Kurs auf die Antike
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Kurs auf die Antike

DIE ZEIT, Nr. 46/2012

Kurs auf die Antike

 

Die Städte an Istriens Westküste stecken voller archäologischer Schätze. Man entdeckt sie am besten während einer Segelreise im Herbst.

Mit einem Mal wurde es dramatisch. Auf einem Hügel in der Nähe des Amphitheaters von Pula sank Uwe auf die Knie. Er schob seine Sonnenbrille auf die Stirn und machte ein Gesicht, als habe er gerade das Bernsteinzimmer entdeckt. Auch Ingrid sah elektrisiert aus, während sie sich über ihren Mann beugte, der in der Erde kratzte und dabei nach und nach eine gesprungene, opak schimmernde Glasflasche zum Vorschein brachte. Als er sie endlich in Händen hielt, blitzte grelle Begeisterung in seinen Augen. Antike! Das Ding stammte aus der Antike, oder etwa nicht? Natürlich, Uwe musste recht haben. In den Regalen des Museums, durch das wir vorhin gewandert waren, lagen schließlich Dutzende ähnlicher Stücke. Unser archäologisch spezialisierter Reiseleiter indes lachte nur und würdigte den Fund kaum eines Blickes. Da begriff ich endgültig, dass die Archäologie nicht nur viel Vorstellungskraft verlangt, sondern auch ein dickes Fell. Aber der Reihe nach.

Als ich im kroatischen Poreč ankomme, ist gleich klar, dass es keinen besseren Auftakt geben kann für meine Reise. Die Stadt ragt auf einer Landzunge ins türkis und ultramarin gefleckte Mittelmeer und ist ein einziger architektonischer Juwelenkasten. Römische Tempel, frühbyzantinische Kunst, venezianische Bürgerpaläste – alles dicht beieinander. Auch der Mastenwald der Marina liegt gleich um die Ecke. Hier startet mein Segeltörn, die „Archäologische Segelreise Istrien“, die der österreichische Verein der Freunde der Archäologie in diesem Herbst zum ersten Mal organisiert hat. Die Reise führt eine Woche lang hinab an der Westküste der istrischen Halbinsel, die in Form einer Traube in der Adria hängt. Es geht darum, die steinalten Städte der einstigen römischen Provinz Illyricum nach Art ihrer Gründer anzusteuern und sie auf Tagestouren mit archäologischem Blick unter die Lupe zu nehmen. Ich habe selbst ein Faible für alte Gemäuer. Mal sehen, ob die Archäologie es noch vertieft.

Die Jachten, die im Hafen von Poreč ankern, nennen sich Diva oder Rubin, The Big White oder Tiger. Unsere Jacht heißt Hansi. Doch der zahnpastaweiße Einmaster wirkt flotter, als der Name klingt. Vom Deck winkt schon unser Reiseleiter. Dr. Wolfram Letzner, Archäologe, steckt in einem zu großen beigefarbenen Blouson und sieht aus wie der Wiedergänger von Heinz Erhardt. Beginnt er aber zu sprechen, hat man gleich das geschäftige Näseln von Theo Lingen im Ohr: Willkommen an Bord, nicht wahr, nicht wahr…

Nach und nach treffen die anderen ein. Alle fünf Mitreisenden sind um die siebzig und nicht nur Hobbyarchäologen, sondern auch passionierte Segler. Vielleicht sehen sie deshalb zehn Jahre jünger aus. So wie Uwe und Ingrid aus Norddeutschland, die so mitreißend lachen können. Wie der brummige Jörg aus Brandenburg im ferrariroten Regatta-Dress und sein immerzu freundlich schweigender Kumpel Franz. Und wie der braun gebrannte Rheinländer Walter, der als Letzter elegant an Bord springt. Seit er den Kindern seine Firma überschrieb, reist er sechs Monate pro Jahr durch die Welt. Mit ihm teile ich mir ein handtuchbreites Stockbett, das die Kajüte fast völlig ausfüllt.

Schon bei unseren Streifzügen durch Poreč sind wir alle per Du. Wir erkunden den römischen Grundriss, bestaunen den Eifer, mit dem die besten Künstler aus Byzanz die legobunten Mosaiken der Euphrasius-Basilika zusammensetzten, trinken Kaffee auf einem mittelalterlichen Wehrturm. Und während die Sonne am Morgen des zweiten Tages noch damit beschäftigt ist, die Promenade aus dem Dunst zu schälen, schiebt uns der Schiffsmotor bereits aus dem Hafenbecken. Wir beobachten die zurückbleibende Stadt beim Schrumpfen und zeigen uns noch einmal gegenseitig ihre Fassaden aus Gotik und Renaissance auf unseren Kameradisplays. Wolfram zuckt nur mit den Schultern. Ihm waren schon die Kruzifixe im Bischofspalast zu modern. Lieber referiert er in epischer Breite den Streit seiner Kollegen darüber, ob auf dem römischen Forum des ehemaligen Parentium nun zwei oder vielleicht doch eher drei Tempel standen. Als Porečs Silhouette endgültig Postkartenformat erreicht hat, drehen wir unsere Köpfe in Fahrtrichtung und schauen aufs offene Meer hinaus. Man meint, geradewegs in die Erdkrümmung hineinzufahren.

Nach dem Vortrag über Stratigrafie ist eine weitere Flasche Wein fällig

„Meine Herrschaften, es wird sportlich. Wir beginnen mit dem Segeln. Darf ich um Mithilfe bitten?“ Der galante Ton unseres Skippers wäre auch im Hotel Sacher gut aufgehoben. Unüberhörbar kommt er aus Wien. Ganz in Weiß steht er am Steuer. Ansonsten gleicht Oswald dem Bild, das sich Segelnovizen wie ich von einem Skipper machen: Hemingwaybart, wettergegerbtes Gesicht, schlechte Zähne. Was er mit „sportlich“ meint, liegt auf der Hand. Seit einigen Minuten paradieren Wolken am Himmel, und das Meer färbt sich sardellengrau. Jetzt wuseln die Segelveteranen nach Oswalds Kommandos über Deck, und jeder Handgriff sitzt wie bei der Marine. Winden surren, Taue straffen sich, Wind füllt die Segel. Ich bin beeindruckt. Dann nickt die Hansi kurz und zischt los. Weil wir nach Süden wollen und von dort der Jugo bläst, treibt Oswald das Schiff im Zickzackkurs voran, von Schräglage zu Schräglage. Irgendwann beginnt Ingrid wild zu gestikulieren: Delfine! Doch ich mag keinen sehen: Jede Sekunde, in der ich es versäume, den auf und nieder hüpfenden Horizont zu fixieren, tut meinem Magen gar nicht gut.

Es gibt keine bessere Art, sich Istriens Küstenstädten zu nähern

Stunden später laufen wir in den Hafen von Vrsar ein, und ich fühle mich wie nach einem Speed-Metal-Konzert – erschöpft und ohne weitere Fragen. Unter einem silbrig schäumenden El-Greco-Himmel klammert sich der Ort an einen Berg. In den Gassen sitzen alte Frauen, Wäsche flattert an Leinen wie zur Zierde hingehängt. Doch ich kann meinen Blick kaum vom marzipanfarbenen Kopfsteinpflaster lösen. Der berühmte istrische Marmor glänzt so delikat, dass ich fast hineinbeißen möchte. Er entstammt dem Steinbruch von Vrsar, den schon die Römer betrieben. Die Städte der istrischen Riviera, viele Kirchen Venedigs und sogar Teile des Dogenpalastes hat er bestückt. Selbstverständlich besuchen wir ihn. Doch zu sehen gibt es dort ebenso wenig wie im ganzen Ort. Meinen Segelkameraden gefällt’s trotzdem. Voller Beobachtungsgier stürzen sie sich auf jedes Detail und münzen es in Fragen um. Womit wurden die Steine gesägt? Wie kamen sie auf die Schiffe? Und was ist das eigentlich für ein Vogel dort drüben? Manchmal muss Wolfram in einem Reiseführer blättern. Aber das macht nichts. „Da ham wa wieder was gelernt“ ist einer von Jörgs Lieblingssätzen. Er wird ihn an diesem Tag noch häufiger sagen. Denn am Abend hält Wolfram an Bord einen Vortrag über die archäologische Methode der Stratigrafie, mit der sich das Alter von Ablagerungen bestimmen lässt. Danach ist eine weitere Flasche Wein fällig. Freizeitjäger Walter erzählt dazu Geschichten von der Wildsau im Westerwald.

Die schönste Erkenntnis unserer Segelreise aber steht längst fest: Es gibt keine bessere Art, sich Istriens Küstenstädten zu nähern. Kein Gewerbegebiet ernüchtert den ersten Kontakt, kein sozialer Wohnungsbau, kein Kreisverkehr. Immer geht es frontal auf die Schauseite zu. Heute ist es die von Rovinj. Bei strahlendem Wetter sitze ich vorn auf dem Bugspriet und zoome mich in den pastellfarbenen Steinhaufen von einer Stadt hinein. Dass er wirkt wie eine Spiegelung Ravennas oder Venedigs, ist kein Wunder. Die Venezianer hatten hier jahrhundertelang das Sagen. Und Italienisch ist in Istrien heute noch zweite Amtssprache. Umständlich und doch majestätisch legen wir in der Marina an und glauben nicht, dass Rovinj schöner sein kann als sein Panorama. Ist es aber doch. Das Gassenlabyrinth präsentiert sich so vollendet verschachtelt, dass es fast beengter wirkt als unser Boot. Unter einem Relief des venezianischen Markuslöwen bestellen wir teerschwarzes Tintenfischrisotto, gegrillte Jakobsmuscheln und Carpaccio von der Goldbrasse. Wir trinken den kühn schmeckenden Malvasier und schwelgen in der unwillkürlichen Schönheit alter Dinge.

Für Archäologen interessant sind sie aber nur dann, wenn schon einmal Erde darüberlag. Also geht es mit dem Bus ins Hinterland, zu einer Siedlung aus der Bronzezeit. Wolfram nennt Monkodonja das Mykene Istriens und sagt, es habe Busladungen voller Touristen verdient. Wir allerdings durchstreifen die Anlage von hüfthohen Mauerresten mit Durchbrüchen, Korridoren und verschieden großen Räumen ganz allein. Immer wieder fegen Böen über die Hügelkuppe und wirbeln Wolframs Loseblattsammlung durcheinander, aus der er mit zahlenklirrender Exaktheit Bauphasen und Mauerstärken referiert. Es ist, als trage er anstatt eines Haupttextes nur die Fußnoten vor. Irgendwann wird mir vom Datenwust ganz schwindelig. Ich setze mich auf eine Stufe zwischen Wänden, die Menschenhände vor knapp 4000 Jahren aufschichteten und die nun als erratische Blöcke in die Gegenwart ragen. Rieche den harzigen Duft der Zypressen, fahre mit der Hand über das knochenbleiche, akribisch gemauerte Kalkgestein. Und spüre, wie poetisch diese Ruinen sein können. Wenn man sie lässt.

Wir lernen: Mit Rosenöl bekämpfte man im Amphitheater den Gestank des Blutes

Einen halben Segeltag später ist unser Reiseleiter wie ausgewechselt. Das Amphitheater von Pula scheint ihn so sehr zu euphorisieren wie uns. Im Innern des riesigen Runds legen wir die Köpfe in den Nacken und stellen uns vor, wie 23000 Menschen auf den Rängen der sechstgrößten römischen Arena krakeelten. Wir hören, dass die Armee viel Geld an den Bären verdiente, die sie aus Germanien für die Spiele herbeischaffte. Dass der Bedarf an Tieren ganze Arten wie den nordafrikanischen Löwen ausrottete. Oder dass man die Sitze mit Rosenöl besprengte, um den Gestank des Blutes zu bekämpfen. Und als wir über die Notdurft im istrischen Kolosseum sprechen und Ingrid nach dem Klopapier der Antike fragt, erfahren wir auch, dass Archäologen in diesem Punkt seit Langem über die Alternative „Wasser oder Stockschwamm“ streiten. Das Verzückungstalent Uwe hätte den Tag krönen können, als er jene Flasche mit dem trompetenförmigen Hals aus der Erde scharrte. Aber da sauste schon Wolframs Verdikt auf das gute Stück herab: „Das ist nichts. Noch nicht einmal Mittelalter.“ Bestimmt hat er recht. Doch manchmal will man es so genau gar nicht wissen.

Skipper Oswald findet, dass Segeln und Altertumsforschung prächtig zusammenpassen. Beides verlange Disziplin und Demut vor Dingen, die größer sind als wir. Aber die Kombination hat noch einen weiteren Vorteil: Das scharfe Gleiten übers Wasser ist ein erfrischender Kontrast zur Erdenschwere der Archäologie. Ich genieße die See auf der Fahrt zu den Brioni-Inseln gegenüber der Bucht von Pula. Wieder sitze ich ganz vorn und fühle mich dabei wie ein König während der Inspektion seines Reichs. Als der Gebieter hier noch Josip Broz Tito hieß, war der Archipel Sperrgebiet und die Hauptinsel der Garten Eden des jugoslawischen Diktators und seiner Nomenklatura. Heute kann jeder unser letztes Etappenziel besuchen.

Kaum haben wir es erreicht, rückt die Gruppe schon zum Ruinenfeld einer römischen Villa aus. Ich aber habe genug. Ich miete mir ein Fahrrad und radle mutterseelenallein in der penibel getrimmten Landschaft herum. Sie gipfelt in einem Safaripark auf einer Anhöhe. Viele Staatsgäste machten Tito Tiere zum Geschenk, die auf Brioni ein neues Zuhause fanden. Der Seewind hat hier die Pinien platt gedrückt, sodass sie aussehen wie Schirmakazien in der Serengeti. Gnus glotzen mich an, Elefanten trompeten, Zebras stehen wie riesige Spielzeuge auf der Wiese. Und als ob das alles nicht reichte, weht auch noch eine Oper laut durch die Luft. Sie kommt aus der Stereoanlage eines Freiluftlokals, das direkt an der Klippe liegt. Es ist so menschenleer wie der ganze Park. Ich setze mich in einen Lehnstuhl vor den Sonnenuntergang und lausche Plácido Domingo. Der Wirt kommt und fragt mich, ob ein junger Weißwein recht wäre. Aber gewiss. Vor allem weil er jung ist.