und alter Röhrenradios. Außer mir und dem Kapuzenmädchen hinter der Theke ist heute Abend keiner da. Ich will schon wieder gehen, da platzen zwölf Tschechen herein. Das Mädchen dreht die Musik auf, zapft Biere, schüttet Birnenschnaps über Glasreihen. Schinkenplatten werden herangetragen, da schnappt mich eine Blonde mit einem Kinn wie ein Bug und pflanzt mich mitten in die Runde. Ein Mann mit karottenrot gefärbten Haaren stellt sich als Doktor Nowotny vor und verabreicht Jägermeister mit Red Bull. Im Handumdrehen riecht es in der Ski Bar, als habe ein Trunkenbold in ein Schnapsglas gehaucht. Keiner würde sich wundern, wenn der Glasklotz irgendwann in einem blauen Blitz explodierte. Als ich ihn wieder verlasse, ist es zwei Uhr morgens.

Anderntags hat Nebel den Regen abgelöst. Genau das richtige Wetter für meine Verfassung und einen Nachmittagsbummel durch Litvínov. Sechs Kilometer unter der Skihütte hält der Bus im Zentrum der Stadt mit 30.000 Einwohnern – und ich begreife, warum in Klíny oben niemand ein gutes Haar an dem Ort lässt. Im Pfützengeschlier stehen Imbissbuden neben Wettbüros und Läden, in denen man Bratpfannen und Wäsche kaufen kann. Die Kundschaft besteht aus Damen in Leopardenimitat und Herren in Camouflage. Ihre Bierbüchsen halten sie wie Handgranaten. An jeder zweiten Ecke hebt ein Kampfhund das Bein. Wie man im Internet lesen kann, soll es hier 2008 eine Straßenschlacht zwischen 1000 Polizeibeamten und 500 Faschisten gegeben haben. Von den Roma, denen es damals an den Kragen gehen sollte, ist nichts zu sehen.

Abends mixt der DJ der einzigen Disco Zigeunerjazz in seine Musik, und alles tanzt mit rudernden Armen. Hinter der Bar stehen Vietnamesinnen in Skianoraks und bedienen die gepiercte Jugend. Dazwischen hockt ein alter Zausel und senkt dann und wann sein zerklüftetes Gesicht in einen Bierhumpen. Plötzlich tauchen doch noch Romamädchen auf. Kichernd kaufen sie eine Flasche Wodka, während Jungs mit tschechischen und asiatischen Wurzeln sich ihre neuesten Tätowierungen zeigen. Als ich meinen Thekennachbarn gestikulierend um eine Zigarette bitte, schiebt er gleich drei über den Tisch und haut mir auf die Schulter. Da wird mir klar, was mir an Klíny und Litvínov gefällt. Hier bin ich kein Rädchen in einem Ferienapparat, der sich ganz auf meine vermeintlichen Bedürfnisse eingestellt hat. Hier bin ich so fremd, wie man auf Reisen fremd ist – und fühle mich doch willkommen.

Zum Abschluss leihe ich mir bei Mario Langlaufski und zische über den Erzgebirgskamm. Da reißt zum ersten Mal der Himmel über dem Braunkohlegebiet auf. Die Wasserlachen der Halden schimmern altrosa, blassblau und zitronengelb in der Sonne. Und Litvínov leuchtet.