Die Fritten
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Die Fritten

DIE ZEIT, Nr. 25/2018

Die Fritten

 

Es gibt Gerichte, die um die Welt gehen. Wir reisen dorthin, wo sie herkommen. Diesmal nach Belgien

Die Frittenbude sieht aus wie eine Frittenbude, aber ihr Name klingt nach Haute Cuisine: Maison Antoine. Der Laden auf der Brüsseler Place Jourdan gilt als der Nabel der Pommes-frites-Welt. Keine andere Pommesbude in Belgien kann sich einer vergleichbar langen Schlange rühmen. Angela Merkel stand hier schon im Fettdunst, und auch König Albert II. feierte seinen Siebzigsten mit Fritten des Maison Antoine. Das hat die sonst so unpatriotischen Belgier dann doch ein bisschen beeindruckt. Denn wenn es etwas gibt, was die gespaltene Volksseele von Flamen und Wallonen einen kann, dann ihre Frittenversessenheit.

Weil in den Wintern der 1650er Jahre der Fluss Maas zufror, sollen wallonische Fischer Kartoffelstäbchen statt Fische frittiert und so das Gericht erfunden haben. Die Legende ist tausendfach kolportiert. Aber leider Mumpitz: Die ersten Kartoffeln erreichten die Wallonie erst Anfang des 18. Jahrhunderts. Die Fritte ist eben ein Kind der Straßenküche, ihr Ursprung schwer zu ergründen. Doch nirgendwo wird sie so sehr verehrt wie in Belgien, wo es rund 5.000 Pommesbuden gibt. Jede zweite Familie isst dort einmal pro Woche Fritten, und zwar als Hauptmahlzeit statt als Beilage.

Nach einer halben Stunde in der Schlange bin ich endlich dran und bestelle meine Portion nature, Pommes pur, ich will noch keine Soße. Der Friturist rollt eine Papiertüte zusammen und schaufelt die Stäbchen hinein. Dann salzt er sie und überreicht mir das Füllhorn beidhändig, als beschenke er ein Kind. Ich merke sofort: Das hier hat mit den vorgekochten, dehydrierten und tiefgefrorenen Freibadsattmachern zu Hause nichts zu tun. Die Pommes aus frischen Kartoffeln sind dicker und haben eine sattgoldene Kruste, die den Zähnen einen fast frivolen Widerstand bietet. Beim Zubeißen platzen sie auf und geben ein flaumiges Innenleben frei. Es zergeht auf der Zunge wie Püree. Der Geschmack? Erdig und würzig. Vielleicht etwas talgig. Und ist da nicht auch ein Haselnussaroma?

Frites acceptées steht auf den Schildern der Kneipen ringsum – man darf sie mit reinnehmen, wenn man ein Bier trinken will. In einem Lokal treffe ich Bernard Lefèvre. Der Makler ist Chef des Verbands der belgischen Pommesbudenbetreiber und hatte früher selbst eine Friterie. Ich schüttele mir den Rest meiner Pommes in den Mund und will wissen, warum die Dinger so verdammt lecker sind. „Das liegt am Rinderfett. Ist Ihnen diese nussige Note aufgefallen? Die kommt daher. Pflanzenöl ist in Belgien verpönt“, sagt Lefèvre und ordert Bier. „Außerdem frittieren wir zweimal. Nur so werden sie außen knusperig und innen zart. Und nur dann dürfen Sie in Belgien von Fritten sprechen.“

Brüssels Buden haben alle ihren eigenen Charakter. Es gibt besonders verwegene, besonders putzige, besonders schmierige. Und es gibt skurrile wie die Friterie de la Barrière, wo ich die zweite Portion nehme. Der schmale Stand wendet seine Verkaufstheke verschämt von der Straße ab und gleicht einem Schüler, der etwas ausgefressen hat. Auch hier bildet sich eine Schlange. Genug Zeit, um dieses Mal über die Soße nachzudenken. Andalouse, Tartare, Poivre, Américain, Pili Pili, Brazil – an die zwei Dutzend müssen es in Belgien schon sein. Ich wähle die Feuermayonnaise Samurai, die meinen Gaumen in ein Nadelkissen verwandelt. Das Gepikse hält an bis zur dritten und letzten Fritteneinheit des Tages. Für sie habe ich mir Frit Flagey ausgesucht.

Die grün-beige Baracke gehört zur örtlichen Pommes-Elite und liegt in Ixelles, einer Art Brüsseler Kreuzberg. Die Fritten besitzen wieder diesen kostbaren Goldton, das Verhältnis zwischen Crunch und innerem Kartoffelflaum ist perfekt. Mit der mehligkochenden Sorte Bintje kriege man das am besten hin, erzählt der Rastamann hinterm Spuckschutz: „Eine andere kommt nicht infrage. Aber du kannst sie nur von der Ernte im September bis Juni lagern. Danach ist sie ungenießbar. Frühkartoffeln sind eine Alternative, doch das ist nicht das Gleiche.“ Heißt das, dass es wahre belgische Fritten im Hochsommer gar nicht gibt? „Kann man so sagen.“

Am nächsten Tag fahre ich durch eine zersiedelte Anti-Landschaft, in der frisch gekämmte Kartoffeläcker die einzige Naturreferenz sind. Ich will in Antwerpen die legendäre Fritkot Max besuchen. 1842 wurde sie am Ufer der Schelde gegründet und zog nach deren Begradigung in ein 300 Jahre altes Haus am Groenplaats. Dort waltet heute Gerda an zwei fast jacuzzigroßen Fritteusen. Die stämmige Flämin mit dem blonden Dutt wirkt wie einem Asterix-Comic entsprungen. Gerade hat sie das Fett mit Kartoffelstäbchen gefüttert und wartet aufs Singen. Aufs Singen? „Die Fritten sagen dir, wenn sie fertig sind. Je nach Saison ändert sich ihr Wasseranteil und Zuckergehalt und damit die perfekte Garzeit. Wenn die erreicht ist, hörst du ein hohes Sirren. Um den Ton wahrzunehmen, brauchst du allerdings Jahre.“ Gerda hat recht. Ich höre nur Gebrodel.

Der Kunsthistoriker Paul Ilegems steigt vom Rad und parkt es vor dem Eingang. In seinem Trenchcoat erinnert der dünne Mann an die Figur des Monsieur Hulot aus den Filmen von Jacques Tati. In Wahrheit ist er der Frittenpapst: Gerade schreibt Ilegems das siebte Buch zum Thema. „Am Anfang galt ich als wandelnder Belgierwitz“, sagt er über seine Passion, als Gerda ihm seine Tüte überreicht. Dabei interessieren ihn weniger die Pommes als vielmehr die traditionellen Verkaufsbuden. Stadtplaner verbannen sie immer öfter aus dem öffentlichen Raum und zwingen sie in Häuser. In Antwerpen gibt es keine einzige mehr. „Mit ihnen verschwindet unser Nationalsymbol“, sagt Ilegems und zeigt alte Fotos von Friterien: seifenkistenhaft zusammengebastelte Horte des Abenteurerkapitalismus, architektonische Punks, die den bürgerlichen Fassaden ringsum den Mittelfinger zeigen. „Jede Baracke steht für den belgischen Anarchismus, für unsere Skepsis gegenüber Regeln. Frittenbuden sind der organisch gewachsene Ausdruck von Kreativität. Darum sind sie schön, egal, wie hässlich sie sind.“

Dass die Zubereitung der Pommes durch ihre Domestizierung hygienischer geworden ist, gibt Ilegems zu. Im Übrigen schmecken Gerdas singende Fritten und die der Brüsseler Anarchos aber gleich. Vielleicht macht der Budenzauber ja doch keinen so großen Unterschied? Ich gehe in das Frites Atelier von Sternekoch Sergio Herman, der die Kartoffelstange auf sein Niveau zu hieven versucht. Außen prangt eine schwarz-goldene Fassade, innen geben mir Mosaikintarsien und imperiale Soßenspender das Gefühl, in eine Schlossküche geraten zu sein. Auf einer Arbeitsfläche drapieren Männer mit Handschuhen Fritten in nachtblauen Pappschachteln, die wie Bonbonnieren aussehen. Keine Frage: Hier wird die Frittenentfremdung auf die Spitze getrieben.

Ich wähle die Pommes mit dem Topping Flamish Beef Stew für 8,25 Euro und bestelle dazu einen Languedoc. Was für ein Chichi. Aber die Fritten: sensationell! Bintje und zweifach frittiert. Allerdings nicht in Rindertalg, sondern einer Melange aus Pflanzenölen. Wieso das? Damit sie auch Vegetarier essen können, sagt der Manager. An einer der vier Stäbchenseiten hat man die Schale drangelassen, was den Geschmack noch kartoffeliger macht. Die Luxuspommes sind mit Meerfenchelsalz bestreut und nicht nur kross, sondern geradezu knackig. Mit einem Satz: Beim Frittenfreigeist Sergio Herman in Antwerpen esse ich die besten Pommes meines Lebens. Die Sache hat nur einen Schönheitsfehler. Der Mann ist Holländer.