Auf die Plätze!
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Auf die Plätze!

DIE ZEIT, Nr. 10/2006

Auf die Plätze!

 

Eine Woche wie die Profis: Mit dem BV 10 Remscheid ins Trainingslager an die türkische Riviera. Im Winter hat hier Fußball Saison

Armer Elefant. Fast möchte man ihn streicheln. Ihn trösten und ihm versichern, dass andere Tage kommen werden. Tage, die wieder nach Sonnenöl riechen. An denen quietschende Kinder seinen rosaroten Rüssel hinunterrutschen und Erwachsene unter der Fuchtel des Animateurbetriebs mit fünf Eiswürfeln im Mund um die Wette singen. Und tatsächlich wird schon im Mai alles wieder so sein, wie es sich für eine All-inclusive-Herberge gehört. Doch jetzt ist Februar, und der Kunststoffelefant mit dem Rutschenrüssel steht verlassen in einem Bassin. Traurig stieren seine Kulleraugen über das Gelände der Erholungsfestung Kaya Select an der türkischen Südküste. Blätter wirbeln herum, vereinzelte Hammerschläge krachen durch die Luft. Der Wind zerrt an den Plastikplanen der verrammelten Bars, und am Strand stechen die nackten Aluminiumstangen der eingemotteten Sonnenschirme wie Bajonette in den Himmel.

Gäste, die jetzt hierher kommen, haben Wichtigeres zu tun, als zu urlauben. An ihren Füßen klacken die Stollen von Fußballschuhen, und auf ihren adidas-Rücken prangen Vereinsnamen. „Moscow Academia“ steht darauf oder „Lokomotiv Chita“. „Denizlispor“, „Obolon Kiev“ oder „SV Markt Einersheim“. Das 346-Betten-Hotel im Ferienort Belek beherbergt dieses Jahr 65 der über tausend Fußballmannschaften, die von Januar bis März an der türkischen Riviera ihr Trainingslager aufschlagen. Die Wetterscheide des Taurusgebirges beschert der Gegend milde Winter mit Temperaturen von rund 15 Grad – und damit Fußballern ideale Bedingungen. Die Auslastung der Hotelburgen beträgt im Sommer etwa 95 Prozent. Durch den Fußball bringen sie es im Winter auf immerhin knapp die Hälfte.

Ein Heer von 18 Gärtnern pflegt fünf Spielfelder

Auf dem Rücken von Ramazan Dagdas steht „BV 10 Remscheid.“ Er ist der Trainer des Provinzvereins, der mit seiner ersten Mannschaft angerückt ist. Erst im vergangenen Jahr sei man in die Bezirksliga aufgestiegen und dort von allen belächelt worden, sagt der drahtige Türke aus dem Bergischen Land. Doch jetzt stehe man auf Platz sechs. Damit es weiter bergauf geht, ist er mit seinen Spielern hier im Trainingslager. Die Reise musste jeder selbst bezahlen in dem Klub, dessen Abordnung aus mehr als einem halben Dutzend Nationalitäten besteht. Da ist zum Beispiel Said, der marokkanische Hüne, der in der Abwehr humorlos zu Werke geht, aber sonst lieber einen Freund verliert, als einen guten Witz nicht zu reißen. Da ist Metin, der kompakte Türke mit den präzisen Pässen, der aussieht wie die brasilianische Fußballlegende Roberto Carlos und genauso aufbrausend ist. Und da sind die fünf Italiener, deren penibel getrimmte Bartkunstwerke anmuten wie mit Filzstift gezogene Kriegsbemalungen. Die Deutschen Tim und Daniel wirken fast phlegmatisch inmitten so viel südländischen Temperaments. Ramazan sieht sich darum auch als Psychologe. Die Exkursion soll das Team noch fester zusammenschweißen.

Vielleicht trat die Truppe deshalb schon beim Abflug in Düsseldorf an wie eine Brigade – alle in blauen Trainingsanzügen. Sie sind eine Dreingabe ihres Reiseveranstalters Öger Tours, der sich damit von der wachsenden Konkurrenz auf dem Fußballferienmarkt absetzen will. Begonnen hat alles vor fünf Jahren mit dem Turnier um den Efes-Cup in Antalya, an dem regelmäßig Spitzenklubs wie Borussia Dortmund oder Spartak Moskau teilnehmen. Öger Tours verwirklichte damals als Erster die Geschäftsidee, Trainingslager auch für Amateure einzurichten. Heute bieten rund 150 Veranstalter mehr als 300 Plätze in der Region an. Fast jedes Hotel sucht fieberhaft Grundstücke für neue Spielfelder. Und das, obwohl ihr Unterhalt in den glutheißen Sommern enorm aufwändig ist. Für seine fünf Fußballplätze beschäftigt das Kaya Select ein Heer von 18 Gärtnern.

Mit seinen bald sieben Golfanlagen genießt Belek den Ruf eines türkischen Marbella. In den Wintermonaten aber ist der Fußball die Sportart Nummer eins. Auch im neuen Haus der Rixos-Kette. Das Luxushotel ist das Paradebeispiel für die Anstrengungen des türkischen Tourismus, sich vom Image des Billigreiseziels loszusagen. Im vergangenen Juni eröffnete die mehr als 100 Millionen Euro teure Marmor-Orgie am Strand des Vorzeigebadeorts. Mit Hubschrauberlandeplatz, Shopping-Malls, 14 edlen Restaurants und Villen für 6000 Euro pro Nacht. Und natürlich mit Fußballfeldern inmitten duftender Pinienwälder, auf denen nur Spitzenvereine gegen den Ball treten. Damit das distinguierte Ambiente nicht von zu viel Sportlerschweiß entweiht wird, nimmt man nie mehr als zwei Mannschaften zugleich.

Für Luxushotels wie das Rixos Premium gilt ebenso wie für Beleks All-inclusive-Resorts: Ihre Gäste haben alles – außer einem Grund, die Anlage zu verlassen. Wer es dennoch tut, irrt durch eine Baustellenlandschaft, in der Lederwarengeschäfte, Töpfereien, Juweliere und Textilläden ihre immergleichen Waren feilbieten. Auch viele Apotheken sind darunter. Sie versorgen die betagten deutschen Langzeiturlauber mit Medikamenten gegen ihre Zipperlein. Drei Monate All-inclusive-Ferien in einem Fünf-Sterne-Haus kosten im Winter weniger als 1500 Euro. Dass die Architektur mancher Unterkünfte dieser Kategorie eher an Autobahnraststätten erinnert, stört bei solchen Preisen kaum jemanden. Und Fußballmannschaften erst recht nicht. Schließlich lenkt so nichts vom Wesentlichen ab: dem Trainingserfolg.

„Ein Testspiel gegen einen russischen Zweitligisten, das wär’s“, sagt Christian Kupfer und tranchiert mit seinen Handkanten die Luft. Das macht er gern: mit den Händen reden. Manchmal zieht der Remscheider Co-Trainer dabei seine Brauen in die Höhe und ähnelt dann Christoph Daum noch ein bisschen mehr. Doch anders als beim Starcoach mit Kokainerfahrung ist es allein die Droge Fußball, die Christians Augen zum Leuchten bringt. „Auch wenn es hart wird: Wann hast du als Amateur schon einmal die Gelegenheit, gegen solche Profis zu kicken?“, fragt er in rheinischem Singsang und stapft zum Training auf den Platz. Auf dem stellt Ramazan gerade Hütchen auf, und die Spieler machen sich mit Froschsprüngen warm. Auch Präsident Harald und Platzwart Udo sind samt Ehefrauen als Zaungäste erschienen. Sogar sie tragen die blauen Polyesteranzüge mit dem Emblem von Öger Tours.

Die Chancen für eine Partie gegen richtige Profis sind nicht schlecht. Immerhin spielt jeder zweite Fußballgast der Hotels in den bezahlten Ligen seines Landes. Viele kommen aus Russland und der Ukraine, wo die Winter hart und die Spielpausen lang sind. Die Türkei ist für sie nah und billig. In den Hotels hört man deswegen Russisch an jeder Ecke. Und man sieht sowjetisch anmutende Trainertypen mit finster entschlossenen Mienen. Wie ein Portier erzählt, lassen sie aus den Minibars der Spielerzimmer all die süßen Limonaden herausräumen. Etwas anderes als Wasser ist für ihre Schützlinge tabu.

Er habe nichts gegen Russen, aber deutsche Mannschaften sähe man hier nun einmal am liebsten, sagt Selçuk Yilmaz. Der junge Mann mit den fülligen Hüften und dem pausenlos klingelnden Handy ist einer der vielen Agenten, die zwischen den Teams und den Hotels vermitteln. Vereine aus dem ehemaligen Ostblock müssten oft 15 Prozent mehr bezahlen als etwa Hertha BSC Berlin oder die Stuttgarter Kickers. Denn die kostenlose Werbung durch die Presse-Entourage im Schlepptau eines Profiklubs sei in Deutschland besser platziert als in Minsk oder Saratow. Und diese Aussicht sei den meisten Hotels einen Rabatt wert, sagt Yilmaz.

Es kursiert das Gerücht, Handballerinnen seien im Hotel

Der Tag der Profis endet früh. Schon um halb elf Uhr abends liegen sie in ihren Betten und rekapitulieren Taktik und Spielzüge im Traum. Währenddessen tanzen Mannschaften wie der TSV Obertheres oder der FC Fiflisbach in der Hoteldisco. In Trainingsanzügen und mit Gummilatschen an den Füßen. Die Partys dort wirken so verrucht wie Geburtstagsfeiern in einem Rehazentrum. Andere sitzen Abend für Abend in der einzigen geöffneten Bar. Ihre Wände sind lindgrün getüncht und mit Bildern englischer Jagdszenen behangen. Immerhin ist das Bier umsonst. Wer hier am Tresen sitzt, merkt bald, wie viel Frauen zu einer gelungenen Atmosphäre beisteuern können. Denn es ist weit und breit keine einzige zu sehen. Und so kursiert irgendwann die Kunde, Handballerinnen seien im Hotel eingetroffen. Sie wird gierig weitergetragen, erweist sich dann aber als Gerücht. Aus Frust singt man abends die Vereinshymne noch ein bisschen lauter.

Manche Amateure nutzen die Trainingspausen für einen Ausflug. Schließlich sind die antiken Stätten von Perge oder Aspendos nur einen Katzensprung entfernt. Der Ballspielverein 1910 Remscheid aber fährt nach Antalya. Nicht wegen der lykischen Kultur, sondern wegen der vielen Basare, auf denen man die gefälschten Trikots von Ballack oder Beckham kaufen kann. Während der Bus durch eine mit Gewächshäusern zugestellte Landschaft kurvt, schnappt sich Damir das Mikrofon. Eine Aufgabe nimmt der makedonische Linksaußen besonders ernst: für Spaß zu sorgen. Er erzählt Witze über Türken und Italiener, über Marokkaner, Polen und Makedonier. Und keiner johlt weniger vergnügt, wenn die eigene Nation an der Reihe ist. Später auf dem Basar kommt es beinahe zu einer Schlägerei in einem Imbiss, als man für drei Döner-Brötchen mit 25 Euro zur Kasse gebeten wird. „Bergtürken!“, flucht Metin, und es dauert lange, bis der Zorn in seinen Augen verloschen ist.

Abends erscheint die Mannschaft in neu gekauften Hemden zum Essen. Man schaufelt sich Hackbraten auf die Teller und panierten Fisch, Bratkartoffeln und den in der türkischen Küche notorischen öligen Reis. Zum Schluss bedient man sich am nahezu torraumgroßen Dessertbuffet mit Süßigkeiten. Allein die Vorspeisen und eine einsame Schüssel mit Nudeln haben Ähnlichkeit mit der versprochenen Sportlernahrung. Dann redet der BV 10 Remscheid über das Match von morgen. Es ist das abschließende Testspiel, dessen Austragung Öger Tours seinen Kunden garantiert. Und wenn es eine Kellnermannschaft ist, die man für den Kick rekrutieren muss.

Tags darauf laufen keine Ober auf den Platz. Aber auch keine russischen Profis. Es geht gegen den SC Retz. Auf den Trainingsjacken der Niederösterreicher wirbt ein Winzer für seinen Wein. Doch die haben die Viertligisten nun genauso abgelegt wie ihre weinselige Gemütlichkeit, die sie beim abendlichen Kartenspiel in der Hotelkneipe verströmten. Es geht hart zur Sache. Ramazan dirigiert seine Jungs wie ein Karajan in kurzen Hosen. Von seiner einst so elastischen Stimme sind nach fünf Tagen Kommandogebrüll nur heisere Laute übrig geblieben. Doch das Trainingslager zeigt Wirkung: Said wirft sich wuchtig in die Flanken, der Pole Sebastian spielt giftig wie nie. Und Co-Trainer Christian, der den zu Hause gebliebenen Torwart vertritt, ist konzentriert wie weiland Toni Schumacher. Der zwang sich selbst bei Eckstößen des eigenen Teams, immer den Ball im Auge zu behalten. „Ich bin der Tiger, der Ball ist die Beute“, war sein Motto. Es scheint auch hier zu helfen. Nach 90 Minuten steht es eins zu null für Multikulti-Deutschland.

Nach dem Spiel traben die Helden von Belek der Sauna entgegen. Ein heftiger Wind fegt über die Hotelanlage. Es ist richtig kalt geworden. Von wegen mildes Klima. Im Hintergrund wogt ein stanniolpapierfarbenes Meer, leuchtet der einsame rosa Plastikelefant. Auch er scheint zu frieren. Plötzlich kommt einem Vladimir Nabokov in den Sinn. Der spielte im Berlin der zwanziger Jahre als Torwart. Der Fußball, so schrieb er damals, sei „eine windige Lichtung inmitten einer ziemlich wirrnutzlosen Zeit“. Es ist eine Erkenntnis, zu der man auch in den Februartagen von Belek gelangen kann.