Lok ’n’ Roll
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Lok ’n’ Roll

DIE ZEIT, Nr. 16/2011

Lok ’n’ Roll

 

Auf der Bernina-Linie durchs Engadin werden Kindheitsträume wahr: Einmal vorn im Zug mitfahren – über Alpenpässe und Viadukte

Fahren wir noch? Oder fliegen wir schon wie Jim Knopf und die Wilde 13? Als ich eben in St. Moritz den Triebwagen bestieg, schmerzte die Märzsonne in den Augen. Jetzt aber wirbeln die Schneeflocken zentimeterdicht, Oben und Unten verschwimmen zu einem weißen All. Nur mit Mühe erkenne ich die zwei dünnen, wie mit Kajal gezogenen Striche in der Schneewüste des Bernina-Passes. Es sind die Gleise, auf denen unser Zug in Richtung Italien unterwegs ist. Er nennt sich Bernina-Express und überquert die Alpen so hoch und so triumphal wie keine andere Bahn. Ich muss es wissen, denn ich reise im Führerstand neben dem Fahrer. Der heißt Fadri und verschanzt sein halbes Gesicht hinter einer monumentalen Spiegelbrille. Seine Hände drehen, ziehen und schieben an Kurbeln, Hebeln und Schaltern, die mehr als fünfzig Jahre alt sind. Schrammen gleißen im Lack, die Ziffernblätter sind groß wie Käselaibe, es riecht nach Öl und Eisen. Genau so müsse es sein, stellt Fadri auf Schweizerdeutsch fest. „Hier channsch noch richtig isebähnle.“

Die Bernina-Linie verbindet St. Moritz mit Tirano im italienischen Veltlin und wird dieses Jahr 100 Jahre alt. Es war das Ziel ihrer Erbauer, „ein Verkehrsmittel zu schaffen, das den Genuss der Natur mit Bequemlichkeit gestattet und deren erhabene Schönheit in reicher Abwechslung am Auge vorüberziehen lässt“. So deklamiert es ein alter Prospekt. Dieses Ziel wurde erreicht. Heute fährt im Kanton Graubünden nur mehr jeder Sechste Zug, um von A nach B zu gelangen. Alle anderen wollen vor allem die Aussicht genießen.

Seit die Bernina-Strecke vor zwei Jahren von der Unesco zum Welterbe ernannt wurde, bietet die Rhätische Bahn wahren Eisenbahnfans Fahrten im Führerstand an. Für 850 Franken dürfen sie auf einem Schemel neben dem Fahrer Platz nehmen – das ist fast dreißigmal so teuer wie ein Ticket zweiter Klasse. Dafür erläutert ein pensionierter Lokführer alle Fakten, und hinterher gibt es ein Zertifikat mit Foto. Auf beides habe ich verzichtet. Ich will den Bernina-Express pur.

Je höher Fadri und ich und all die anderen Passagiere in den sechs Waggons steigen, desto ungestümer wird unser Zug. Mit gespenstischem Sirren bahnt er sich seinen Weg. Am Scheitelpunkt auf 2253 Meter Höhe wähne ich mich endgültig in der Antarktis. Fadri erzählt, dass man hier versucht habe, Pinguine zu züchten. Doch ich höre kaum hin. Meine Aufmerksamkeit gilt jetzt einer Schneewolke, die direkt auf uns zuwalzt. Großer Gott, denke ich, eine Lawine! Doch es ist ein Schnee speiender Ventilator am Bug des Zuges, der uns auf dem Parallelgleis entgegenkommt. Das Ding wirkt wie eine der Höllenmaschinen aus dem Atelier des Graubündner Alien-Erfinders HR Giger. „Die Xrotet 9219“, kommentiert Fadri. „Eine Schneeschleuder. Ohne die geht hier nichts.“ Die Bernina-Linie war ursprünglich als reine Sommerstrecke geplant. Aber wann ist hier schon Sommer? „Rechts würde man jetzt den Lago Bianco sehen“, sagt Fadri. „In dem schwimmen noch Ende Mai Eisschollen.“

Als es wieder bergab geht und der Schnee wie nasse Watte gegen das Führerstandsfenster klatscht, verlasse ich meinen Schemel. Mal sehen, wie man im Panoramawagen sitzt. Als ich ihn betrete, zwinkern meine Augen. Hier sprüht Licht von allen Seiten. Gerade schubst ein indischer Zugkellner im Trachtenhemd seine Minibar durch die Ledersitzreihen, da ertönt aus den Bordlautsprechern eine Frauenstimme vom Band. Sie ordnet Blicke zu all den Grandiositäten der Landschaft an. Doch keine will sich zeigen. Ernste Asiaten halten ihre Kameras im Anschlag. Engländerinnen träumen wie unerlöste Burgfräulein ins Nichts. Und eine deutsche Rentnerin versucht es mit positivem Denken. „Das hat doch auch was“, sagt sie im Hamburger Tonfall zu ihrem Mann. Die Antwort ist ein eisig strafender Blick.

Zurück im Führerstand reicht Fadri Kaffee aus einer Thermoskanne und Puschlaver Anisbrot. Ein heimeliges Berghüttengefühl kommt auf, während sich draußen die Schleier lichten und fast senkrecht unter uns das Puschlavtal im verregneten Graugrün des Vorfrühlings auftaucht. Schemenhaft erkenne ich die Häuser von Poschiavo, aus denen ein grotesk hoher Campanile ragt.

Eine halbe Stunde später steht unser Zug am Bahnhof. Hier wechselt der Fahrer. Der neue heißt Giorgio und ist auf eine so entspannte Art liebenswürdig, dass ich mit ihm bis nach Kalabrien rattern würde. Er trägt einen Dreitagebart, der eher unrasiert als modisch wirkt, und spricht melodiös – das Val Poschiavo gehört schon zur italienischen Schweiz. Es geht jetzt über das Kreisviadukt von Brusio, das in eleganter Schneckenlinie etliche Höhenmeter vernichtet. Dann tauchen Palmen und Weinberge auf, und Häuser rücken ganz nah heran. Unser Zug ist auf einmal zur Straßenbahn geworden.

Zweieinhalb Stunden nach der Abfahrt in St. Moritz erreichen wir Tirano. Ehe unser Bernina-Express an seiner Endstation hält, überquert er sogar den Kirchplatz. Und das ist wahrscheinlich das Aufregendste, was hier passiert. Die Stadt wirkt wie ausgestorben. Nach der Ankunft kehre ich in einem klammen Café ein. Eine Mutter und ihr Sohn sind die einzigen Gäste. Der Junge formt Kugeln aus Servietten und Spucke und schnippt sie durch die Gegend. Nein. Hier will ich nicht bleiben. Ich fahre zurück nach Poschiavo. Dort nehme ich mir ein Zimmer, trinke eine Flasche Veltliner Wein und gehe früh zu Bett. Ich träume von fliegenden Zügen.

Am nächsten Morgen ist alles anders. Der Himmel leuchtet signalblau über dem Städtchen, und die Luft ist so trocken, dass sie in den Lungen prickelt. Nach dem Frühstück spaziere ich durch uralte Gassen, die eng sind, finster und erratisch. Immer wieder führen sie auf kleine Plätze, die plötzlich im weißen Licht aufstrahlen. Es gibt bunte Patrizierhäuser und Wirtshaustische auf dem Kopfsteinpflaster. Einfach hier sitzen und das Gesicht in die Sonne halten wäre jetzt das Schönste. Aber ich muss zum Bernina-Express, der mich zurück ins Engadin bringt. Auch gut. Erst jetzt kann er doch zeigen, was ihn so berühmt macht! Also ab zum Bahnhof. Der Zug läuft ein, und Giorgio sitzt wieder an den Hebeln. Als wir uns die Hand geben, umfassen wir mit der Linken den Unterarm des anderen.

Selbst den Bernina-Express scheint das Wetter zu beflügeln. Mit heiterer Geschäftigkeit schraubt er sich in eine symphonisch anschwellende Landschaft. Ich nehme mir vor, beim nächsten Mal mit Beethovens Pastorale im Ohr zu fahren. Wo gestern Nässe troff, übertrumpfen sich heute die Ausblicke über Kastanienwälder und wuchtige Gipfel. Am spektakulärsten zeigt sich die Natur am Bahnsteig der Alp Grüm auf 2091 Meter Höhe. Neben uns gleißt der Gletscher des Piz Palü, tief unter uns funkelt hustenbonbonblau der Lago di Poschiavo. Dahinter prunken die Bergamasker Alpen. Giorgio schiebt das Fenster nach unten, da kommt schon die Bahnhofswirtin gelaufen und bringt uns Espressi. „Das bestelle ich immer, bevor es losgeht“, sagt Giorgio und pustet über den Schaum. Als wir weiterfahren, wird unser Zug von Eisenbahnanbetern fotografiert. „Pufferküsser“, erklärt Giorgio grinsend. Ich winke gönnerhaft aus dem Fenster wie ein Prinzregent auf Sommerfrische.

Kurz darauf geht es ins Schattengeflacker halb offener Galeriebauten, bis ganz oben Streckengeher zusteigen: sonnenverbrannte Männer mit Schaufeln und wurzelhaften Händen, die jedes Wilderer-Casting für einen Bergfilm gewinnen würden. Und jetzt zeigt sich auch der Bernina-Pass wie am Postkartenständer. Morteratsch-Gletscher, Bernina-Gruppe, Lago Bianco – alles prangt im Licht. Herrlich. Es gibt kein besseres Wort.

Zurück in St. Moritz, endet die Bernina-Linie. Aber nicht der Bernina-Express. Der fährt weiter auf der Albula-Strecke bis hinunter nach Chur. Bevor es weitergeht, werden Antrieb und Chauffeur getauscht. Unser Zug ist jetzt mit einer richtigen Wechselstrom-Lok unterwegs. Ich steige durch das Geschlinge von Luftleitungen, Pumpen und Motoren des Maschinenraums zum Führerstand. Da sitzt schon Urs an der Kurbel. Er ist blond, hat bergseeblaue Augen und wohnt in der Gegend hinter Chur. „Im Heidiland“, sagt er und lacht. Als wir losrollen, wird klar, warum Bahnfans auch diese Strecke durch das Albulatal so sehr verehren. Auf den 63 Kilometern bis Thusis winden sich die Gleise über 55 turmhohe Brücken und durch 39 Tunnels. Siebenmal wechseln wir auf Viadukten die Talseite und fahren durch vier Kehrtunnels, in denen sich der Zug fast in den Schwanz beißt.

Der längste Durchbruch misst sechs Kilometer. Sofort nach der Einfahrt wird es stockfinster. Nur die viperngrünen Armaturen sind zu sehen und mysteriös aufglimmende Gleise. Was ist eigentlich, wenn man hier stecken bleibt? „Im Tunnel gibt’s keinen Funk“, sagt Urs. „Aber es hat Steckdosen für Telefonkabel. Da muss man dann mit der Trommel hin und hoffen, dass sie funktionieren.“ Mich befällt ein klaustrophobes Geisterbahngefühl. Es verschwindet, als uns der Fels wieder freigibt und die ersten Burgen des Domleschg in den Blick rücken. Als Zugabe blitzt später noch der pubertierende Rhein zwischen Tannen auf. Pfefferminzgrün und schäumend rempelt er sich durch sein Bett.

In Chur ist alles so abrupt vorbei, als ende eine Karussellfahrt. Ich steige aus und tätschele die rote Lok. Gegenüber wartet schon mein Schnellzug nach Zürich. In den steigen Menschen ein, die nur von A nach B wollen. Als ich aus dem Fenster des Großraumwagens schaue, zerfällt die Landschaft wie im Licht eines Stroboskops. Ich suche nach meiner Zeitung und denke an Hermann Hesse. Das Gefühl von Leichtigkeit sei das Ziel aller Fahrten, hat der geschrieben. An diesem Wochenende habe ich es gespürt. Im Bernina-Express mit Fadri, Giorgio und Urs.