Das erste Meer
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Das erste Meer

DIE ZEIT, Nr. 25/2007

Das erste Meer

 

Luxus für die Eltern und Spaß fürs Kind im Baby Club – kann man beides haben? Eine Woche mit einer Anderthalbjährigen im Club Med an der Algarve

Gleich am ersten Abend kommt es zum Äußersten. Ein Geburtstagskommando marschiert auf. Wild klatschend und mit Wunderkerzen bewaffnet, stampft es durch das Restaurant des Club Med. An der Spitze der Animateure in feuerroten Hemden erkenne ich Bruno, den Chef de Village. Gerade hat er uns noch ganz in Weiß auf der Eingangstreppe des Resorts willkommen geheißen. Jetzt trägt er einen ulkigen Frack und eine monumentale Torte. Er hält sie in die Höhe wie ein Priester die Monstranz. Mit jedem Schritt rückt die Kolonne näher. Plötzlich schießt mir ein fürchterlicher Gedanke durch den Kopf. Die meinen dich! Heute ist doch dein Geburtstag! Dann erhebt sich zwei Tische weiter schüchtern ein Greis. Binnen Sekunden verschwindet er in einer Brandung guter Laune und wird gefeiert wie der Olympiasieger eines Zwergstaats. Glück gehabt. Meine Muskeln entkrampfen sich, und auch meine Ehefrau guckt erlöst. Doch zwischen uns sitzt jemand mit weit aufgerissenen Augen. Jemand, dem es gefallen hätte, wäre die rhythmisch applaudierende Woge an unserem Tisch gestrandet: Viktoria. Die ist anderthalb Jahre alt und unsere Tochter. Und für sie gilt: Je bunter, lauter und turbulenter, desto schöner.

Der beste Weg, Kinder zu erziehen, besteht darin, sie glücklich zu machen. Das sagt nicht irgendwer, sondern immerhin Oscar Wilde, der gleichzeitig Hedonist und Vater zweier Söhne war. Vielleicht wäre er ja auch mit ihnen in einen Club gefahren. Denn dort verlegt man sich zunehmend auf generationenübergreifenden Frohsinn. Vielleicht ist das Ende des kinderlos-kühnen Reiselebens ja gar nicht so schmerzlich wie befürchtet. Also auf zu Animation und Kinderbetreuung in den portugiesischen Club Med in Da Balaia. Der repräsentiert mit seinen vier Dreizacken die höchste Komfortklasse des Unternehmens und steht für seine vor drei Jahren ins Leben gerufene Luxusstrategie. Bis Ende 2008 will Club Med zwei Drittel seiner Anlagen auf gehobenes Niveau trimmen. Und weil der französische Club-Mythos seit Kurzem auch die Familien stärker ins Visier nimmt, hat sich schon die Hälfte aller Resorts kinderfein gemacht. Da Balaia an der Algarve gehört dazu.

Als wir den Club betreten, staunen wir. Weit und breit ist nichts zu sehen von jener rabiaten Buntheit, wie wir sie in einer kindgerechten Ferienfestung erwartet haben. Keine Plastikmonster, keine lollibunten Rutschen, keine Hüpfburg. Noch nicht einmal ein Kinderbecken. Stattdessen fingergliedkurz gehaltener Rasen, ausladende Pinien und weiße Bänke in einem Park über dem Atlantik, durch den abends klassische Musik säuselt. Und in den Hotelräumen herrscht ambitionierter Kolonialschick. Indonesische Malereien und extravagante Leuchten, blau getünchte Wände und afrikanische Masken kontrastieren mit abstrakten Gemälden. Toll sieht das aus. Doch wenn Viktoria mit wirren Locken und windeldickem Hintern johlend durch diese Designwelt rast, meint man, eine Kleinkindversion von Shirley Temple hätte sich in einen David-Lynch-Film verirrt.

Inmitten all dieser Distinguiertheit wirkt die Kinderecke des Restaurants wie ein Reservat. Unter pastellfarbenen Mobiles stehen dort ewig bekleckerte Babyhochsitze und lustig gedeckte Tische. Einige von ihnen haben Zwergenmaß und werden von puppenstubengroßen Stühlchen gesäumt. Darauf sitzen jetzt Erwachsene wie Gullivers und balancieren Pampen in hin und wieder gnädig hingehaltene Mündchen. Viktoria aber ist nach dem Einsatz der Geburtstagsdelegation für so etwas nicht mehr zu haben. In der Mitte des Raums hat sie diesen riesigen Fischfriedhof entdeckt. Aufgebahrt auf Eiswürfelbetten, glotzen dort heute möbelstückgroße Thunfische aus glasigen Augen, grinsen tote Meeresungeheuer mit überbreiten Mäulern. Immer wieder muss sie hin und mit ihren Fingerchen staunend über die Zahnreihen der Fische fahren. Da kommt kein Zoo mit. Also sitzen wir in verkrampfter Jockeyhaltung am Tisch, um der Kleinen jederzeit hinterherspurten zu können. Denn wenn man nicht schnell genug ist, kann es passieren, dass sie durch die vielen Türen in die Küche verschwindet. Oder auf steile Treppen. Oder in den Pool.

Jetzt mal im Ernst: Das soll kinderfreundlich sein? » Aber ja«, sagt der Clubchef Bruno Ibanez, den ich anderntags in seinem Büro treffe. Bruno ist ein nervöser Mittdreißiger mit pechschwarzen Haaren und merkwürdig scheuen Augen. Kleine Kinder und coole Eleganz für Erwachsene das zusammenzubringen sei ja gerade das Einmalige an diesem Konzept. Da Balaia gehört zu den vier Club-Med-Anlagen, die im vergangenen Jahr aufgerüstet haben, um auch den Ansprüchen der Allerjüngsten zu genügen. Damit unterhalten jetzt elf von insgesamt 80 Resorts einen Baby Club für Kinder von vier bis 23 Monaten. Außerdem gibt es hier wie in 28 weiteren Dörfern einen Petit Club für Zwei- bis Vierjährige. Der Erfolg spreche für sich, meint Bruno und zeigt das branchentypische Wellenreiterlächeln. »Die Resorts mit Kleinkinderbetreuung sind zu einem Drittel besser ausgelastet als vorher.«

Das Zusammenbringen beider Welten ist aber eher ein Trennen. Entrückt in einem kleinen Wäldchen liegt die schneewittchenweiß getünchte Kinderburg, in der die beiden Clubs und ihre Betreuerinnen residieren. Die jungen Frauen kauern inmitten von Bergen nagelneu leuchtenden Spielzeugs und tragen Schildchen mit Nationalflaggen an ihren Trikots.  Jede Fahne steht für eine Sprache, die sie sprechen. Theoretisch. Um zum Beispiel das gehauchte Englisch von Elodie zu verstehen, braucht man das Gehör eines Klavierstimmers. Tatsächlich beherrschen die meisten nur Französisch. Schließlich ist der Club Med fest in gallischer Hand. 60 Prozent der Urlauber seien Franzosen, erzählt Bruno. Die gefühlte Quote liegt bei mindestens 90.

Die angehende Lehrerin Silvia aus Porto jedoch parliert fließend Englisch und singt wunderschöne portugiesische Kinderlieder. Doch selbst die sind machtlos gegen Viktorias Protest, als wir nach einer Stunde verschwinden wollen. Ihr Gebrüll hat die Wirkung einer Lawine. Im Nu schreit der ganze Pulk. Die Kindheit ist doch ein grausames Gelände, denke ich. Und dass man die Nerven dieses Pariser Paares im Tennisdress haben müsste, das sich so blitzschnell von seinem greinenden Sohn verabschiedet, wie es mit ihm aufgetaucht ist. Es sind diese typisch französischen Nerven, von denen Silvia erzählt. Französische Gäste gäben ihre Kinder frühmorgens pünktlich zur Öffnung des Baby Clubs ab und holten sie keine Minute vor seiner Schließung um halb sechs Uhr am Abend. Niemand von denen erkundige sich zwischendurch nach seinem Sprössling, sagt sie. Andere Nationen seien da viel besorgter.

So wie wir. Die Eltern vom Gewohnheitstier Viktoria. Wie lange schreit sie? Isst sie genug? Schläft sie? Wirkt der verabreichte Apfelsaft gegen ihre Verstopfung? Erst als wir mittags ohne Kind durch die Buffetlandschaften wandern, seufzen wir vor Erleichterung. Endlich Muße. Endlich würdevoll speisen. Endlich Zeit, sich in der Kunst zu üben, die es braucht, um das Spektakel der Maßlosigkeit zu meistern. Der Club Med hat das Buffet nicht erfunden. Aber er hat die Entfaltung seiner ganzen Pracht als Revolution inszeniert. Seit mehr als einem halben Jahrhundert versteht sich das Club-Med-Buffet als Gegenpol zum kleingeistigen Portionierungsterror. Uns soll es recht sein.

Nach dem Essen geht es ans Meer. Man erreicht es über eine Treppe durch die roten Felsen. An ihrem Fuß steht ein finster dreinblickender Wachmann. Ach ja. Fast hätten wir es vergessen. Die Entführung des britischen Mädchens vor sechs Wochen aus einem Ferienapartment an der Algarve. Der Club hat seitdem die Zahl der Wachen verdoppelt. Ein halbes Dutzend von ihnen steht jetzt an ausgewählten Punkten. Aber die Hotelmanagerin Nicolette bewahrt die Ruhe. »Eigentlich ist das Unsinn«, sagt die hünenhaft gewachsene Holländerin. Schon vorher sei die Sicherheit hundertprozentig gewesen. »Jetzt ist sie eben hundertfünfzigprozentig.«

Die Tage am Meer sind herrlich. Man wird ja mit dem Hinschauen gar nicht fertig. Das Starren auf die grün-weiß herankrachenden Atlantikwellen zaubert uns eine hypnotische Leere in den Kopf. Nachmittags kommt Bruno mit Kuchen an den Strand, und wir verplempern die Stunden nach Leibeskräften. Der Club mag berühmt sein für ein riesiges Sportangebot. Doch das soll nutzen, wer will. Unser Sport ist das Verdauen. Eine geistesabwesende Zufriedenheit macht sich breit. Irgendwann aber lässt sich ein Gedanke nicht mehr vertreiben: Können wir hier liegen, während unser Kind in einem Plastikauto über den bunten Gummischnitzelboden des Baby Clubs rutscht? Unmöglich. Das ist doch ihr erstes Meer! Also wird Viktoria geholt. Und es ist wunderbar. Sie rennt im Zickzack, buddelt im Sand, quiekt vor Vergnügen. Selbst gegessen wird hier ohne Tamtam. Am Abend dann, wenn die Sonne ihr Gold über die Felsen schüttet und den Menschen gelbe Gesichter malt, füttert sie mich Beere für Beere mit Trauben. Es ist ein archaisches Innigkeitserlebnis.

Der Einfluss des Meeres macht Kinder friedlich. Auch unsere Tochter. Es ist, als spüre sie, dass sie gegen die Gewalt des Ozeans nicht ankommt. Dass er stärker ist als ihre Eltern, diese Sparringspartner zur Erprobung der wachsenden Kräfte. Viktorias bevorzugter Fechtboden sind die Themenbuffets. Es gibt arabische, mexikanische oder portugiesische Abende. Heute ist Frankreich dran. Das Restaurant ist behängt mit gigantischen Trikoloren, als erwarte man Nicolas Sarkozy zum Bankett. Um Viktorias Hunger nach immer neuen Eindrücken zu stillen, reiche ich ihr eine Garnele, die sie zwischen ihren Fingerchen hält und betrachtet wie ein hässliches Insekt, dann aber vollständig aufisst. Die Froschschenkel erspare ich ihr. Aber das Fuchteln mit diesen langen Beinchen und das Quak-quak-Rufen kann ich mir nicht verkneifen. Zu viel Sonne macht kindisch. Viktoria auch. Schon wieder greift sie nach meinem Weinglas. Die französischen Kinder tun das nie. Überhaupt geht von ihnen eine fast gespenstische Ruhe aus. Man sieht auch, warum. Ihre Eltern patschen selbst Babys aufs Händchen, sobald eine Gabel auf den Terrakottaboden klirrt. Von wegen Laisser-faire. Ist Frankreich deswegen eines der fruchtbarsten Länder Europas, während unsere Geburtenrate auf den niedrigsten Stand seit 1946 gesunken ist?

An jedem weiteren Morgen werden Viktorias Trennungsjeremiaden im Baby Club kürzer. Dennoch holen wir sie immer früher ab. Denn nichts ist schöner, als spätnachmittags an der Poolbar zu erscheinen, die Kleine auf den Tresen zu setzen und Gin Tonics zu trinken, während sie vergnügt mit den Gästen flirtet. Vor allem diese kanarienvogelhaft überschminkten alten Französinnen haben es ihr angetan, die aussehen, als wären sie in den fünfziger Jahren in weißen Cabrios durch Monaco gefahren. Es ist ganz anders, als wir dachten. Kinder sind nicht peinlich. Sie machen stolz wie nichts sonst.

Ein bisschen peinlich wird es erst später, als an der Poolbar die »Memories-Party« mit Siebziger-Jahre-Motto steigt. Dann rücken die Animateure mit Polyesterperücken, Schlaghosen und tellergroßen Sonnenbrillen an und tun so ekstatisch, als wären sie zu allem bereit. Aber es ist nur ein drolliger Mummenschanz. Auf der Bühne steht Bruno wie ein Prinz Karneval im Leopardenkostüm und schreit I cant get no satisfaction in ein unterarmlanges Mikrofon. Mit seinem französischen Akzent klingt das wie ein Kinderlied.

Keiner der Gäste wird vom Barhocker gezerrt und zum Luftgitarrensolo gezwungen. Diese Zeiten sind vorbei. Seit man ein Vier-, Fünfsterneniveau anstrebt, halten sich die G.Os zurück. Das Kürzel steht für Gentils Organisateurs und bezeichnet im Club Med die Animateure. Sie sollen die Gäste jetzt eher zum Mitmachen einladen und nicht allzu direkt agieren, erklärt Dorfhäuptling Bruno. Dabei bewegen sich die »Freundlichen Organisatoren« nach der Logik von Kellnern durch die Ferienmaschinerie. Zwar mit aufgewecktem Charme und wachem Blick für die Wünsche der Gäste. Doch das Heft des Handelns ist ihnen entwunden.

Der Tag nach der Memories-Party ist unser letzter im Club. Wieder wollen wir Viktoria früher aus ihrer Kinderenklave befreien. Doch als wir kommen, sehen wir sie in ihr Spiel versunken wie noch nie. Minutenlang verharren wir geduckt hinter dem hüfthohen Mäuerchen, das den schattigen Innenhof des Baby Clubs umfasst. Mit einer Emphase, wie sie wohl nur Eltern empfinden können, beobachten wir unsere Tochter. Dann beschließen wir, wieder zu gehen. Um Punkt halb sechs werden wir zurück sein. Keine Minute früher.