Nach uns die Ebbe
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Nach uns die Ebbe

DIE ZEIT, Nr. 11/2009

Nach uns die Ebbe

 

In der indischen Wüste Thar prallen Gegensätze aufeinander. Die Luxushotels lassen künstliche Wasserfälle rauschen. Vor den Toren ist jeder Tropfen kostbar

Es könnten die Hände einer Tempeltänzerin sein. Sie sind lang und schmal und bewegen sich gravitätisch. Doch plötzlich schnellt die rechte vor und packt zu. Erschrocken sieht man hin. Am Nebentisch des Luxushotels in der Wüste von Rajasthan sitzt eine indische Mutter beim Abendessen. Sie klemmt das Kinn ihres Sohns in einen Schraubstock aus Daumen und Zeigefinger. Mit der anderen Hand gießt sie aus einer Flasche einen Strahl Wasser in seinen Mund. Die Augen des Neunjährigen blicken feierlich, der kleine Kehlkopf hüpft tapfer auf und nieder. Einmal ruckt der Junge ein wenig, und Tropfen perlen über seine Wangen. Sofort stellt seine Mutter die Flasche zurück und fixiert ihn mit theatralischer Strenge. Dann schaut sie mit sanften Rehaugen herüber und erklärt den Sinn des Rituals. Ihr Sohn soll die Achtung vor dem Wasser lernen. „Denn Wasser, das müssen Sie verstehen, ist hier für niemanden eine Selbstverständlichkeit.“

Das ahnte man schon während der Anreise ins Oasenhotel Mool Sagar. Der einstige Sommersitz des Maharadschas von Jaisalmer liegt kurz vor der pakistanischen Grenze inmitten der Wüste Thar. Aschgraues Dornengestrüpp dörrt im Sonnenglast, Geröllfelder verlieren sich am Horizont, vereinzelt ragen Sanddünen empor. Das alles ist so trocken, dass man schon beim Anblick husten muss. Doch für eine Wüste birst die Thar geradezu vor Leben. Man sieht Kühe, Ziegen und Pfauen herumstromern. Männer reiten auf Kamelen, und Frauen in phosphoreszierenden Saris schreiten scheinbar ziel- und zeitlos ins flimmernde Nichts. Insgesamt trotzen vier Millionen Menschen der Ödnis ihr Leben ab. Die Thar ist so groß wie Rumänien und gilt als die am dichtesten besiedelte Wüste der Erde.

Die späte Ankunft in Mool Sagar ist wie der Beginn eines wunderlichen Films. Ein Nachtwächter mit eisgrauem Nietzsche-Schnauzer, Militärmantel und Barett reißt die Wagentür auf und salutiert. Nachdem er das Tor zur Oase geöffnet hat, begreift man, dass er auch ein Schleusenwärter ist. Er trennt das Karge vom Üppigen. Hinter ihm regiert nicht mehr der Staub, sondern lebenstrunkener Schöpfergeist. Überall quellen Blumen über akkurat abgezirkelte Beete, und Orchideen präsentieren sich im Strahlerlicht wie Karnevalsköniginnen. Unwillkürlich bleibt man stehen und staunt sich satt. Vor allem die elfenhaft entrückte Sandsteinarchitektur aus dem späten 18. Jahrhundert macht sprachlos. Jeder Pavillon, jede Brüstung und jeder Tempel des Ensembles wurden so lange gefeilt, durchbrochen und geschliffen, bis spinnwebenfeine Muster übrig blieben. Die Bauten wirken wie ein Geisterwerk, das beim leisesten Hauch davonfliegen will.

Beim Dinner kommen sie einem beinahe unheimlich vor. Dann sitzt man hier ziemlich allein. Die Terrorattacken von Mumbai im November haben dem Tourismus geschadet. Außer der indischen Familie sind gerade nur zwei Engländerinnen im Restaurant. Ranu scheint das in einen Fürsorge-Rausch zu versetzen. Die Pluderhose des kleinen Kellners weht und wallt, und seine spitzen Pantoffeln klatschen so eilfertig beim Gehen, dass man meint, sie riefen unentwegt: „Ich komme schon, ich komme schon.“ Ranu schiebt Stühle unter, drapiert Servietten auf dem Schoß, erspürt jedes Bedürfnis. Auf einmal aber hält er inne und macht ein wachsames Gesicht. In diesem Moment setzt ein gewaltiges Rauschen ein. Ein Gewitter, denkt man, ein Gewitter in der Wüste! Doch das ist es nicht. Es ist ein Wasserfall, der sich plötzlich über eine Mauer ergießt und den man indischer kaum inszenieren könnte. In die Wand sind kleine Nischen gemeißelt, in denen Dutzende von Kerzen flackern. Durch sie schillert die glasig geblähte Kaskade rot, orange und blau wie ein exotischer Käferflügel. Früher habe der Herrscher von Jaisalmer das Wasser sogar parfümieren lassen, erzählt Ranu. Er strahlt.

Am Boden des Brunnens funkelt es wie aus einer Sakristei

In der Nacht regiert unter dem Sternengeblitz von Mool Sagar eine Kälte, die direkt aus dem All herabzusinken scheint. Der Gast ruht nicht hinter Mauern, sondern in einem von 18 luxuriösen Zelten. Tags darauf erwacht er unter den blau und cremefarben gestreiften Stoffgiebeln wie ein Gauklerkönig. Dann erscheint Ranu in seiner Märchenkluft mit Kaffee, und der Kopf ist frisch von der sauerstoffsatten Wüstenluft. Wer im schüchternen Silberrosa der Morgendämmerung aus dem Fenster blickt, sieht die Angestellten vor einem der Tempel beten.

Und doch glaubt man das Allerheiligste von Mool Sagar in etwas anderem zu erkennen. Es ist der Stufenbrunnen neben dem Swimmingpool. Schritt für Schritt führt er hinunter in eine kühle Finsternis. Öllampen längs der Mauern verbreiten einen funzeligen Glanz, und ganz unten ruht schwarz funkelnd das Grundwasserbecken wie eine Sakristei. Es gibt dort ein kleines Podest, auf das sich der Maharadscha von Jaisalmer zum Tee flüchtete, wenn in der Sommerhitze die Temperaturen auf 50 Grad stiegen. Aus dem Stufenbrunnen holte man vor 200 Jahren das Wasser und ließ es über Kanäle durch das Anwesen laufen. Heute besorgt das eine elektrische Pumpe neben dem Resort. „Es ist das beste Süßwasser der ganzen Gegend“, sagt Ranu und legt Daumen und Zeigefinger zusammen wie ein Sommelier, der gerade einen Wein empfiehlt.

Der Spiritus Rector von Mool Sagar heißt Gaj Singh II und ist der Maharadscha von Jodhpur. Auf dem Weg zu ihm geht es sechs Stunden lang durch eine tellerflache Landschaft, die jedes poetische Gefühl im Keim erstickt. Dann ragt Sardar Samand aus der Ebene. Die Art-déco-Trutzburg ist einer von etlichen Palästen des Königs. Hier empfängt er am Wochenende Gäste zum Lunch. Essen, so hört man, soll eine seiner Leidenschaften sein. Im Speisezimmer glotzen Gazellenköpfe von den Wänden, und tote Tiger posieren in Glaskästen wie in einem zoologischen Institut. Als Seine Hoheit auftritt, steht man einem pummeligen Mann gegenüber. Er schaut so melancholisch drein, dass man sich fast Sorgen macht. Doch der traumverlorene Blick täuscht. Der einflussreichste aller 22 Maharadschas von Rajasthan ist ein hellwacher Geschäftsmann. Er stopft sich eine Serviette in den Hemdkragen und erzählt davon, wie er als erster König seine Besitztümer in Hotels verwandelte. Wie ihm andere Rajputen folgten und wie sie sich so gegen den Niedergang wehrten, den ihnen die indische Unabhängigkeit 1947 bescherte. Damals schaffte der Staat erst ihre Ämter ab und strich gut zwei Jahrzehnte später die Apanagen. Heute ist die ganze Wüste Thar von einem Netz sogenannter Heritage Hotels überzogen.

Vor drei Jahren pachtete Gaj Singh die Sommerfrische Mool Sagar vom Maharadscha von Jaisalmer, renovierte sie und stellte die Zelte dazu. „Ein Camp mit Palast – ist das nicht wunderbar? Das wird ein Trend, ganz sicher“, sagt er kauend und schwärmt vom Wasserrecyclingsystem, das er im Resort habe installieren lassen. „In Rajasthan fallen manchmal nicht mehr als 50 Millimeter Regen im Jahr. Da liegt auf der Hand, woran Sie erkennen können, ob jemand klug ist. Natürlich an seinem Umgang mit Wasser!“

Daraus lässt sich schließen, was der Maharadscha von der Intelligenz indischer Behörden hält. Er sagt, das Land verbrauche mehr Wasser, als die Natur ersetzen könne. „In ein, zwei Generationen wird sich der Bedarf Indiens verdoppelt haben und unsere Bestände um ein Drittel übersteigen. Und da diskutieren die Leute über Flüge zum Mond!“ Dann lehnt sich der Maharadscha zurück, lässt mit düsterer Miene seinen Dessertwein im Glas kreisen und schweigt. Sein Privatsekretär wird deutlicher. „Ach, wissen Sie“, sagt er auf der Freitreppe, über die er den Gast zum Tor geleitet, „eigentlich ist das doch alles Kommunismus heute.“

Was er damit meint, lässt sich in Jaisalmer besichtigen. Die Karawanenstadt aus dem 12. Jahrhundert ist eine Art indisches Rothenburg ob der Tauber und lebt größtenteils vom Tourismus. In ihrer Mitte thront ein riesiges Fort wie aus dem Fiebertraum eines Bollywood-Regisseurs. 4000 Menschen leben in seinem Gassengewirr, das im Aprikosenlicht des verlöschenden Tages so ergreifend schön ist, dass man seufzen muss. Nachts dagegen meint man, auf einem Planeten der Kühe gelandet zu sein. Überall blockieren dann Legionen Abfall malmender und defäkierender Rinder das Labyrinth. Die Tiere mit der regen Verdauung sind Teil des Problems. Wer die Festung unter die Lupe nimmt, stellt fest, dass sie nicht nur aussieht wie eine gigantische Sandburg, sondern auch so zerbröselt. Fast die Hälfte des Fundaments schimmert dunkelfeucht vor Abwässern von Mensch und Tier.

Das Fort gehört zum Erbe des Maharadschas von Jaisalmer. Der Privatier mit dem Lausbubengesicht gilt als der Hallodri unter den Herrscherepigonen. Jeder in der Stadt erzählt, dass er sich mehr für Whisky interessiere als für die Hinterlassenschaft seiner Vorfahren. Doch die Schuld am Zustand der Festung geben die Einwohner unfähigen Beamten, die ein Drainagesystem mit viel zu kleinen und schlechten Rohren eingebaut hätten.

„Ach was“, winkt Narayan Das ab. „Die Bewohner werfen Müll in die Leitungen, das ist der Grund.“ Der Wasserbeauftragte der Provinzregierung steckt in einem zu engen Pullunder und hat eine strichschmale Nase, die sein Gesicht in zwei Hälften teilt. Zur Begrüßung überreicht er eine Broschüre mit Wasserspartipps. Dann schiebt er sich auf die Rückbank eines behördenweißen Ambassador und gibt dem Fahrer das Zeichen zur Abfahrt.

Sicher sei die Nässe im Fort ein Problem, gibt Das zu. Aber viel mehr bekümmere ihn die Lage auf dem Land. Rajasthan lebe fast ausschließlich von seinem Grundwasser und plündere die Bestände mit immer mehr und immer stärkeren Pumpen. „Am schlimmsten sind die Rapsfelder“, sagt er und zeigt auf ein sattes Grün, das in der knochenbleichen Ebene aufleuchtet. „Dort bohrt man bis zu 500 Meter tief. Das heißt, man beutet Reservoirs aus, die sich gebildet haben, als hier noch Dinosaurier grasten. Kein Gesetz regelt das. In 15 Jahren werden Sie im westlichen Rajasthan überhaupt kein Grundwasser mehr finden.“

Neben der Straße balancieren Frauen Wasserkrüge auf ihren Köpfen. Sie bewegen sich im zuversichtlich langsamen Rhythmus von Schlafwandlern. Eine davon ist Gayatri, die gerade in ihr Lehmhüttendorf zurückkehrt. Sie wuchtet den bauchigen Krug zu Boden und zieht sich ihren Sari über das Gesicht, bis nur noch der kronkorkengroße Nasenring hervorlugt. Sie sagt, sie sei 30 Jahre alt. Man mag es ihr kaum glauben. Die Märsche haben sie so gezeichnet, dass sie auch für 45 durchginge. Täglich läuft Gayatri zwölf Kilometer, um Trinkwasser aus dem Stufenbrunnen eines ausgetrockneten Stauteichs für ihre Familie zu holen. Mit einem Tonkrug, der gefüllt so schwer ist wie ein Bierkasten. Erst jetzt begreift man, woher die elegante Sparsamkeit von Gayatris Bewegungen rührt.

Ihr Krug stammt aus einer Töpferei, in der sich die medizinballgroßen Behälter zu Pyramiden stapeln. Sie sind glatt wie Porzellan und von einer unmittelbaren Schönheit. Keine 20 Cent kostet einer der Krüge. Ein Mann kauert vor einer Drehscheibe und lässt gerade das nächste Exemplar aus seinen Händen wachsen. Er klagt über das Geschäft. Man finde einfach nicht mehr genügend Lehm, weil die Teiche jedes Jahr stärker austrockneten. Vielleicht müsse die Töpferei demnächst schließen. Sie existiert seit 300 Jahren.

Es sieht so aus, als werde es ernst in der Wüste. Doch wie soll es weitergehen? Das Gesicht von Narayan Das nimmt einen komplizierten Ausdruck an. Er überlegt lange. „In den vergangenen 60 Jahren hat sich die Bevölkerungszahl Rajasthans vervierfacht“, sagt er schließlich. „Gleichzeitig versalzen immer mehr Brunnen, und der Regen fällt immer spärlicher. Das heißt, dass wir den Regen viel besser nutzen müssen. Und zwar mit Methoden, die heute bei den meisten vergessen sind.“ Dann tippt er dem Fahrer auf die Schulter und lässt abbiegen.

Kurz darauf hält der Wagen in Bada Bagh. Das bedeutet „großer Garten“ und ist eine Oase aus dem 16. Jahrhundert. Hier schöpft man Wasser bis heute mit Ochsen und Ledersäcken aus Schächten am Fuß eines Damms. Es plätschert über schmale, aus Schlamm geformte Rinnen zu Feldern, die aus lauter rechteckigen, von Lehmwülsten umhegten Parzellen bestehen. Dazwischen hocken Männer in rosa Dhotis wie Kinder auf einem Matschspielplatz. Sie sind so dürr, dass man mehrmals verstohlen hinsieht, um es dann doch nicht glauben zu können. Wieder und wieder durchbrechen und schließen sie von Hand die Wälle und dosieren so die Bewässerung von Rettich, Chili und Kardamom. „Sie wollen wissen, was unsere Zukunft ist?“, fragt Narayan Das und lässt seinen Blick über die Oase schweifen. Sie liegt da wie das Mittelalter. „Das ist sie“, sagt er nach einer Weile. „Das ist unsere Zukunft.“