Das Übermaß aller Dinge
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Das Übermaß aller Dinge

DIE ZEIT, Nr. 43/2006

Das Übermaß aller Dinge

 

In Shanghai tragen die internationalen Hotelketten ihren Machtkampf aus – mit den besten Küchenchefs, den teuersten Fuhrparks, den schönsten Begrüßungsdamen.

Es sind nicht die Cocktails, die in der Jade-on-36-Bar des Shangri-La-Hotels betrunken machen. Es ist der Blick durch die Glaswände. Diese Aussicht auf ein außer Rand und Band geratenes Beleuchtungstheater. Dieses 150 Meter hohe Schweben im Neonrausch einer endlosen Wolkenkratzerbrandung. Stundenlang kann man hier sitzen und schauen und staunen über die nichts als elektrische Nacht von Shanghai. Und jetzt leuchtet auch noch das Mobiltelefon von Alain Brière. Eine SMS. Das Forbes Magazine habe gerade das Shangri-La zum besten Hotel der Stadt gewählt, meldet das Display. Der nervöse Marketingdirektor von Shanghais größter Herberge rutscht auf die Stuhlkante. Lächelnd reicht er seinem General Manager das Handy. Der heißt John Rice und wirkt so jungenhaft verschmitzt, als hätte sich Tom Sawyer in einen Maßanzug geworfen. Natürlich lächelt auch er. Alain und John heben ihre Gläser und zwinkern sich zu. Zufriedene Männer, die sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort wähnen. »This is the place to be«, sagt der Hotelboss mit der ganzen Kraft seines australischen Akzents. »Definitely.«

Wie kaum an einem anderen Ort lässt sich in Shanghai der Schöpfungsakt einer Stadt aus sich selbst erleben. Nachdem der damalige Ministerpräsident Deng Xiaoping Shanghai 1990 zur Sonderwirtschaftszone erklärt hat, ist Chinas größte Stadt das Symbol für die Wiedergeburt des bevölkerungsreichsten Landes der Erde. Und für seinen Traum von Größe. Mitte der neunziger Jahre soll hier ein Drittel aller Hochkräne der Welt im Einsatz gewesen sein. An jedem Tag fielen 30000 Tonnen Bauschutt an. Und es hört nicht auf. Unentwegt erfindet sich die Megalopolis neu. Gegenwärtig gibt es fast 6000 Hochhäuser in Shanghai – und 21000 Baustellen. Auf ihnen hämmern und schweißen rund um die Uhr drei Millionen Wanderarbeiter. Sie sind das rechtlose Treibgut einer neuen, gnadenlos kapitalistischen Revolution, die Shanghai zur Stadt der Zukunft machen soll.

Das Shangri-La war 1998 der Pionier unter den Hotels in Pudong, jener irrwitzigen Reißbrettstadt am Ostufer des Huangpu, wo sich vor gerade einmal 15 Jahren nichts als ödes Brachland erstreckte. Heute sieht Pudong mit der Comicrakete des Oriental Perl TV Tower und dem Gebalze seiner Wolkenkratzer aus wie Donald Ducks Traum von der Zukunft. Hier findet 2010 der Hauptteil der Expo statt, mit 200 Teilnehmernationen soll es die größte Weltausstellung aller Zeiten werden. 65 Millionen Besucher werden erwartet. »Eine wunderbare Herausforderung«, findet John Rice. Sein Hongkonger Konzern wird darum 2009 in Pudong ein weiteres Hotel mit 820 Zimmern und 22000 Quadratmetern Veranstaltungsfläche fertig gestellt haben. Es wird neben dem Shanghai New International Exhibition Centre stehen, dem dann größten Ausstellungszentrum Asiens. Und viele weitere Hotels sind dabei. In Sichtweite des Shangri-La ziehen derzeit vier Luxusherbergen ihre Türme hoch, darunter Ritz-Carlton und Four Seasons.

Pro Jahr entstehen in Shanghai rund 6000 zusätzliche Hotelbetten. Das sind mehr, als Dortmund besitzt. Jedes zweite entfällt auf das Fünf-Sterne-Segment, das ein knappes Viertel der gesamten Kapazität bereitstellt. 29 Luxusunterkünfte gibt es schon heute unter Shanghais 354 Hotels, und allein in den nächsten anderthalb Jahren werden sechs dazukommen. Dass in ihnen 2005 zum ersten Mal weniger Gäste übernachteten als im Vorjahr, schreckt Männer wie John Rice wenig. In seinem Hotel sind durchschnittlich 90 von 100 Betten belegt, die Auslastung der First-Class-Häuser insgesamt liegt immerhin bei 75 Prozent. Und die Zimmerpreise klettern weiter. Dass man die Sogwirkung der Expo überschätzen könnte, ist ein Gedanke, der Shanghais Hotelmanager so wenig interessiert wie Spieler auf der Siegerstraße die Mahnungen ihres Über-Ich.

Die Architekten bauen fast ohne Auflagen

Shanghais Hotelszene vibriert vor Tatendrang. Dabei ist die Stadt nicht für Touristen gemacht. Sehenswürdigkeiten gibt es wenige. Unter siebenstöckigen Autobahnkreuzen macht ein bestialisches Verkehrschaos Jagd auf Flaneure, die in Imbissketten und triviale Shopping-Malls fliehen. Andere Zufluchtsorte gibt es kaum. Und um Taxi zu fahren, muss man sich als Ausländer mit Adressen in chinesischer Schrift bewaffnen. Es hilft nichts: In der 18-Millionen-Metropole geht es nicht um Menschen. Es geht um die Inszenierung des Fortschritts. Und ums Geschäft. Das Wirtschaftswachstum der Stadt ist seit einer Dekade zweistellig, keine lockt mehr Kapital aus dem Ausland an. Und das, was in Amerika die Golfplätze, sind in Shanghai die Hotels: jene Orte, in denen die Verträge ausgehandelt werden. Immer wieder kann man dort beobachten, wie westliche Geschäftsreisende aus den separaten Bars schleichen und zerknirscht an ihren Zigaretten saugen. Dann knipsen sie wieder ihr Lächeln an und kehren zurück in den Clinch der Kulturen.

»Geld machen, Geld ausgeben, sein Gesicht wahren – das liegt uns im Blut«, sagt eine Angestellte des Regal International East Asia Hotel über ihre chinesischen Landsleute, die fast über Nacht vom grauen Reich des Mangels in eine Welt des Luxus und der Statussymbole katapultiert wurden. Es ist eine verwirrende Welt. »Brand is quality« lautet ihr Axiom, das nicht zuletzt für die Hotelwahl gilt. Ihm müssen auch Geschäftspartner folgen, wenn sie ernst genommen werden wollen. Darum geben in Shanghai internationale Ketten mit goldgelackter Fünf-Sterne-Noblesse den Ton an, nicht Design- oder Boutiquehotels. Und tatsächlich passen ihre Lobbys und Pianobars in ihrer distinguierten Entrücktheit perfekt zu einer Stadt, die keinem Stilprinzip folgen mag. Die Architekten bauen hier fast ohne Auflagen. Doch ihre Luxushotels wirken so atemberaubend wie austauschbar.

Es ist das erklärte Ziel der Stadt, hier die Zukunft der Welt zu entscheiden. Schnell begreift man: Shanghai meint es ernst. Denn wie sonst soll man die allgegenwärtige Vernarrtheit in Superlative verstehen, die doch nichts anderes ist als die Gier nach Machtsymbolen? Nirgendwo sonst lässt sich diese Passion grandioser erfahren als im höchstgelegenen Hotel der Welt. Es ist das Grand Hyatt zwischen dem 53. und 87. Stockwerk des Jin Mao Tower. Der Turm ist eine filigrane Schönheit von nahezu bedrohlicher Kälte und mit 420,5 Metern das höchste Gebäude Chinas. Er steht wie kein zweiter dafür, dass sich die Stadt am amerikanischen Gigantismus orientiert und nicht an Europa mit seinen zersplitterten Energien. Sein Erbauer, das chinesische Außenhandelsministerium, rühmt den Turm als das »Schwert, das Shanghai bewacht«. Doch schon 2008 wird er seinen Rang verlieren. Denn gleich nebenan wächst das Shanghai World Finance Building in die Wolken. Es wird wie ein gewaltiger Flaschenöffner aussehen und in seiner um 71,5 Meter höheren Spitze ein Park-Hyatt-Hotel aufnehmen.

Vor den 61 Aufzügen des noch amtierenden Weltmeisters stehen Damen in Stewardesskostümen und jagen die Lifte in neun Metern pro Sekunde zur höchst gelegenen Lobby der Welt. Zur höchsten Bar, zum höchsten Swimmingpool, zum höchsten Fitness-Raum. Der Gast des Grand Hyatt kennt all diese Rekorde. Doch keiner bereitet ihn auf das vor, was ihn erwartet, wenn er in einem der Grand River View Rooms oberhalb des 80. Stocks die Vorhänge zur Seite surren lässt. Dann wirkt der Blick über den himmelsstürmenden Spargelwald wie ein Schock. Man schafft es nicht, seinen Koffer auszupacken. Man muss schauen. Beim Zähneputzen, beim An- und Auskleiden, beim Telefonieren. Immer nur schauen.

Wie ein Alpinist, der auf dem Gipfel die Namen der umliegenden Berge aufsagt, kann man hier die Wolkenkratzer identifizieren. Zum Beispiel anhand der Hotels, die in den obersten Stockwerken thronen, um Prestige zu spenden. Man erkennt das Le Royal Méridien mit seinen fabrikschlothohen Masten oder die Betonblume des Westin-Hotels. Den schlanken Zeigefinger des Four Seasons oder das Radisson, auf dessen Turm eine blinkende Riesenschüssel hockt, als sei gerade ein Ufo gelandet. Und nur ein paar hundert Meter weiter sticht die ergreifend schöne Pyramide des JW Marriott in den Himmel. Hotelgästen steht dort die höchstgelegene Bibliothek der Welt offen. Sein Fundament indes hat den ersten jüdischen Friedhof der Stadt unter sich begraben. Was niemanden kümmert. Denn Shanghai will nichts von seiner Vergangenheit wissen. Im Gassengewirr der letzten alten Viertel sieht man Bewohner im Pyjama umherschlendern und Menschen vor Hauseingängen essen, hört Vögel zwitschern und Mah-Jongg-Steine klacken. Doch neue glitzernde Riesen werden diese Mikrokosmen zertrampeln. So wie jene 20000 Quadratmeter große Fläche mit Altbauten, die seit 1988 bereits dem Prospektglanz weichen mussten. Die Erinnerung der Stadt verliert sich in einem Ozean aus Stahl, Glas und Beton.

Shanghai ist der Catwalk des modernen China. Die vielen Hotelkonzerne rivalisieren auf ihm wie eifersüchtige Mannequins. Man kämpft mit den besten Küchenchefs, den teuersten Fuhrparks, den schönsten Begrüßungsdamen um die Gäste. Ralph Grippo tut dies mit seiner Ausdauer. Der smarte Kalifornier arbeitet als Area General Manager des Ritz-Carlton und hat den General Manager’s Power Run gegründet. Morgens um halb sechs Uhr joggt der Marathonläufer mit Gästen durch den ewigen Smog Shanghais.

Polierte Teakholzsäulen und grünes Glas verleihen dem Ritz-Carlton die Coolness eines Miles-Davis-Songs. Doch weder das Design noch die Jagd nach Superlativen seien die Felder, auf denen Shanghais Hotels in Zukunft um die Krone fechten würden, sagt Grippo und rückt seine randlose Brille zurecht. Den Unterschied mache vielmehr die Kreativität des Service. Nur sie könne Alleinstellungsmerkmale schaffen. Ralph Grippo weiß, dass er mit dieser Haltung die Achillesferse der Shanghaier Hotellerie trifft. Sie besteht aus dem Mangel an Personal, das diesen Service garantieren kann.

Asiatische Länder wie Indien sind berühmt für ihre Tradition als Gastgeber. China gehöre nicht dazu, meint Peter Chau. Der Chef des Grand Hyatt vermutet, dass die verhätschelnde Ein-Kind-Politik des Staates die Lage verschärft habe: »Für junge Leute gibt es jetzt unzählige Möglichkeiten. Aber sie verstehen diese Industrie nicht. Andere zu bedienen ist für sie ein Job, kein Beruf. Und wer sich in Shanghai dennoch für unser Geschäft entscheidet, will schnell eine Visitenkarte mit irgendeinem Managertitel.« Unter den Hotels tobt darum ein vehementer Abwerbekampf. Die meisten setzen auf interne Ausbildungen, um die Identifikation der Mitarbeiter mit der eigenen Marke zu stärken. Und nach Jahren dürftiger Saläre steigen jetzt auch die Gehälter. Doch die Erfolge sind bescheiden. Die Infrastruktur wachse zu schnell, klagen viele, die Köpfe kämen nicht hinterher.

Um diese Köpfe kümmert sich jetzt Xingfang Wu. Die 70-jährige Professorin mit den Lachfalten hinter ihren großen Brillengläsern gehört zu den Initiatoren einer neuen privaten Hotelfachschule. Am 28. September begann die dreijährige Ausbildung einer Pilotklasse von 30 Schülern. Sie sollen nicht nur das korrekte Ansetzen des Putzlappens unter der Toilettenschüssel lernen, sondern vor allem die richtige Attitüde. Dies sei der Unterschied zu anderen Touristikkursen, die an mehr als 1000 Instituten im ganzen Land angeboten werden. »Wir müssen die Chinesen für den Charme und die nötige Professionalität dieses Berufs begeistern«, sagt Wu. Dann könnte auch das eintreten, was Ralph Grippo voraussagt: dass Chinas Hotels bald zu den besten der Welt gehören werden.

»Bedienen ist für die jungen Leute hier ein Job, kein Beruf«

Diesen längst verblichenen Ruf beschwört die alte Garde der Shanghaier Hotels. Zum Beispiel das Astor House mit seinen stöhnenden Parkettböden hinter der Neorenaissance-Fassade oder das Peace Hotel aus dem Jahr 1929. Es liegt am Bund, jener Prachtpromenade, an der Engländer, Amerikaner, Franzosen und Japaner ihre Konzessionen besaßen und sich mit immer neuen Türmchen und Kuppeln, Säulen und Skulpturen auszustechen versuchten. Die Halle und die Bankettsäle des majestätischen Gebäudes sind großartige Monumente des Art déco. Doch trotz mehrerer Renovierungen riecht es in ihnen, als habe man gerade in einer feuchten Garage Weihrauch angezündet. Dass außer der zuständigen Behörde niemand die fünf Sterne des Peace Hotel für gerechtfertigt hält, liegt jedoch vor allem am sozialistischen Mief, den sein Service verströmt. Sein Direktor stand hier schon während der Kulturrevolution in Lohn und Brot.

Das Peace Hotel gehört wie andere Heritage-Hotels zur staatlichen Jin-Jiang-Gruppe, die in China 220 Häuser betreibt. Darunter sind zahlreiche Zwei- und Drei-Sterne-Hotels, die ihre Lobbys mit künstlichem Marmor und falschem Blattgold auf das trimmen, was man in der Branche für den Ausweis von Luxus hält. An vielen ihrer Rezeptionen verpuffen allerdings selbst simpelste englische Verständigungsversuche. Aber das soll sich ändern. Wie Jin Jiang behauptet, feile man an seiner Internationalisierung und dem Image eines weltweit anerkannten Hotelkonzerns.

Dass die Reputation der Marke über alles geht, weiß auch Thomas Schmitt-Glaeser, der deutsche Food-&-Beverage-Manager des Shangri-La. Kein anderes der in China aktiven Hotelunternehmen betreibt ähnlich viel Werbung und Öffentlichkeitsarbeit. Gerade nimmt er mit einem Journalisten einen Drink in der Bar Rouge am Bund. Sie ist der berühmteste Tummelplatz der nouveaux riches. Alle sind da. Die lauten Businesshelden, die kühnen Huren, die Dandys mit der Sonnenbrille im Haar. Wohl nirgendwo sonst ist Shanghai eifriger damit beschäftigt, wieder in die Umlaufbahn seiner dekadenten dreißiger Jahre einzuschwenken. Plötzlich leuchtet Schmitt-Glaesers Blackberry. Das tut er alle fünf Minuten. In einem seiner zwölf Restaurants und Bars hätten gerade chinesische Geschäftsleute an einem einzigen Tisch Beluga-Kaviar für 7600 Euro bestellt, verrät die E-Mail eines Mitarbeiters. In Schmitt-Glaesers Gesicht prangt ein breites Grinsen. Bescheidenheit sieht anders aus. Doch die mag in Europa eine Tugend sein. In Shanghai ist sie es nicht.