Große Lage
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Große Lage

DIE ZEIT, Nr. 43/2020

Große Lage

 

Das Julius in der Pfalz nimmt nichts so wichtig wie den Wein. Höchstens den Gast. Der darf sogar im Weintank dampfbaden.

Weckt mich jetzt eine Stradivari? Nein, dieses Geigenspiel ist reine Einbildung. Es wimmert bloß in meinem Schädel so schmerzlich-schön. Andere sagen Kater dazu. Doch ich finde: An der Südlichen Weinstraße hat sogar ein dicker Kopf seinen Reiz.

Dass ich an meinem ersten Abend etwas über die Stränge geschlagen habe, vergebe ich mir sowieso. Der Abschnitt der Deutschen Weinstraße rund um Landau schürt an jeder Ecke die Trinklust. Auch das in Reben gebettete Dorf Hainfeld, in dessen Zentrum mein Hotel liegt, das Julius in der Pfalz. Alte Weinpressen stehen in Vorgärten, Weinköniginnen erheben auf Grußschildern das Glas. Und über den Straßen hängen Weinlaubgirlanden mit Trauben, die man sich wie Bacchus von der Hand in den Mund pflücken könnte.

Unter einem Wandtattoo mit der Römersentenz „in vino veritas“ aufzuwachen passt da ins Bild. Andererseits scheint man hier zu wissen, dass der weinselige Gast am nächsten Morgen nach Klarheit verlangt: Das Design meines Apartments ist angenehm schnörkellos. Die Vorhänge erstrahlen in läuterndem Weiß, die Beistelltische sind schlichte Holzblöcke. Das Eichenparkett schimmert matt und lässt die Stehlampe noch minimalistischer wirken. Blickfänge gibt es aber auch. Zum Beispiel diese zwei pfauenblauen Kunstfellsessel, in denen man glaubt, man sitze auf Käpt’n Blaubärs Schoß. Oder diesen Seifenspender in Form eines Pudels. Den hätte sich auch der Kitschkünstler Jeff Koons ausdenken können.

Das Julius in der Pfalz heißt, wie es heißt, weil es im Ruhrgebiet schon länger das Veranstaltungslokal Julius gibt. Beide gehören Hartmut und Ulrike Meimberg, die hauptsächlich in der Pfalz wohnen. 2011 hat das Ehepaar ein Winzeranwesen aus dem 18. Jahrhundert gekauft und zu ihrem Hotel mit fünf Apartments und drei Zimmern umgebaut. Im von Pflanzen überquellenden Innenhof ahnt man, wieso. „In der Südpfalz wachsen Mandeln, Feigen und Zitronen“, sagt Ulrike, die gerade im explosionsroten Pullover ein paar Büsche stutzt, „wärmer als hier ist es nur am Kaiserstuhl. Und warm sollte ein Alterssitz schon sein.“

Ihr Mann hatte vor allem den Wein im Sinn: In Herne führt Hartmut eine Weinhandlung in vierter Generation. Phänotypisch eher Asket, kocht er in der offenen Küche des Hotels Gourmetmenüs, bei denen sich das Essen mehr an den Weinen orientiert als umgekehrt. Hier annonciert er jetzt meine Frühstücksetagere. Besonders der Schinken beeindruckt mich. Er ist so dünn, als flöge er beim nächsten Windhauch davon. Hartmut schafft das mit einer Aufschnittmaschine im Industriedesign des 19. Jahrhunderts. Zwischen den monochromen Gemälden an den Wänden wirkt sie selbst wie ein Kunstwerk.

Nach dem Frühstück bleibe ich bei einem dritten, vierten und fünften Kaffee im fast marktplatzgroßen Innenhof hängen. Wie überall hat man auch hier Putz entfernt, um den weincremeroten Sandstein besser zur Geltung zu bringen. „Eine Arbeit für Leute, die Vater und Mutter erschlagen haben“, sagt Ulrike im zupackenden Ruhrpott-Ton, der nicht so ganz passen will zu meinem Dolcefarniente. Vögel zwitschern, der Wind zählt die Blätter ohne Hast. Ich fühle mich geschützt und frei, mitten im Ort und doch woanders.

Irgendwann raffe ich mich auf und radele durch die majestätische Hügeldünung des Pfälzer Waldes von Weindorf zu Weindorf. Jedes scheint die letzten 300 Jahre im Schönheitsschlaf verbracht zu haben. Kein Fotovoltaikelend, keine Fertighausverbrechen. Nur Mansardendächer, Giebel, Erker und Türmchen. Die Wolken über dem Rheintal bilden ein gewaltiges Kuppelfresko, und ich fühle eine Leichtigkeit, als würde ich in einer Sänfte durchs Land getragen. Das kann an der Grazie der Weinberge liegen. Oder am Grauburgunder in einer der vielen Straußenwirtschaften.

Am Abend gehe ich der Rebsorte auf den Grund: Hartmut hat Gäste zur Grauburgunder-Probe in die Vinothek geladen. Noch vor 20 Jahren habe er Weine aus der Südpfalz nicht angerührt, erzählt er. Doch dann hätten junge Winzer die „Süßliche Weinstraße“ revolutioniert. Es wäre ja auch zu schade gewesen. Durch den Bruch des Oberrheingrabens entstand hier eine riesige Vielfalt an Gesteinsarten und Bodenprofilen, die sich dem Wein auf engstem Raum immer wieder anders mitteilen. Glas für Glas tun wir es Hartmut gleich und kauen andächtig auf dem Wein herum. Schiefer? Löß? Kalkmergel? Granit? Tja. Auf jeden Fall köstlich. Terroir heißt das Zauberwort, und es bleibt mir ein Rätsel.

Am letzten Tag geschieht Unerhörtes in der Südpfalz: Es ist kühl und regnerisch. Macht aber nichts. Für solches Wetter gibt es die Sauna, wo man die jahrhundertelang nutzlose Schönheit eines Tonnengewölbes endlich genießen kann. Bis vor 40 Jahren lagerte hier Wein in Betontanks mit Traubenreliefs auf den Fronten. Die Behälter wurden aufgeschnitten, um darin das Schwitzbad und die Duschen unterzubringen.

Nach dem dritten Gang liege ich selig in weichen Decken. Kerzen flackern, die Sandsteinquader wirken, als seien auch sie rosig durchblutet. Geistesabwesend studiere ich die Maserung der alten Betonfässer. Irgendwann lese ich darin die Kreidelettern „1976 Riesling Spätlese“. Und beschließe, dem Weinladen der Vinothek noch einen letzten Besuch abzustatten. Granit und Löß müssen doch auseinanderzuhalten sein!

Pfälzer Saumagen

Allein der Name! Pfälzer Saumagen klingt wie ein Fall fürs Dschungelcamp. Und tatsächlich diente das Gericht einst der Verwertung von Schlachtresten. Das änderte sich, als Helmut Kohl seine Leibspeise in den 1990er-Jahren Staatenlenkern aus aller Welt servieren ließ. Wer sie heute kosten will, isst die in einem Schweinemagen gegarte Spezialität aus je einem Drittel Schweinefleisch, Kartoffeln und Brät am besten im Restaurant der Wachenheimer Metzgerei Hambel. Hier stand Kohls dunkle Limousine regelmäßig vor der Tür. Der erste Eindruck auf dem Teller: Sieht aus wie der gelb-rot-gefleckte Buntsandstein, aus dem hier die Burgen gebaut sind. im Mund macht dann bereits die fluffige Konsistenz des Saumagens Spaß. Die angebratenen Scheiben sind virtuos gewürzt und mit fünf Prozent Fett viel magerer als gedacht – Metzgermeister Klaus Hambel nimmt nur Fleisch aus der Nuss. An Helmut Kohls Leibesfülle trug der Saumagen also keine Schuld.

Weingut Johanneshof

Ist Goethe zu weit gegangen? Der Johanneshof in Siebeldingen ist jedenfalls in der Lage, jede Italiensehnsucht schon diesseits der Alpen zu stillen – zumindest für ein paar Stunden. Anders als viele Weingüter an der Südlichen Weinstraße duckt sich dieses nicht in ein enges Dorf, sondern thront inmitten anmutig geschwungener Weinberge. Es ist, als wolle das Anwesen ganz allein beweisen, dass die Pfalz zu Recht als die Toskana Deutschlands gilt. Man sitzt in der grünen Tiefe eines Parks, aus dem turmhohe Säulenzypressen hervorlodern. Die Tische stehen weitläufig verteilt und geben einem das Gefühl, mit der Landschaft zu verschmelzen. Die hervorragenden Weine der Lage „Siebeldinger im Sonnenschein“ tun ihr Übriges. Während die Trauben reifen, beschallt sie Gutsbesitzer Gregor Meßmer übrigens mit klassischer Musik – er ist überzeugt, dass sie so noch bekömmlicher geraten.

Friedensdenkmal

Wer am Ostrand des Pfälzer Waldes über die Südliche Weinstraße fährt, kommt kaum bis in den vierten Gang, da taucht schon die nächste Burg, das nächste Schloss, die nächste Fachwerkpreziose auf. Das Friedensdenkmal auf dem Werderberg bei Edenkoben passt vielleicht am besten in diese so angeheitert wirkende Weinlandschaft. Anlässlich des Sieges deutscher Stämme über Frankreich nach 1871 gebaut, ist die offene Ehrenhalle ein Rausch aus Ornamenten, Fresken, Büsten und Mosaiken in Gold und Blau. Die äußeren Mauern des hochfahrenden Monuments sind von Gestrüpp überwuchert, als handele es sich um einen Mayatempel. Davor steht ein nackter Reiter, dem man 1969 das Schwert wegnahm und durch einen Palmzweig ersetzte, an der Rückseite führt eine Treppe aufs Dach. Der Blick von der Aussichtsterrasse über die Rebzeilen bis weit hinein in die zart flirrende Rheinebene löst ganz unabhängig vom kaiserzeitlichen Schnätterätäng erhabene Gefühle aus.